Kapitel I - Furcht
Veste Muskau, Wintermanot 1380
Die Kammer war leer. Als die Gefolgschaft eintrat, überkam ihnen ein Schweißgestank und Gerüche anderer Körperausscheidungen. Die schweren Vorhänge des großen, dunkelhölzernen Bettes waren zugezogen und als man sie mit Schwung zurückstoß, lag niemand mehr auf der federgefüllten Matratze. Blutdurchtränkte Leinen, als hätte ein geschlachtetes Kalb auf ihnen geruht. Ein großer, dunkelroter Kreis um einen gelblichen Fleck.
Auf dem Tisch lagen unberührte, dicke Scheiben eines honiggesüßten Brotes. Der Becher Wassermet war nur zur Hälfte leer getrunken, eine Fliege schwirrte um ihn herum und ertrank im dünnen Bier.
Die Nachgeburt schwamm vor dem Bette in einer Auffangschale. Daneben, zwei hölzerne Bütten für Mutter und Balg, gefüllt mit milchvermischtem, noch heißem Wasser und getrockneten Kräutern. Beide waren unberührt.
Das Fenster stand offen.
Eine Stunde vorher...
Gerhard von Penzig mochte es nicht, nach Anbruch der Dunkelheit aus seinem Bette geholt zu werden. Wenn die Schwärze von den Wiesen und Wäldern bis in seine Wasserburg gekommen war und ein niemand mehr seinen Nächsten vor sich sehen konnte, hatte er das Gefühl, von ihr verschluckt zu werden. Und dann noch die klamme Taubheit seiner Glieder...
Ab der siebzehnten Stunde des Tages gab es im Wintermanot keinen Unterschied mehr zwischen der Wildnis und den eigenen Mauern.
Gleichwohl lag seine Abneigung auch daran, dass der Burggraf in der undurchdringlichen Dunkelheit jeden zu sehen vermochte, den der Herr im Himmel längst in seinen Reihen begrüßen konnte.
Gerhard hegte seine Furcht weder vor dem Winter, noch vor dem Alter, noch vorm Jüngsten Gericht. Denn all dies hatte Gott geschaffen, all dies war natürlich, es kam oder kam nicht und wenn es kam, dann würde es ohnedem zu spät sein. Nicht doch, was ihm seinen Magen verdrehte, seine Glieder mit Schweiß benetzte und seine Haare aufstehen ließ, war die tiefe Schwärze der Nacht.
Wenn die Sonne verschwand und all die unsäglichen Kreaturen aus ihren Verstecken krochen, von denen man nicht einmal wusste, dass es sie gab und von denen man sich nie ein Bild machen können würde, weil sie nie ans Licht kämen - die Vorstellung allein jagte ihm genug Furcht ein, als dass er sich nach Einbruch der Nacht und nach dem Erlöschen der Wachskerzen jemals alleine aus dem Federbett trauen würde.
Nicht zuletzt hatte er das Gesicht seines verstorbenen Weibs in der Spiegelung gesehen, die das flackernde Kerzenlicht an den dicken Fensterscheiben des Saals hinterlassen konnte. Mechthild hieß sie. Noch vor einem Winter hatte sie gelebt, bis sich ihre Taschentücher in diesem Frühling rot gefärbt hatten - bis sie anfing, mit dem Husten Blut zu speien. Aus den Taschentüchern waren Ärmel, Laken, Bettbespann und Kleider geworden und das Bett ward bis nach dem Erschlaffen ihres zweiunddreißigjährigen Körpers zu einem einzigen Blutbad verwandelt.
Mechthild von Bodeck war seine zweite Frau gewesen, das jüngste Kind von Johann von Bodeck und Hedwig von Allenstein - nach Johanns Tod eine fürchterlich zerstrittene Sippschaft, immer nur lag ihnen das Erbe des verstorbenen Oberhaupts am Herzen. Das rote Haar hatten sie auch noch in Penzigs Familie geschleppt, das gottlos rote Haar, wie er es empfand, das ihnen allen mit den Jahren immer dunkler wurde, dazu die hellen Augenbrauen, die dünn und kaum sichtbar auf der durchscheinenden, fast kranken Haut über den tiefen Augenhöhlen saßen.
