Der Nachtkrapp
Hätte Victoria die zwei Dinge nennen müssen, die sie auf der ganzen Welt am meisten hasste und fürchtete, dann wären das mit Sicherheit Dunkelheit und Einsamkeit gewesen.
Genauso hätte sie auch den Ort beschrieben an dem sie jetzt war: dunkel und einsam.
Sie hätte an dieser Stelle auch noch kalt, feucht und unbekannt hinzufügen können.
Der Ort war der Inbegriff eines Albtraums und Victoria hoffte inständig, dass es auch einer war. Selten in ihrem Leben hatte sie sich so gefürchtet, nicht einmal als sie die schöne Schale zerbrochen hatte, die ihre Mutter auf dem Markt gekauft hatte.
Die Schale auf die ihre Mutter ganze zwei Jahre gespart hatte. Damals waren es ihre Eltern gewesen, vor deren Strafe und Prügel sie sich gefürchtet hatte, doch dieses Mal kannte sie das nicht, was sie fürchtete.
Natürlich hatte Victoria, so wie alle Kinder im Dorf, schon davon gehört:
Der Nachtkrapp.
Ein furchtbares Wesen, das sich die unartigen Kinder holt um sie zu strafen, sie in sein Versteck zu bringen und sie zu fressen, bei lebendigem Leibe.
Ein Wesen, das einem Raben glich, aber keiner war, groß wie ein Mensch, stark wie ein Bär, schnell wie der Blitz und lautlos wie eine Schlange.
Ein Dämon, aus einer anderen Welt, vor dem sich alle fürchteten.
Um ehrlich zu sein hatte Victoria
nicht an ihn geglaubt.
Als die Leute ihr davon erzählt hatten, hatte sie es als Humbug abgetan.
Ein Dämon der sich ausschließlich unartige Kinder, die bei Abend, wenn die Sonne schon untergegangen war, noch draußen spielten, holte?
Das klang schon sehr fragwürdig. Aber so war es gewesen!
Victoria erinnerte sich noch genau:
Sie hatte mit ihrem Steckenpferd auf der großen Wiese gespielt, auf der ihr Vater immer Heu machte. Sie hatte so getan, als wäre sie eine der Boten, die immer Nachricht vom Fürsten brachten, wenn dieser mal wieder etwas wollte. Victoria Tat gerne so als wäre sie ein Bote. Die Boten, auf ihren schönen Pferden, in ihren eleganten Gewändern, wirkten immer so mächtig und frei.
Die Sonne war schon untergegangen, aber weil Victoria von der Wiese aus das kleine Bauernhäuschen ihrer Eltern noch sehen konnte, hatte sie gedacht, dass es ja kein Problem sei.
Sie hatte weitergespielt, auch als der Mond bereits langsam hinter den Hügeln aufgegangen war.
Ihre Eltern würden sie schon irgendwann zum Abendessen holen.
Aber es waren nicht ihre Eltern gewesen, die sie geholt hatten.
Das erste Mal, dass Viktoria überhaupt der Gedanke kam, dass etwas nicht stimmen könnte, war als sich ein Schatten über den hellen Mond legte.
Ein Schatten der aussah wie ein übergroßer Rabe.
Victoria blieb wie erstarrt stehen. Sie starte das Geschöpf an, das sich vom Himmel auf sie herunterstürze, und tat nichts.
In dem Moment begriff sie nicht was geschah. Was war das?
Dann verstand sie:
der Nachtkrapp!
Es musste so sein!
Sie griff ihr Steckenpferd fester und rannte den Hügel hinab, auf das Haus ihrer Eltern zu.
Ihre braunen Haare flatterten um sie herum und ihr langer, brauner Rock blähte sich im Wind hinter ihr auf.
Victoria rannte schnell. So schnell wie noch nie in ihrem Leben. Sie hörte das leise Rauschen der Flügel des Nachtkrapp hinter sich.
ER kam näher.
Aber vor ihr kam auch das Haus näher. Sie konnte die mit Schweinsfettlampen erleuchteten Fenster sehen.
Sie konnte ihre Mutter erkennen die in der Küche Karotten schnippelte.
„Mutter! Mutter hilf mir! Mutter es ist der Nachtkrapp!“, schrie das kleine Mädchen mit vor Verzweiflung bebender Stimme.
