Sie sagen dir nur, was es für eine Welt ist!

„Worüber haben Sie denn gesprochen?" Die Stimme von Dr. Hansen reißt mich aus meinen Erinnerungen.

„Über...", meine Mutter traut sich nicht die Worte auszusprechen und streicht sich nervös ihre unordentlichen Strähnen aus dem Gesicht.

„Über die Beerdigung von Lotte." Dad war da etwas mutiger, was ich noch nie verstanden habe.

„Und sie hat das wahrscheinlich mitbekommen?"

„Ja."

Wie ein Pfeil schieße ich nach oben und bereue es sofort. Meine Eltern und Dr. Hansen starren mich an und ich frage mich, was ich mir dabei gedacht habe, aufstehen zu wollen. Sie stehen vor mir und schauen mich abwartend an. Ich starre zurück. Die Augen von Dr. Hansen durchbohren mich förmlich und ich habe schon fast das Gefühl, sie würden mich auffressen wollen.

Unsicher, was ich als nächstes tun soll, lasse ich mich wieder in meine Kissen fallen und fange an, die Decke still um Rat zu fragen.

„Rebecca?", fängt Dr. Hansen an. Ich bewege mich nicht. Warum auch?

„Rebecca, ich würde gerne wissen, was genau passiert ist." Will er das? Ich drehe den Kopf in seine Richtung und schaue in seine Augen, nur um den Blick sofort wieder abzuwenden, weil es mir zu gruselig aussieht. Die Antwort ist einfach: Ich hatte wieder den Unfall vor Augen, nur dass diesmal die Schuldgefühle schwerer gewesen waren als sonst. Ich hatte es nicht unter Kontrolle, ich habe es nie unter Kontrolle.

Mein Herz zerbricht immer mehr, es zerbricht mit ihrem, bis alles zu Staub zerfällt, den ich dann in ein tiefes Erdloch verschwinden lassen soll. Ich werde ihr Herz nicht begraben, weil ich meines dann auch begrabe.

„Schatz, du musst mit uns reden." Die leichte Stimme meiner Mutter richtet meinen Blick auf ihr trauriges Gesicht. Ich schaue in ihre Augen, in ihre himmelblauen großen Augen, die mir in Lottes kleinem Gesicht immer etwas zu groß vorgekommen waren.

Lottes Augen zerbrechen, sie erblindet und ich erblinde mit ihr. Ich sehe nichts mehr, wenn ich meine Augen öffne, es macht keinen Unterschied mehr, ob ich sie zulasse oder öffne. Ich sehe nichts mehr. Ich sehe Lotte und höre die Stimmen meiner Eltern, die verzweifelt auf mich einreden.

„Möchtest du darüber reden?" Unser Hausarzt stellt mir diese eine Frage, die so schwer zu beantworten ist. Ich würde darüber reden, wenn ich wissen würde, wie. Wenn ich wissen würde, wie man redet und erzählt, aber ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mehr, wie man ganze Sätze bildet, weil ich es eine Woche lang nicht getan habe. Ich weiß nicht mehr, wie man die deutsche Grammatik anwendet, weil ich es in einer Woche verlernt habe. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, weil sie es an meiner Stelle getan hat. Ich weiß gar nichts mehr!

„Okay, ich komm einfach morgen nochmal wieder." Er packt seine Sachen zusammen und verlässt das Zimmer. Meine Eltern begleiten ihn.

Ich wünschte, sie würden mich einfach alle in Ruhe lassen. Ich wünschte, sie würde mich in Ruhe lassen, dann wäre mir das ganze erspart geblieben und Dr. Hansen hätte sich nicht die Mühe machen müssen, hierher zu fahren. Solche Anfälle passieren mir seit drei Tagen immer wieder, egal zu welcher Tageszeit. Und jetzt gerade an einem Zeitpunkt, wo meine Eltern es mitbekommen und sie natürlich sofort den Arzt rufen mussten. Typisch!

Ich sehe die Flammen, die schon längst über ihrem toten Körper entflammt waren. Ich schaue ein letztes Mal in ihr Gesicht, in ihre geschlossenen Augen, sehe eine Träne ihr Gesicht hinunterkullern. Sehe ein Lächeln auf ihren Lippen und ein letztes Mal ihre Haare wehen. Dann zerfällt die Träne zu Staub und ihr Körper löst sich auf. Wird zu Staub, zu Sternenstaub, der sich langsam in den Himmel hinaufbewegt, wieder sinkt, sich ein Loch in die Erde gräbt und dann darin verschwindet. Mein Herz blutet, es blutet in das Erdloch hinein. Ich kann es förmlich spüren. Die Flamme umschließt das Loch, umschließt mein Herz, umschließt ihr Herz und bricht es entzwei. Ihre Seele fällt, ihr Herz fällt, doch ich kann nicht mit ihr fallen, weil ich schon viel tiefer liege als sie.