Doch Mechthild hatte er geliebt. Sie war bis zuletzt eine starke und kluge Frau gewesen, mit sechzehn Jahren hatte sie Maria, das erste Kind, trotz elendig langgestreckter Geburt überlebt, gleichermaßen wie alle anderen Mündel nach ihr, keines von ihnen war bei der Geburt gestorben und Maria erfreute sich bis heute bester Gesundheit.
Nein, bei der Geburt verstarb niemand, doch wurden sie im Laufe ihres Lebens, Kind für Kind, Frau für Frau, ins Sterbebett verfrachtet. Gott hatte Von Penzig zwei Weiber und vierzehn Bälger geschenkt und elf von ihnen samt ihren Müttern genommen.
Er hatte an diesem Abend gebetet, dass Maria, die nun seit dem frühen Nachmittag mit Eröffnungswehen im Bette lag, die gleiche Stärke ihrer Mutter aufweisen würde, dann war er mit seinem schwachen Leib ins Bett gestiegen. Es lag an ihm. Und er wusste es. Er war krank und gebrechlich, sein Körper nie wirklich kräftig gewesen und dieser seltsame Befall seiner Glieder würde ihn von innen auffressen. Es kam alles, wie es schon immer kommen sollte.
Nun brannten keine Kerzen in seiner Kammer und der erstgeborene Burgherr blickte dorthin, wo sein Bettvorhang sein musste, in die schwere Dunkelheit über seinem Kopf, die auf ihm niederfiel, ihn erdrückte und seinen Körper einnahm. Er konnte sich nicht bewegen.
Er ward nur kurz vor dem Einschlafen gewesen, da hatten ihn die lauten, hektischen Schritte und die Unruhe im Gang hochgeschreckt. Aufgeregtes Stimmengewirr. Nun wollte er sich lautstark nach dem Grund der Störung erkundigen, als die vor seiner Kammertüre positionierten Knechte sich gegen das Eichenholz klopftend ankündigten, die Tür öffneten und nach dem Einlass der Folgemagd Marias fragten. Sie brachten einen Schwall Wärme mit sich, der sich müßig und schwer im Raum ausbreitete und vom einzigen Kamin der Burg ausging, der sich in der anliegenden Bohlenstube in der Kemenate befand.
Gerhard kniff die Augen zusammen, als das helle Licht in seine Kammer floss und sah wieder auf seinen Bettvorhang. Er ließ sie warten, für eine lange Zeit, in der er nachdachte. Er wusste nicht, ob er sich so schwach zeigen wollte - dann rief er sie trotz allem zu sich.
»Ich hoffe doch, Ihr habt einen rechten Grund, mich in solch ungöttlichen Stunden zu stören«, knurrte er.
Die Folgemagd trat mit einem höflichen Lächeln auf den dünnen Lippen und einer Verbeugung ein. »Erlaucht; Gerhard, Bürg'err von Penzig, Madame Maria von Penzig, Bürg'errin zu Muskau, a'soeben einen Knaben geboren«, verkündete sie. Der fränkische Akzent verriet ihre Herkunft.
Ein Sohn, bei Gott, es war erneut ein Sohn geworden, eine zweite Gelegenheit. Der Herr im Himmel hatte Gnade über seines Tochters Kind walten lassen. Gott sei gedankt. Zeitgleich hörte er die Businen. »Johann von Kittlitz' Abwesenheit verlangt mich in den Rang ihres Gerhab zu stellen. Verkündet ihr, der Erbe soll den Namen ›Gerhard‹ erhalten.«
Gerhard von Kittlitz zu Muskau - sein Name in Zusammenhang mit diesem bedeutenden Lausitzer Adelsgeschlecht, der Burgherr war von höchster Freude. Wäre das Balg nun auch noch von bester Gesundheit, konnte er nicht stolzer sein.
