5| Wenn sich die Geschichte wiederholt (Beginn der Lesenacht)

10. Juni X740

Ich weiß nicht, ob jemand anderes als ich diesen Brief jemals in Händen halten wird.
Ich weiß auch nicht genau, wofür ich ihn überhaupt schreibe, schließlich war ich noch nie außerordentlich gut im Umgang mit Worten; aber vielleicht hilft es mir bei der Verarbeitung der Ereignisse.
Vielleicht werde ich dadurch später nicht in Nostalgie schwelgen und Taten bereuen, die ich mit gerade mal fünfzehn Jahren begangen habe. Trotzdem ist es seltsam einen Brief... an niemanden zu schreiben - an mich selbst.

Alles was ich gepackt habe, halte ich in der Hand. Es ist nicht sonderlich viel im Vergleich dazu, was ich damals besessen hatte.
Als Abreisedatum habe ich mir schon vor einem Jahr einen der Sommermonate ausgesucht. In Astrela ist es das ganze Jahr über recht heiß, jetzt sogar mehr den je, trotzdem glaube ich, dass mir die Reise jetzt leichter fallen wird, als während der Regenzeit.

10. September X742

Er wusste nicht was er fühlen sollte.
Im ersten Moment überrollte ihn eine Welle der Freude, als er seine Großeltern in ihrer typischen Tagesroutine vor sich sah. Fast schon zu realistisch wirkten diese Tagträumereien, bis er wieder zurück in die Realität gezerrt wurde. Eine Realität, die ihre kalten Klauen um ihn schloss, Mauern hochzog, über die er in seinem jetzigen Zustand nicht hinweg kam.

Worte, mit ihnen vermochte man vieles zu beschreiben. Sie halfen dabei sich auszudrücken, wenn man jemandem eine Freude bereiten wollte. Sie halfen in einer hitzigen Diskussion die Oberhand zu gewinnen, genauso wie sie jemandem Trost spenden konnten.
Wieso also gab es kein Wort, das das Chaos in seinem Inneren zu beschreiben vermochte?

Er konnte nur sagen, dass es etwas zwischen ertrinken und fliegen war - Gegensätze, die gemeinsam auftraten und ihn ahnungslos wie nie zuvor zurückließen.

Heiße Tränen benetzten seine Haut. Egal wie verzweifelt er an seinen Tagträumereien festzuhalten versuchte, seine Tränen logen nicht.

12. Juni X740
Ich glaube, ich fange an mich an das Schreiben zu gewöhnen. Zu Anfang war der Schreibprozess ziemlich chaotisch, inzwischen fällt es mir immer leichter meine Gedanken aufs Papier zu bringen.

Mir kam der Gedanke, dass ich mir einen imaginären Brieffreund suche. Wie klingt das? Wahrscheinlich zu verrückt, um es nachvollziehen zu können, aber... ich mag den Gedanken irgendwie, dass ich mich jemandem anvertrauen kann.
Okay, der Moment der Wahrheit ist gekommen... wie nenne ich dich denn?
Ich weiß nicht genau wieso, aber der Name Silas ist das erste was mir in den Sinn kommt. Wahrscheinlich bin ich gerade nur ziemlich einfallslos, aber irgendwie ist der Name zufriedenstellend. Keine Ahnung, mir gefällt er irgendwie. Ab heute schreibe ich also dir, Silas. Sei glücklich darüber!
Okay nein, das klang zu abgehoben. Tut mir leid, für den schlechten Start.
Wieso haben wir in der Schule nichts wichtiges über die Kommunikation gelernt?!
Verdammter Mist aber auch.

10. September X742
Die Tür wurde aufgerissen. Lautes Getrampel hallte im Raum wieder. Ein schnappendes einatmen und dann war es nur noch ein nervöses Lachen.
„Ich wusste es. Ich wusste, dass man dir nicht trauen kann, Bengel!"

