Prolog

Muskau, Wintermanot 1380

Zeitgleich mit dem Abendläuten der Kirche ertönten bei schwarzem Himmel die Businen von den hohen Mauern der Muskauer Veste. Es gab zahlreiche Gründe, weswegen etwas Derartiges geschah, doch erfreulich war zur heutigen Nacht keiner von ihnen.
Als das erste Mal die langen Trompeten getönt hatten, war ein Jubelruf von der Burg zu hören gewesen: »Ein Sohn von Penzig und Kittlitz ward geboren worden!« - es war ein unehelicher Bastard.
Noch dazu interessierte es niemanden im ganzen Muskauer Gebiet - die Herren von Penzig hatten hier keinen Einfluss, noch nicht. Ihnen gehörte lediglich die Veste, die sich vorher als Lehen im Besitz von Kittlitz befunden hatte.
Das zweite Mal teilte man den Aufmarsch der Reiter mit.

Der von Wolken verdeckte, abnehmende Mond ließ sein kaltes Licht nur matt auf die Erde scheinen. Die Wurzeln unter den Füßen des Mündels schienen nicht enden zu wollen und je tiefer es in den Wald rannte, desto größer wurden sie, ein falscher Tritt und es würde sich aus dem Stolpern nicht mehr befreien können.
Noch dazu bestand keine Chance, dass sie sich auffangen könnte - mit ihrer einen Hand hielt sie die eng zugeknöpfte, untenrum blutbefleckte Cotte, den Mi-Parti geteilten Surcot und die fellgefütterte Suckenie hoch, mit der anderen drückte sie ein Bündel Leinen an ihre Brust.
Die Bäume glitten an dem Mädchen vorbei.

Ihre Augen brannten. Wie lang war es her, dass sie den letzten klaren Gedanken fassen konnte? Es musste vor der Geburt des Balgs gewesen sein. Die Sicht verschwamm ihr mit jedem Augenaufschlag aufs Neue, bald schon ließ sich Wurzel nicht mehr von Gestrüpp, und Gestrüpp nicht mehr von Baumstamm unterscheiden. Zugleich ward die Sohle des ersten Wendeschuhs zerrissen.
In der Ferne rauschte die Neiße und gefährlich nah bei ihr heulte ein Wolf, doch sie hatte andere Probleme. Das Balg in ihrem Arm schrie. Warum musste es schreien? Sie verfluchte ihren Sohn, er würde ihnen noch den Tod bringen. Er war noch nicht einmal gewaschen worden; Die Haare waren ihm noch nass, das Kind selbst lag gebettet in seiner milchigen Flüssigkeit. Das krüppelhafte Bein schlug mehrmals aus.
Mit feuchten Augen säuselte sie ihm immer wieder ein Schlaflied ein, bis sie selbst die Wörter nicht mehr verstand, doch es wollte sich nicht zähmen lassen. Hufgetrappel über dem feuchten Waldboden. War es vor ihr, neben ihr, hinter ihr?

Das Teufelskind sollte endlich Ruhe geben, zur Hölle damit. Ward sein Antlitz nicht Schande genug?
Siebzehn Jahre ihres Lebens waren nicht ausreichend gewesen, um sie darauf vorzubereiten. Dankbar sollte es sein, dass die liebe Mutter alles auf sich nahm, es nicht in die Hände von Mördern zu legen.
Dankbar sollte es sein, dankbar!
Dass es noch die Krokusse sehen würde, wie sie aus dem Frühlingsboden sprießen, sollte der Winter das Kind nicht mit sich nehmen. Und sei's drum, der Morgen würde genügen, dann hätte wenigstens die Sonne seinen unförmigen Schädel beschienen, bevor der Tod die quengelnde Last von ihr nahm. Natürlich. Nicht durchs Beil, nicht durch die Faust. Alleinig durch Gottes Hand.
Die Kälte machte ihre Finger taub, bald vermochte sie das weiche, doch blutgetränkte Leinentuch nicht mehr zu fühlen. Trotz, dass sie ihren Atem sah, fror sie obenrum nicht sonderlich. Was fühlte sie noch, was nicht mehr? Es schien, als würde der Schmerz sich mit jedem Augenaufschlag auf eine andere Stelle ihres Körpers legen und die letzte betäuben. Ihre Stirn glühte.

Und das Balg, das Balg schrie weiter. Bitterlich liefen ihr die salzigen Tränen purer Verzweiflung über die Wangen, sie tropften auf den scharlachroten Kopf des Neugeborenen.
Die Dornen alter Brombeersträucher rissen sich in die senfgelben Wollstrümpfe.