Ihre Mutter, im Haus, schien sie nicht zu hören. Victoria rannte schneller.
Sie spürte dass sie fallen würde noch bevor es geschah.
Es war dieses seltsame Gefühl in den Beinen, wenn man ins Stolpern gerät und die Kontrolle verliert, wenn man merkt wie die Füße einem weg rutschen und man weiß, dass man bei einem der nächsten Schritte das Gleichgewicht verlieren und unsanft auf dem Boden landen wird.
Victoria schrie.
Sie schrie, weil sie wusste dass sie fallen würde.
Weil sie wusste, dass ER sie denn kriegen würde.
Weil sie wusste, dass sie dann verloren wäre.
Die Leute im Dorf waren da sehr deutlich gewesen: wenn der Nachtkrapp einen hatte, dann kehrte man nicht zurück.
Nie wieder.
Noch während Victoria vornüber kippte und die Arme ausstrecke und Ihrem Fall abzufangen, während sie dabei ihr Steckenpferd fallen lies, spürte sie, wie sich mit Krallen besetzte Klauen um ihre Schultern legten.
Victoria hörte nicht auf zu schreien, als der Dämon sie in den Himmel hob und mit ihr davon flog. Sie stiegen höher und höher und irgendwann, vom Auf und Ab der Flügelschläge eingelullt, schlief Victoria ein.
Als sie wieder aufwachte, war sie an diesem... diesem Ort.
Viktoria spürte eine kalte Wand hinter sich, einen weichen Teppich unter ihren Füßen, und nichts um sich herum.
Sie blieb sitzen wo sie war.
Sie hatte Angst.
Sie hoffte, dass es vorbei gehen möge. Dass es ein Scherz war, oder ein Traum.
Tief in sich wusste Victoria, dass es echt war, aber sie versuchte es nach Kräften zu ignorieren.
Sie war sich nicht sicher wie lange sie schon saß.
Einige Stunden?
Einige Tage?
Es konnte praktisch alles sein.
Am Anfang hatte sie geweint, aber sie hatte irgendwann aufgehört. Sie hatte natürlich immer noch Angst, aber es waren keine Tränen mehr übrig, die sie hätte weinen können.
Plötzlich öffnete sich eine Tür, von der Victoria nicht gewusst hatte, dass sie existierte.
In der Öffnung stand der Nachtkrapp in all seinem Schrecken.
Sein Gesicht war von grauem Flaum bedeckt, er hatte einen riesigen Rabenschnabel, statt eines Mundes, Vogelklauen, statt Händen und Füßen, er trug einen langen Kapuzenmantel aus Federn, der nahtlos in seine Flügel überging und ein braunes Wams, unter seiner Kapuze hing strähniges, braunes Haar hervor und in seiner Klaue hielt er Victorias Steckenpferd.
Victoria riss ihre vom Weinen geröteten Augen auf und starrte den Dämon panisch an.
Der Nachtkrapp kam einige Schritte auf Victoria zu, wobei seine Krallen tief in den Teppich einsanken.
ER beugte sich leicht nach vorne, als wolle ER sich vor dem kleinen Mädchen, das ER gefangen hatte, verneigen und streckt ihr die Klaue mit dem Steckenpferd darin entgegen.
ER sagte nichts.
Victoria wusste nicht, wie sie reagieren sollte.
Was wollte das Wesen von ihr?
Wollte es ihr das Steckenpferd zurückgeben?
Wollte es ihr zeigen, dass es wirklich alles von ihr hatte?
Wollte es sie gar näher zu sich locken, um sie dann zu packen und zu fressen?
War dies alles ein seltsames, unheimliches, widerwärtiges Spiel für den Nachtkrapp?
Genoss ER es die Angst in ihren Augen zu sehen und zu beobachten, wie sie sich immer weiter an ihre Wand drückte?
Hatte ER überhaupt Gefühle?
Konnte ER sich überhaupt an Victorias Furcht ergötzen?
Der Nachtkrapp kam noch ein Stück näher und legte das Steckenpferd vor Victoria auf den Teppich.
Langsam, den Dämon immer im Auge behaltend, streckte Victoria die Hand aus und griff sich ihr Spielzeug. Der Nachtkrapp beobachtet sie dabei und regte sich nicht.