Gleich Morgen sollte er getauft werden, dann würde es das seit langem geplante Fest geben, weswegen die Herren von Kittlitz, Gerhards Brüder und seine älteste Tochter mit ihrer Familie angereist waren.
»Erlaucht, die Maria wird nun zu Bade gehen und kleidet siech darauf'in an, wollt Ihr sie und das Kind mit einem Biesuch ehren?«, erkundigte die Folgemagd sich.
Gerhard schlug gegen sein Bein. Es war taub. Seit einigen Zeiten war sein Körper angeschlagen, etwas schien ihn befallen zu haben, vielleicht war es auch nur das Alter. Nun kam er schlecht aus dem Bette, hatte er sich einmal hingelegt. Jeden Morgen aufs Neue dieselbe Prozedur. Seine Glieder wurden schwach und wärmelos, an manchen Tagen konnte er mit seiner Hand kaum noch einen Kelch fassen. Dazu kam eine ständige Schwäche seines Herzens. Er war alt, er würde nicht mehr heiraten können und musste sich mit drei minderen Erben zufriedenstellen. »Bei Gott, ich komm doch bald keinen Steinwurf mehr weit! Wen soll ich noch besuchen?«, fluchte er aus dem Bette. Die Folgemagd bat um Verzeihung.
Im steinernen Gang, hallende Schritte. Eine kräftige, ältere Frau kam wie ein gehetztes Huhn in die Bohlenstube zu ihnen gestürmt und zwang sich an sich den Knechten und der Folgemagd vorbei, ihr rasselnder Atem war in beiden angrenzenden Räumen und dem Gang bis in alle Ecken zu hören. Sie hatte ihre drei Röcke hochgehalten, um besser rennen zu können. Es war die Amme, Konstanze von Bodeck.
»Himmel, was haben wir es denn so eilig, dass-«, der Gerhab kam nicht einmal zum Aussprechen.
»Mit Verlaub, Burgherr von Penzig, aber das Mariechen ist fort und hat das Balg vom Kittlitz mitgenommen«, die Amme wollte tief luftholen, stieß jedoch auf den unangenehmen Geruch, der in der Kammer des Gerhard von Penzig herrschte. Sein Bett war verdreckt, er selbst nahm den Gestank des Durchfalls jedoch nicht mehr wahr. Sie wollte die Holzversperrung am glasscheibenlosen Fenster öffnen, wurde sich aber bewusst, dass die anliegende Bohlenstube nicht umsonst den ganzen Nachmittag durch gefeuert hatte und ließ es sein.
Stattdessen würde sie im Morgen in aller Frühe eine Dienstkraft schicken.
Die beiden Knechte an der Tür wechselten vielsagende Blicke.
Seit Mechthilds Tod hatte Marias Amme und Großtante Konstanze die Rolle der Hofmeisterin übernommen und sich auch noch um die Aufgaben einer Burgherrin gekümmert und das Gesindel, die Dienstboten, die Küchenkräfte und weitere am Hof lebende im Auge behalten, den Alltag organisiert und für die wenigen Feste im Jahr gesorgt, sowohl in Penzig als auch nun in Muskau, um Maria aufgrund ihrer Schwangerschaft unter die Arme zu greifen.
Sie war eine ausgediente Witwe aus dem Hause Bodeck, mit ledriger Haut und dünnem, ergrauten Haar, von der man flachste, dass sie schon zu Lebzeiten Christi ihr Unwesen getrieben haben musste und bevor sie Marias Amme gewesen war, ward sie Mechthilds.
Nun blutete sie seit Jahren nicht mehr und konnte kein Kind ernähren, aus diesem Anlass hatte man aufgrund von Marias bisher zwei erwarteten Kindern eine neue, junge Amme eingestellt, doch Konstanze von Bodeck durfte bleiben. Sie war Mechthild einst so lieb und treu gewonnen, dass ihre erste Tochter den Namen der adeligen Amme als Beinamen erhalten hatte. Maria Konstanze.