Weit hinter ihr hörte sie das Pferdeschnauben, schon bald ließen sich erste Fackeln durch die moosbetupften Bäume erkennen. Mit ihrer Wärme setzten sie harte Kontraste in das leuchtende Tiefblau des Waldes. Immer fester drückte sie das kalte Kind an sich.
Sie war seine Mutter, mag es denn in ihrer Nähe keine Ruhe geben? Wusste es seine Geborgenheit nicht zu schätzen?
Gott, sie hätte das alles nicht tun dürfen. Sie hätten ihr Kind nehmen und totschlagen lassen können und zum nächsten Winter gäbe es ein neues.
Ein eheliches, kein schwarzhaariges. Niemand bei Penzig oder Kittlitz hatte schwarzes Haar, niemand. Niemand, abgesehen vom Edelknecht, der unter denen von Kittlitz lebte - einer derer von Gersdorff, in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, mit tiefschwarzen Haaren, die keinen Rest von Braun zuließen und den kühnsten Augen, die das Mädchen je betrachten durfte...
Das Gerücht hätte sich schnell rumgesprochen. Nein, das neue Kind würde ein starker Erbe von Kittlitz sein, hätte die Sonne gesehen und vielleicht den Winter überlebt und mit aller Hoffnung wäre es zu einem hübschen Kind herangewachsen, aber nicht doch. Nein, nicht bei ihr. Sie musste doch unerlässlich an ihrem zweiten Balg hängen und sich nicht auch noch dieses nehmen lassen. Darauf war sie mit dem hässlichen Bündel aus der Wasserburg geflohen und gerannt und gerannt und gerannt..

Aus Hast ließ sie sich in eine Erdkuhle fallen, sie erhoffte sich Schutz und Ruhe hinter einer umgefallenen Kiefer, ihre Beine waren dem Mädchen zu schwach geworden. Nadeln verfingen sich in der ärmellosen Suckenie und ihren mittlerweile losen Zöpfen, zur tiefen Nacht hin ließ sich das tiefe Rotbraun ihrer Haare nicht erahnen. Sie waren fettig und nass und klebten ihr an der schweißbenetzten, erhitzten Stirn. Sie hatte Haube und Schleier im Geäst verloren. Ihr Kopf dröhnte und pochte, sie spürte ihr Herz im Gerippe schlagen und schlagen, verzweifelt und hörbar bis zum Halse, als würde es sich einen Weg aus ihrer Brust graben wollen.
Wo sich die Reiter befanden, konnte sie nicht sagen, in ihr sammelte sich zu viel Furcht, als dass sie einen Blick wagen würde. Das Sitzen ließ den Unterleib brennen, noch war ein jeder, der sich Besitzer zweier Augen nennen konnte, in der Lage zu sehen, dass sie vor kurzem ein Kind ausgetragen hatte. Es würde noch einige Zeit vergehen, bis sich der Bauch zurückbildete.
Sie spürte die Nachwehen kommen. Ohne die sanfte Betäubung, die der Alraunensaft mit sich brachte. Die Schmerzen glichen denen, die sie mit jedem Mond erleiden musste. Verzweifelt biss sie sich in die Faust, fast hätte sie geschrien, damit wäre sie nicht besser als das Balg gewesen.

Hatte es Hunger? Sicherlich, das musste es sein. Sie sah sich um - Es gab niemanden, der sie beobachtete.
Mit der freien Hand versuchte die junge Mutter, sich die Kleider ein Stück runter zu ziehen und beulte dabei den Stoff aus. Der Säugling wurde an die offene Brust gelegt, doch Teufelskind blieb Teufelskind, es schmerzte ihr noch zu sehr.
Sie war nicht dafür zuständig, im Normalfall hätte das Kind eine Amme gehabt, doch was war schon normal. Eine andere Lösung musste her - in der Eile und samt ihrem berauschten Gemüt wickelte sie das Kind enger ins Tuch, presste den Stoff dicht an sein Gesicht und drückte es in die faulige Erde. Es gab Ruhe. Sie zog ihre Kleider wieder über die Schultern und verharrte lange, vielleicht eine Stund.