Müde wandte sich Auron der Stimme zu. Die hohe Stirn mit den fettigen kurzen Haarbüscheln.
Er kannte den Mann vor sich nur vom sehen, er war ihm Charakterlich unbekannt, auch wenn er nicht gerade den freundlichsten Eindruck machte. Auch wusste er, dass er viel Klatsch und Tratsch erzählte und einer seiner Nachbarn war.

„Was war da in deinem Kopf, als du sie umgebracht hast? Huh? Sag es mir!"

»Nein, ich habe sie nicht umgebracht... da ist nichts in meinem Kopf.«

„Hat es dir Spaß gemacht? Hörst du schon deinen Vater von dort oben lachen? Kannst du dir seinen stolzen Blick vorstellen, dass du es endlich getan hast?!"

Auron's Mund öffnete und schloss sich wieder. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Gerne hätte er sich verteidigt, die Anschuldigungen und verletzenden Worte von sich gewiesen und seine Sicht der Dinge dargelegt, sodass der wahre Mörder zur Rechenschaft gezogen werden konnte, doch seine Zunge wirkte wie einzementiert. Sein Mund war trocken und kein Wort verließ seine Lippen.

„Aber was würden sie bloß von dir denken? Endlich! Endlich habe ich eine Geschichte! Ich sollte dir danken, Auron Sonir! Oder möchtest du mich jetzt auch noch abmurksen."

Mit jeder verpassten Chance, in der Auron etwas hätte sagen oder sich bewegen können, steigerte sich das Vertrauen des Mannes in sich selbst.
Doch während die Arroganz des Mannes ganz andere Dimensionen annahm, fühlte Auron sich unterlegen - hilflos und klein. Vollständig ausgeliefert.
Er wusste genau, dass er jede Chance vertan hatte. Man würde ihm nichts mehr glauben. Sie wollten einen Schuldigen und er würde diese schuldige Person sein.

„Renn bloß nicht weg... oder nein warte, renn, Auron! Das wird das ganze noch interessanter machen, Renn!"
Der alte wirbelte herum - verließ die Wohnung, um seine Geschichte schnellstmöglich weiter erzählen zu können.

Auron starrte fassungslos auf die offene Tür. Er hatte sich seine erste richtige Begegnung mit seinem Nachbarn definitiv anders vorgestellt. Denn das hier, war der schlechteste Start, den sie hätten haben können.

20. Juni X740
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dir für heute mitteilen soll. Es ist nicht wirklich etwas interessantes passiert. Überall wo ich hinsehe sind nur Bäume und noch mehr Bäume. Klar könnte ich dir jetzt davon erzählen, wie schön der Gesang der Vögel ist oder was ich gerade rieche, aber ich glaube, ich erzähle dir lieber von einer Feststellung die ich vorhin für mich selbst getroffen habe.

Ist die Zeit selbst überhaupt etwas... reales? Ich meine versteh mich nicht falsch, natürlich weiß ich, dass wir uns nach der Zeit richten, wenn es darum geht Termine einzuhalten oder unseren Schlafrythmus zu finden.
Aber jeder hat eine andere Vorstellung von Zeit. Wenn meine eigene Wahrnehmung von Zeit und Raum nur in meinem eigenen Kopf existiert, dann macht mich das doch einzigartig. Ich meine, somit würde ich mich doch in meinem Denken von anderen abheben, oder was meinst du?

10y September X742
Häuser und noch mehr Häuser.
Egal wie sehr er sich bemühte seine Umgebung wahrzunehmen, er schaffte es einfach nicht die Details auszumachen. Er war blind. Seine Sinne getrübt.
Wie sehr vermisste er doch den Gesang eines Vogels oder das sanfte brechen der Wellen.

Ihm blieb kaum Zeit seine Gedanken zu ordnen. Er rannte mechanisch. Es war zur Gewohnheit geworden, vielleicht der Grund dafür, dass sich sein Körper von selbst in Bewegung setzte, als er den Ernst der Lage verstanden hatte.