Gerhard ließ sie weiter auf den Burgen derer von Penzig hausen.
Er fand Gefallen daran, die Herrschaften von Penzig reicher aussehen zu lassen, als sie tatsächlich waren, und dazu gehörte ebenfalls das Anstellen reichlich Bediensteter.
Zu seinem Glück waren die Herren von Kittlitz eine angenehm wohlhabende Gesellschaft, sodass es ihn juckte, wenn er daran dachte, dass er seine Tochter und nicht seinen Sohn in diese Kreise eingeheiratet hatte. Sein jüngstes Kind und einzig lebender Sohn Leuther war gerade zwölf Jahre alt - er würde es mit Dietrich dem Dritten von Kittlitz besprechen müssen, Johanns Bruder, vielleicht war es noch von Möglichkeit, eine seiner Töchter mit Leuther unter die Haube zu bringen, doch bis dahin war reichlich Zeit. Gerhard dachte an eine Herbsthochzeit im nächsten Jahr, wenn die Ernte eingesammelt war und die Jagten begannen, dies gäbe ein schönes Fest.
Die Amme sah abwartend auf den Burggrafen. »Und nun, was sollen wir noch machen?«
»Lasst die Burg durchsuchen, danach das umliegende Land. Ich will mich mitschleppen und auf dem Wege unterrichtet Ihr mir, wie es dazu kommen konnte. Dass das Kind einfach fort rennt...«
»Könnt Ihr Euch denn vom Bette erheben?«, fragte die Frau und stützte ihren eigen Rücken mit einer Hand.
Nach dreizehn Geburten seiner eigen vierzehn Bälger hatte Gerhard von Penzig mit ansehen müssen, wie es seinen Eheweibern infolgedessen erging. Sie waren hysterisch gewesen, weinerlich, depressiv - keine Entscheidung war ihnen zumutbar, weshalb er sie stetig eine Woche lang, von Bediensteten bewacht, das Bett hüten ließ. Sie blieben Wöchnerinnen, zurecht. Körperlich, wie auch geistig.
Es war ein verbreitetes Phänomen, welches er von seiner eigenen Mutter und den Geburten seiner jüngeren Geschwisterkinder her kannte. Seine Mutter, die ihren Tod an Jakubs erstem und letzten Lebenstag gefunden hatte. Unbemerkt, mit rot geschwollenen Augen und glänzenden, tränenverkrusteten Wangen. Ein offengelegtes, blutiges Herz. Das stumme Kind in ihren Armen. Das stumme, missgebildete Kind...
Er zog scharf die Luft ein. »Der Sohn, ist er jemand nach Adams Bildnis? Ist er ein starker Erbe?«
Die Lippen der Amme zuckten, als sie versuchte, sich mit einem untergehenden Wortgemisch Zeit für eine Erklärung zu schaffen. Hastig drehte sie ihren Kopf zur Folgemagd - welches Geschwätz war und war nicht aus ihrem Munde gekommen?
»Nun, Erlaucht, es ist doch wie folgt - und da will man nicht zu viel des Schlechten reden - der Gerhard von Kittlitz, das ist ein kräftiges Balg, würden wir sagen. Ein wahrhaftiger Erbe, freilich, der ist-«, sie wurde unterbrochen.
»Zum Teufel mit Euch Konstanz', redet nicht unsinnig rum, ist er krank?«
»Nun, manch einer würde dies sagen.«
»Wie arg ist es?«
»Der Erbe ist kräftig, doch klein wie ein Mädl und kein Kind von schöner Natur. Der hat Augen wie zwei Pflaumenkerne und die Nase ist geformt wie ein kleiner Kiesel.«
Die Sekunden verstrichen, in denen Gerhard versuchte, sich das Balg bildlich vorzustellen. Er wollte es nicht. Gott mochte verbieten, dass der Erbe ein entstelltes Gesindel sein würde, das an seinem eigenen Körper verreckte.