Ein Lichtblitz zuckte an ihrer Wahrnehmung vorbei und noch während sie ihn verarbeitete, wurde sie am Kragen aus der Hocke gezogen. Sie drehte ihren Hals. Ein Rappe blies ihr warmen Atem ins Haar, wortlos starrte sie in die Nacht und getraute sich nicht, dem abgestiegenen Reiter ins Gesicht zu blicken, dessen Hand ihren Kragen derweilen noch nicht losgelassen hatte.
Die Fackel in seiner Linken warf glänzende Lichtflecken auf seinen Helm und das schwere Kettenhemd, das Mündel musste beim blendenden Licht die Augen zusammenkneifen, als ihm die Flamme ans Gesicht gehalten wurde. Sein Griff lockerte sich. Die junge Mutter drückte das stumme Kind enger an sich, die Angst füllte ihre Adern und der Boden schien ihr unter ihren Füßen wegzugleiten.
Der Mann räusperte sich. »Du kannst mich auch ansehen, wenn du schon nichts zu sagen hast.«
Seine Stimme ließ das Mündel aufblicken. Ihr fiel ein großer Stein vom Herzen, als sie in zwei dunkle, kühne Augen sah, dass sie sich zu ihm vorbeugte, um Von Gersdorff hitzig einen Kuss auf die Lippen zu drücken, doch er packte sie mit der Hand an ihrer Schulter und hielt sie zurück. Nicht hier.
Sie versuchte, es zu überdecken und lächelte. Sein Antlitz ließ sie ihre Sorgen für einen Moment vergessen, wenn auch nur kurz. »Nun sagt, was macht ein Edelknecht so tief im Walde, wenn er sich nicht gegenwärtig mit Met überschütten müsste?«, flachste sie.
»Dies gibt eine Frage zurück«, antwortete er lachend. »Wo wollen wir denn hin, wertes Burgmädchen?«
Es war Robert von Gersdorff, der als Edelknecht die Reiterschar der Burg anführte, solange die Herren von Penzig auf ihr weilten und sich Johann von Kittlitz noch wie vor acht Monaten auf seiner Wallfahrt zugunsten seines Ritterschlags befand. Da die Herren von Penzig erst seit gut zwanzig Jahren die Wasserburg erworben hatten und damit nicht weiter gekommen waren, hatten sie sich seit April für eine ewig lange Prozedur um die Herrschaft Muskaus auf jene Burg zurückgezogen, auf der das Mündel und Johann lebten, um mit den nun angeheirateten Herren von Kittlitz zu verhandeln. Die Hochzeit der Maria Konstanze von Penzig und Johann von Kittlitz vor vier Jahren hatte zu keinem Erfolg beigetragen.

»Weiß Gott, wohin mich meine Beine tragen«, dem Mündel wurden die Augen erneut gläsig. Sie wusste nicht, was sie da tat, oh bei Gott, sie wusste es nicht. Sie war berauscht aus den Burgmauern geflohen, weit weg von all denen, die ihrem Balg vermeintlichen Schaden zufügen wollten. So weit ihre Beine sie tragen konnten, war sie gerannt.
Nun war sie auf sich gestellt, in der Kälte mit einem Säugling, und wusste nicht, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Sie wusste nicht, wo sie hin konnte, sie wusste nicht, wie man sich Essen besorgte, sie wusste nicht, wer ihr helfen würde und sie wusste nicht was als nächstes kam. Geschwind drehte sie ihren fiebrigen Kopf zu allen Seiten. Im Finsternen der Nacht konnten sie überall sein.
»Nicht weinen, Maria«, versuchte er, sie zu beruhigen. Dann deutete er auf das blutbefleckte Bündel Leinen in ihren Armen. Trotz des vermeintlichen Schlafs behielt es einen geöffneten Mund, aus dem ein Stück weit die Zunge raus schaute. »Was hat dich dazu getrieben, das Balg deines Johanns mitzunehmen?«
Sie schluckte durch den Kloß in ihrem Halse. »Nun sieh, es ist nicht vom Johann. Es ist deines, das Balg«, er schwieg und sie fuhr fort. »Sie wollten ihn mir nehmen, meinen Knaben wollten sie mir wegnehmen. Es ward nicht lang her, da hatten sie den letzten genommen - im Brachmanot vor einem Winter nur, er war gleichermaßen dein Kind gewesen. Er hatte doch bloß ein Ouge und keine Nase und schaute aus wie ein Teufelskind, da hat Johann ihn geschlagen und zum Herrngott geschickt und ich musste drei Manote lang Buße tun. Und nun, nun ist es abermalig so, ich wollte ihn nicht sterben lassen - meinen Sohn! Was wäre ich denn bloß für eine Mutter?«