ER legte seinen Kopf schief, viel weiter als ein Mensch dies gekonnt hätte, sodass seine Augen fast die Stelle erreichen, an der zuvor sein Kinn gewesen war und guckte das Mädchen aus pechschwarzen Augen an.
Victoria zitterte.
„Willst du mich fressen? Wieso hast du mich hierher gebracht? Bitte lass mich leben, ich bin doch noch so jung! Ich will zurück zu Mutter und Vater! Wieso hast du das getan? Ich schmecke bestimmt nicht! Ich bin voll Dreck und Gras und dir wird bestimmt schlecht werden wenn du mich frisst!“, weinte das Mädchen und drückte ihr Steckenpferd fest an sich.
Der Nachtkrapp öffnete seinen Rabenschnabel und sprach mit einer Stimme, ruhig und melodisch wie die eines Sängers, tief wie ein Bass, leise wie der Frühlingswind: „ Ich plane nicht dich zu fressen, Kind. Deine Eltern, sie sind unachtsame Leut. Sie können nicht auf dich aufpassen. Sie würden wissen, dass du nicht bei Nacht draußen herumtollen solltest wenn sie es könnten. Gefährliche Wesen treiben sich bei Nacht herum. Gefährlich und Böse. Ich kann auf dich aufpassen! Du wirst bei mir bleiben. Für immer und ewig, und du wirst sicher sein. Du wirst bei den anderen bleiben. Den anderen Kindern, die ich ja auch beschütze. Du wirst bei ihnen sein und du wirst glücklich sein. Schon bald wirst du vergessen, was du zurückgelassen hast, so wie sie vergessen haben, was sie zurückgelassen haben. Ihr alle vergesst, weil es so besser ist. Weil es so richtig ist. Ihr seid zusammen und ihr seid glücklich. Folg mir, ich bring dich zu ihnen.“
Die Worte des Nachtkrapp verwirrten Victoria.
Beschützen?
Andere Kinder?
Vergessen? Victoria wollte nicht vergessen!
Sie wollte sich an ihre Eltern erinnern! Sie wollte sie finden! Aber die Worte des Dämons… diese Stimme… sie wollte mit ihm gehen, obwohl sie wusste, dass sie es nicht wollen sollte.
ER war ein Monster!
ER hatte sie entführt!
Aber was wusste sie schon über ihn?
Victoria stand auf, das Steckenpferd immer noch in der Hand, und legte ihre andere Hand in die ausgestreckte Klaue des Dämons.
Der Nachtkrapp führte sie aus dem dunklen, einsamen, kalten Raum in einen Gang.
ER führt sie zu einer großen Tür, die sich öffnete, als der Nachtkrapp mit seiner Klaue davor winkte, und sie folgte ihm hinein.
Der Raum sah aus wie ein übergroßes Spielzimmer.
Allerlei Spielsachen lagen auf dem Boden verstreut, Kissen zum Daraufsetzen lagen dazwischen und sogar Bücher stapelten sich an den Wänden.
Viktoria konnte nicht lesen und sie hatte auch noch nie Bücher gesehen.
Es war faszinierend. An der hinteren Wand standen mehrere Betten und zu diesen Betten führte der Nachtkrapp sie jetzt.
Mit seiner freien Klaue zeigte er auf ein leeres, und lies mit der anderen Victorias Hand los.
Victoria fiel plötzlich auf wie müde sie war.
Sie kletterte in das Bett und deckte sich mit der weichen Federdecke zu.
Der Nachtkrapp stellte sich neben das Bettchen und begann in einer seltsamen Sprache zu singen.
Victoria hatte diese Sprache noch nie gehört und, was sie nicht wusste, kein anderer Mensch hatte sie je gehört, keiner außer den anderen Kindern in dem Raum, in den anderen Betten.
Der Nachtkrapp sang und Viktoria spürte wie sie begann einzuschlafen. Sie spürte wie ihre Erinnerung verschwand, wie die Gesichter ihrer Eltern verblassten und die Gegend in der sie gewohnt hatte und komischerweise machte es Victoria nichts mehr aus.
Der Nachtkrapp hatte recht!
Es war gut zu vergessen!
Sie würde hier bleiben und sie würde glücklich sein, mit den anderen Kindern.
Für immer und ewig.
Dann schlief sie ein.
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