Hatte der so gnadenvolle Herr sich nicht schon hinreichend an seiner Familie vergriffen? Er hatte sie aufgelesen, einen nach dem anderen hatte er in seine nie endenden Taschen gesteckt und nun ergötzte er sich daran, Gerhard zuzuschauen, wie dieser mit seinem Leben auf der Schwelle zum jüngsten Tage stand und nichts tun konnte, als zu warten. Abzuwarten. Ob er zuerst stürbe oder ob er seine Kinder noch im eigenen Sterbebette nachtrauern müsse, allein. Mit zwei Schwiegersöhnen, die längst neu geheiratet haben würden und sich zweier Erbvermögen erfreuen dürften.
Und seine Brüder? Würden sie bei ihm bleiben? Würden die beiden Herren von Penzig Gerhard überdauern? Ihn aufgrund des Erbes frühzeitig erdrosseln? Sich gegenseitig vor Gier zerstückeln?
Oh, er würde alles daran setzen, Marias Kind lebendig zu sehen. Ein Leben an seinem Anfang, ohne Frevel im Herzen oder Hass in den Augen oder Müdigkeit im Gesichte. Der ganze Zauber eines reinen, unschuldigen Kindes von wenigen Stunden.
Bei seinem eigenen, ersten Balg, seinem nun unter verdorrten, frostbedeckten Blumenwiesen vergrabenen Sohn, hatte Gerhard geweint, als er ihn das erste Mal sah. Das erste Mal in den Armen hielt. Er hatte ihm versprochen, was jeder Vater versprach - zuerst zu gehen und doch ein Leben lang an seiner Seite zu bleiben - ein Paradox. Doch dann ward das Kind von einem elendigen Plackerer auf dem Pferde überrannt worden und dahin war sein siebenjähriger Leib gewesen.
Der Burgherr griff sich am Bettvorhang fest, dass ihm die Hand schlaff und kribbelig wurde, ohne dass er überhaupt allzu fest zupacken musste, und wollte aufstehen. Taubheit durchzuckte seine Glieder. Nichts.
Er riss den scharlachroten Vorhang und sich selbst zu Boden. Die Bediensteten eilten sogleich um ihn herum und wollten ihm aufhelfen, doch er jagte sie davon, im tollgleichen Geschwafel unter zusammengepressten Zähnen. Er war entgeistert, verrückt, alt. »Fort... Hinfort, habe ich gesagt! Raus aus meiner Kammer!«, der Puls steckte ihn im Halse.
Sie verschwanden in schnellen Schritten. Kein weiteres Wort fiel.
Gerhard stützte sich am Bette ab. Mit schwachen Beinen richtete er sich auf, vor seinen Augen erschienen grüne und purpurfarbene Streifen, er konnte nichts mehr sehen. Schwankend ertastete er sich seinen Weg in die hell erleuchtete Bohlenstube. Der Kamin glühte. Davor, Wannen mit Wasser. Stimmen von irgendwoher. Er konnte niemanden und nichts sehen. Sie waren dicht bei ihm, jemand stützte seinen kranken, schweren Körper. Dann saß er. Eine Krähe hockte auf seinem Schoß. Eine Krähe? Er blinzelte, sie verschwand.
Blinzeln half. Es dauerte nicht lange, da verschwanden die Farben, die seine Sicht getrübt hatten.
Gerhard sah in die grauen Augen seines letzten Sohnes von zwölf Jahren, ein erwachsenes Kind. Dieser blickte ihn besorgt an und strich ihm über die raue Wange.
»Ihr habt nicht sehen können, wohin Euch die Beine führen, nicht wahr, Herr Vater?«, fragte der Junge. »Ich musste es doch schon einmal erblicken.«
So ein gutes Kind, wusste Gerhard. Er war womöglich in Marias Nähe geblieben, um frühzeitig den Schwestersohn zu sehen.