Sie beobachtete sein Gesicht, etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Seine Mundwinkel zuckten - es wirkte fast so, als würde er nicht wissen, was er sagen sollte, als wüsste er nichts mit dem Wissen, dass das Balg seins war, anzufangen.
Sie hielt ihm den leinenumwickelten Säugling hin, seine Augen blickten zu ihm runter und er betrachtete seinen Sohn stillschweigend, ohne ihn anzurühren. Es war fast schon schön, das Kind, wäre es nicht so sonderbar. Die schmalen Augen lagen dichter an den Ohren und weiter voneinander entfernt, als gewöhnlich, und waren zwischen Falten eingebettet auf dem puterroten, flachen Gesicht. Die Nase war nur ein Stumpen und allumfassend wirkte der ganze Säugling für Robert um Maßen zu klein.
Der Alraunensud schien dem Mädchen das Denken geraubt zu haben, nach und nach kam ihr in den Sinn, dass er unterdessen sein Gewissen hinterfragen musste. Sie nahm an, er sei ein guter Mann, bei Gott, er war ihr doch lieb gesonnen. Er würde sie nicht verraten, es würde ebenso unsäglich für ihn enden.
Er selbst besaß ein Weib und zwei Bälger und sollte man den Bastard als seinen erkennen, ginge es zum Scharfrichter mit ihm.

Ihre Gedanken wurden von dem Aufschrei einiger Männer unterbrochen, ein nervenzerreißendes Zusammenspiel aus Qualen in den höchsten Tönen, das ihr die Haare im verschwitzten Nacken aufstehen ließ und durch ihre Knoche kroch.
Von Gersdorff warf sich ohne ein weiteres Wort in den Sattel, ließ das Mädchen zurück und ritt zu seinen Männern. Nun stand sie wieder allein mit dem stillen Kind in der Dunkelheit, ihre Gedanken wurden zu einem lauten Gewirr.
Welche Bestie brachte Männer zu solchen Qualen? Darüber konnte sie sich später Gedanken machen, fest stand, dass sie ebenfalls in Gefahr wäre, würde sie sich nicht schleunigst vom Acker machen. Sich zu den Männern zu begeben, wäre in vielerlei Hinsicht höchst unklug. Also rannte sie von ihnen weg.

Der Herrgott gönnte dem Paar keinen gemäßen Abschied, waren sie es doch, die sich nicht an seine Gebote gehalten hatten.

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GLOSSAR:

Busine: Fanfarentrompete im Mittelalter für Signaltöne oder festliche Anlässe.

Cotte: Schlichtes Kleid für Männer und Frauen, das sichtbar unter dem Surcot getragen wurde und später immer figurbetonter wurde. Die Ärmel wurden dann wie beim Surcot eng zugeknöpft und konnten bis über die Handknöchel gehen.

Surcot: Anfangs ein Überkleid, wurde beim Adel später aber wieder von der Suckenie abgelöst oder unter ihr getragen. Beim dritten Stand fungierte es immer noch als normales, gegebenenfalls kurzärmeliges Kleid, das man über der Cotte trug.
Kann vor allem im Hochmittelalter je nachdem extrem figurbetont sein, das Oberteil und die Ärmel werden an langen Leisten zugeknöpft.

Mi-Parti: Der letzte Schrei im Hochmittelalter. Zweifarbige Färbung von Kleidungsstücken ab dem 13. Jahrhundert. Wenn du nicht wusstest, wohin mit dem Geld. Anfangs für Bedienstete und Spielmänner, später jedoch auch für den Adel gedacht.

Muskau: Die Stadt Muskau (bitte nicht mit Moskau verwechseln) liegt auf der deutschen Seite der Oberlausitz, direkt an der Neiße und heutigen Grenze zu Polen.
Die Veste bzw. Wasserburg gibt es heute nicht mehr, dafür das Alte Barockschloss und Neue Renaissanceschloss und der Fürst-Pückler-Park.

Suckenie: Ärmelloses, kostbares und loses Gewand, das über der Cotte oder, wenn gegeben, über dem Surcot getragen wurde, jedoch auch als solch einer fungieren konnte. Hier: Für Frauen mit breitem Ausschnitt unter den Armen, der bis zur Hüfte reichte, auch »Höllenfensterkleid« genannt. Dieses Mal wohl eher der Aufschrei der Kirche, da diese sehr dagegen war, dass Frauen so viel von ihren figurbetonten Kleidern zeigten. Sehr sündhaft und so. Christen könnten sich aufregen.

Frauen mit Cotte und kurzärmeligen Surcot. Und so einem strangen Typen.

Frauen mit Surcot und Höllenfensterkleid.

Warsch. Larpkostüm mit Cotte, einem oder zwei Surcots und Suckenie bzw. Höllenfensterkleid. Quelle: Moiseyeva photography.

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