Er hatte keinerlei Zeitgefühl. Alles war so schnell gegangen. Er wollte es immer noch nicht wahrhaben. Auf einen Schlag war alles weg, was ihm etwas bedeutet hatte.
Wann würde dieser Albtraum enden?!


30. Juni X740
Ich bin dir endlich begegnet! Ich bin dir wirklich begegnet. Du lebst, bist real und nicht mehr nur ein Wesen, das meiner Fantasie entsprungen ist.
Ich hatte zwar nicht erwartet, dass du ein Teran bist, aber es ist mir egal. Du wirst mich nicht fressen, das weiß ich und genau deshalb, werde ich dich diesem Mann abkaufen. Dann können wir auch so Freunde werden.

05. Juli X740
Du hast versucht mich zu verletzten, aber keine Sorge, ich bin dir nicht böse. Du standest unter Druck. Alle Blicke waren auf dich gerichtet. Ihr Hass galt nur dir allein.
Ich verstehe, dass du irgendetwas machen wolltest, um dem ganzen entkommen zu können.
Es ist alles in Ordnung, Thanda. So heißt du doch wirklich, nicht wahr?

10. September X742

Auron spürte die Blicke seiner Nachbarn als er an ihnen vorbei rannte. Er hörte das Getuschel. Noch wussten sie nichts von den Ereignissen, aber es würde nicht mehr lange dauern und sie wären auf sein Leben aus.

Weitere Tränen verließen seine Augen.
»Sie sind tot...«

10. Juli  X740
Ich mag es nicht, wie sie dich ansehen. Du schrumpfst dann immer so zusammen, ziehst die Schultern hoch, um ja nicht aufzufallen. Ich glaube, du wärst am liebsten unsichtbar.
Was kann ich tun, damit du dich besser fühlst?

10. September X742
Die Schatten der engen Gassen versteckten seine Anwesenheit. Er kannte die Gegend, war hier schon oft genug vor seinem Umfeld geflohen.
Doch wieso spitzte sich die Lage so schnell immer weiter zu?
Die Nachricht hatte sich schneller verbreitet als er gedacht hätte. Jeder hielt ihn für einen Mörder. Sie wollten ihn für die Gerechtigkeit zu Rechenschaft ziehen.
Auron fragte sich nun, für welche Gerechtigkeit? Wer bestimmte dieses Maß, mit denen sie das Leben einer Person in ihre Hände nahmen und abwogen?

20. Juli X740
Wieso tut er mir das an? Eine Hetze gegen den eigenen Sohn. Ich bin kein Landesverräter!
Wenigstens glaubst du mir. Ich hoffe, dass du auch später noch zu mir halten wirst, wenn wir einem der Leute begegnen, die mir nun nach dem Leben trachten werden.
Aber bitte... pass auch auf dich auf.

10. September X742
Zu wem sollte er gehen?
Er wusste nicht wohin. Sein ganzes Leben war zerstört worden. Er hatte nichts mehr, an dem er festhalten konnte. Niemandem mit dem er sprechen und dem er sich anvertrauen konnte.
Das Gefühl der Einsamkeit überrollte ihn, zog ihn in die Tiefen eines Gewässers, dessen Ende niemals in Sicht kommen würde. Es würde eine endlose Fahrt werden. Trostlos und ohne jemanden, den er auf seiner Seite wusste.

„Das ist die Hölle..."

25. März X740
Das muss die Hölle sein...
Diese Menschen machen mich krank. Ihre Sicht auf die Welt.
Aber mein Vater ist der schlimmste von ihnen. Gefühle sollen der Ursprung alles schlechten sein? Dass ich nicht lache.
Ich danke dir, dass du dir immer meine Sorgen anhörst und ich wünschte, ich könnte mich auch deinem realen Ich anvertrauen, wie ich es hier in meinen Briefen tue...

-Macbeth Bahamut



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