»Ich werde alt, mein Sohn. Schwach. Es kommt vor, dass ich erblinde, wenn ich mich erhebe, so natürlich wie es auch vorkommen wird, dass du bald meine Herrschaft einnehmen musst«, der Burggraf lehnte seinen Rücken mit einem leisen Stöhnen an die Wand und blickte in den von Wachskerzen beleuchteten und mit Holzbohlen versehenen Raum.
Sein Kind konnte es nicht verstehen - außer sich vor Furcht blickte es Gerhard an. »Sprecht nicht vom Tode, wenn Ihr ihn noch nicht erblicken könnt!«, Leuthers Augen waren geweitet, an der Spitze sammelten sich die Tränen.
»Jeder gute Sohn wird seinen Vater überdauern müssen«, merkte der Gerhab trocken an. Es war natürlich: Von Gott gewollt und vom Leben und Tod der Menschen ausbalanciert. Ein guter Sohn, das war ein starker Sohn, nichts weiter.
Leuther schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann will ich kein guter Sohn sein. Was soll ich mit einer Grafschaft, wenn ich noch nichts vom Leben weiß? Madzia ist erfahren und weise, Madzia soll's bekommen.«
»Magdalena hat arm geheiratet und ist zudem eine Frau. Leuther mein, niemand wird dir dein Erbe von den Schultern nehmen. Was für ein eigensinniger und eitler Gedanke es doch ist, früher als der Vater dein zu verenden. Hat dir der Herr nichts mit den Toden deiner Geschwister gesagt?«, mahnte er. Es war ein furchtbares Thema.
Das Kind wandte seinen Kopf ab. »Ich will nicht an sie denken.«
»So sei dir deines Lebens bewusst. Und allein wirst du es nie beschreiten müssen - du hast zwei ältere Schwestern, zwei Väterbrüder, fünf Schwesterbälger und ab der heutigen Nacht einen weiteren Schwestersohn.«
Der Vater strich dem Jungen mit seinen steifen Händen über den Kopf und die rotbraunen Haare, die ihm in einem rausgewachsenen, zerzausten Pagenschnitt zum Kinn wuchsen. Leuther hatte Gerhards graue Augen und das rostfarbene Haar seiner Mutter.
Er liebte seinen Sohn um die Maßen.
»Ich wollt ihn so gerne sehen«, sprach der Junge leise über Marias Sohn.
»Dies dachte ich mir. Doch wir müssen auf die Männer warten, sie werden deine Schwester finden.«
»Warum läuft sie in erster Linie fort?«
Es gab so wenig, was Leuther wusste, dachte Gerhard. Dabei zählte er schon zwölf Jahre. Zur Hochzeit müsste er seinem Sohn die Dinge erklären, damit dieser zur ehrenhaften Erhaltung der Linie beiträge. Nun jedoch versuchte er es ihm zu umschreiben. »Haben sie erst einmal das Kind ausgetragen, sind Weiber in ihrer Manie zu allerlei Taten fähig.«
Leuther hob erstaunt die hellen Brauen. »Ist dies der Teufel?«
»Nicht doch«, Gerhard lachte. »Nein, dazu braucht es freilich keinen Teufel, das Weib allein reicht.«
»Wird mein Eheweib genau so sein?«
»Wir werden sehen, mein Sohn. Wir werden sehen.«
Vater und Sohn, sie saßen nun schweigend beieinander, auf der mit Wildschweinfellen überworfenen Holzbank am Kamin. Der Burggraf hielt das Kind in den Armen und strich ihm über die Stirn, seine Finger jedoch waren klamm und taub. Niemand stieß zu ihnen, die Wachen ließen auf sich warten. Es wurde sieben, die neunzehnte Stund des Tages.
»Wo bleibt denn nur Madzia?«, fragte Gerhard mit vom Schweigen rauer Stimme. Weder Magdalena noch Henryk von Damerau hatten sich im Laufe des Abends in der Kemenate gezeigt, und ihre Kinder waren zu Bette.
Leuther blickte zu ihm hoch. »Die Madzia hat wieder geschrien. Ich wollt zu ihr eilen, doch die Tür zu ihrer Kammer ward verriegelt.«
»Dann ist es nicht unsere Angelegenheit«, brummte der Mann. Henryk ward ihm langsam zuwider, doch was sollte man schon dagegen unternehmen? Es war nun ihre Plage, nicht mehr die derer von Penzig, die überstürzte Hochzeit hatte dies ein für alle Mal besiegelt.
»Warum tut sie das? Warum schreit sie und verschließt die Türe, warum vermag ihr Henryk nicht zu helfen?«, fragte der Junge. »Ich kann Madzia und Henryk nicht verstehen.«
Der Vater versuchte, es ihm zu erklären. »Franciszek ist krank, sie können es nicht bei einem missglückten Erben und einem Säugling lassen, der Herrgott mag wissen, wie es ihnen im Winter ergehen wird. Und Stefan ward vor reichlich Zeit geboren, Madzias Körper ist bereit für eine neues Balg.«
»Und Madzia - sie schreit, nur weil sie eins bekommen möchte? Ich bezweifle, diese Sache jemals begreifen zu können, Herr Vater«, der Zwölfjährige versuchte sein Bestes, sah jedoch keinen Zusammenhang zwischen den Dingen. Es war doch ein ewiges Hin und Her mit diesem Knaben.
»Genug«, beendete der Vater die Fragerei. »Du wirst es alles noch begreifen müssen, wenn die Zeit reif ist.«
Zeit verging. Die nächste Stunde brach an, es ward acht am Abend.
Leuther stand auf und brachte Holzscheite mit, ohne eine Dienstkraft zu holen. Mit Feuerschurf und -besteck entflammte er das Feuer im Kamin, das den späten Nachmittag durch gebrannt hatte.
Dann kam er wieder in die Arme des Vaters und ließ sich über den Kopf streichen. So ein guter Sohn. Gerhard konnte es nicht genug wiederholen, es gab niemanden, auf den er stolzer war.
Und in einem Jahr solle er schon verheiratet worden sein - wie schnell der Gott doch seine Kinder wachsen ließ, man sah für einen Augenaufschlag nicht nach ihnen und dann waren sie bereits um zwölf Jahre alt und bereit, eine Ehe einzugehen. Der Burggraf bereute es, seinem Spross in den letzten Monaten so wenig Beachtung geschenkt zu haben.
»Hast du für unsere Maria und ihr Balg gebetet?«, erkundigte sich Gerhard und brach ihr stummes Beisammensein.
»Ja, Herr Vater«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Den ganzen Abend lang.«
Dann herrschte wieder eine beklemmende Stille der Unwissenheit - was mag mit ihr geschehen? Schließlich hielt es Leuther nicht mehr aus. »Es ist bitterkalt draußen, wird sie erfrieren? Sie wird doch erfrieren, wenn sie sich draußen umhertreibt, nicht wahr? Und der Herr im Himmel - wird er gnädig sein? Wird er sie in seinem Reiche aufnehmen oder sie verspotten? Wird Maria unsere Mutter sehen?«
»Dich kümmert's mehr als dein Leben, Sohn, was mit Maria geschieht. Gott allein weiß, ob er sie verschonen wird, so liegt es doch nicht an mir, dies zu entscheiden. Das Kind wurde mit dem Namen seiner Mutter geheiligt, so soll der Herr Gnade walten lassen«, dies war alles, das Gerhard mit Sicherheit sagen konnte. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig und er selbst konnte nur wiederholen, was der Priester erzählt hatte, an den letzten Tagen über der Erde seiner Frauen und Kinder.
Doch Leuther war bald nicht zufrieden mit der Antwort. »Können wir denn nichts anstellen?«
»Wir können nach ihr suchen.«
»Die Reiter suchen nach ihr, nicht wir. Ich hab's gehört.«
»Dann werden sie sie finden, worauf willst du hinaus?«
»Ich will nicht tatenlos abwarten.«
»Dann bete, mein Sohn.«
»Dies ist keine Tat, dies ist der Ausdruck meiner Hoffnung. Wie könnt Ihr solche Ruhe in Anbetracht der Umstände bewahren?«, nun hatte sich der Junge aus den Armen seines Vaters gelöst. Er wirkte immer ungeduldiger, auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gesammelt.
Eine Manie hatte diese Familie befallen und sie würden es noch früh genug herausfinden.
»Ich bewahre keine Ruhe. Die Angst hat meine Hysterie erstumpft und mein Denken betäubt«, sagte Gerhard stoisch.
»In welcher Welt lebt Ihr, dass die Angst Euch beruhigt?«
»Nie sagte ich, dass sie es täte. Höre besser hin, mein Sohn!«
»Aber Ihr sorgt euch?«
»Ja«, sprach der Vater wahrheitsgemäß.
»Und Ihr seid Euch im Gewissen, dass etwas unternommen werden muss?«
»Freilich doch. Was beschäftigt dich?«
»Dann nenne ich es müßig von Euch, sie nicht aus erster Hand zu suchen.«
Ungläubig blickte Gerhard auf den Jungen. Woher er sich solch einen Ton angeeignet haben musste? »Unerhört - eine bodenlose Unterstellung, aus deinem Munde!«
»Es ist die Wahrheit!«
»Ich kann meine Glieder kaum spüren und du wagst es, mich derart anzufeinden?«
Leuther erhob sich von der Holzbank. »Ich werde keine Ruhe geben. Wenn Ihr nicht fort könnt, werde ich nach Maria suchen. Ich kann das Unwissen nicht ertragen, es plagt mich«, in seiner Stimme lag plötzlich so viel Weisheit, so viel Alter für seine zwölf Jahre, dass der Burgherr glauben wollte, sein Sohn wäre schon um einige Jahre früher geboren worden.
Der Junge erwartete keine Antwort, kein Verbot und keine Erlaubnis von ihm und verließ die Bohlenstube in großen Schritten, die sein schmächtiger und hochgewachsener Knabenkörper zuließ.
Gerhard saß nach wie vor an der Wand gelehnt und sah ihm nach. Er rief ihn nicht zurück.
Der Gerhab dachte nach, lange. Und wartete in seinen beschmutzten Unterkleidern. Doch niemand der restlichen Familie stieß mehr in die Kemenate, nicht einmal seine Brüder sahen noch nach ihm.
Kurz kam die Amme zurück, nur um die besorgniserregende Nachricht kund zu tun, dass die Suche erfolglos gewesen sei und eine Bestie derweilen die Männer angegriffen haben soll. Eine Bestie? Er würde zum morgigen Tage die Jäger losschicken.
Dieses grässliche Land tat ihm nicht gut. Jede Ecke, jeder Baum und jedes Feld schien sich in den Händen des Teufels zu befinden. Die grauen Himmel, das trügerische Knacken der Mühlen, das heillose Ätzen der Glocken und nicht zu vergessen die weite, nebelbehangene Haide.
Nun konnte man auch nichts gegen die fürchterlichen Glocken machen - sie stillstehen zu lassen, würde zur Wiederkehr der Querxe führen, hatte das Christentum diese Heidengeschöpfe doch erst verjagen können; Trotz allem hatte Gerhard noch nie einen zu Gesichte bekommen.
Sei's drum, diese Natur war nicht mit Gottes Wohl geschaffen, dies stand fest. Die Fließe und Tümpel waren allesamt von einer ewigen Fäule besessen und sobald der Frühling kam, brachte dieser einen trügerischen Zauber mit sich, der in trüben Tagen und Regenfällen unterging und schon im Mei endete.
In den frühen Stunden des nächsten Tages fielen Gerhard schließlich die Augenlider zu.
Die Wachknechte machten sich nicht die Mühe, ihn noch in die Kammer zu schaffen. Sie wussten, was alle wussten: Dass Penzig in absehbarer Zeit einen neuen Burggrafen begrüßen konnte.
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