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"Du kannst dich umbringen und bei Mandrik sein. Es gibt einen Weg. Du kannst ihn inzwischen berühren. Da habt ihr einen Weg gefunden, aber du wirst immer älter sein, als er. Du wirst alt und schrumpelig sein und er hat die ewige Jugend in sich." , grinst der Geist hämisch. "Du kannst dich umbringen und bei ihm sein" , beendet sie ihren Satz und ist erst einmal still.
"Und wie kann ich mir sicher sein, dass ich bei ihm lande?" , fragt sie.
"Das musst du wohl selbst ausprobieren. Da kann ich dir nicht weiterhelfen"
"Kannst du nicht oder willst du nicht?" , fragt Alana wütend. Inzwischen hat sie ein Bild von dem Geist. Er ist gemein und weiß mehr, als er zugeben will. Inzwischen hat sich zumindest noch eine weitere Frage geklärt. Sie kennt andere Geister. Mindestens zwei. Alana kann in der ganzen Nacht nicht schlafen und dreht sich immer wieder von der einen auf die andere Seite. Sie muss Mandrik unbedingt von dieser Begegnung erzählen. Immer, wenn sie wieder an das Mädchen denkt, bekommt sie ein Gänsehaut. Mitten in der Nacht steht sie auf und macht sich auf den Weg zum Zirkus. Die Vorstellung ist schon seit einigen Stunden vorbei und sie klopft leise an die Wohnwagentür von ihrem Freund.
"Was machst du hier?" , fragt er, als er verschlafen die Tür öffnet.
"Ein Geist hat mich besucht" , erwidert sie und er ist sofort hellwach.
"Was für ein Geist?" , fragt er.
"Eine Botin"
"Die sind gruselig" , flüstert Mandrik und lässt sie eintreten. Wenn selbst Mandrik diese Geister gruselig findet, dann hinterfragt Alana nichts mehr.
"Kann ich hier schlafen? Ich habe keine Lust auf noch einen Besuch von dem Mädchen" , gibt Alana zu.
"Wir hatten doch gesagt, dass du Zuhause bleiben sollst. Wegen deiner Eltern"
"Sie denken, ich liege friedlich im Bett. Mein Dad war schon bei mir. Wenn ich morgen früh zum Frühstück da bin, werden sie mich nicht vermissen"
"Okay, aber stell dir einen Wecker" , sagt er und die beiden legen sich in das Bett. Sie liegen nebeneinander und Mandrik streicht mit dem Daumen über Alanas Arm. Einen Moment schließt sie die Augen und genießt den Moment, doch dann wird ihr wieder klar, dass sie in ein paar Tagen Geburtstag hat und älter wird. Im Gegensatz zu Mandrik.
"Wir müssen eine Lösung finden. Ich will nicht ohne dich alt werden. Ich wünschte, wir hätten das mit den Berührungen ein Jahr früher herausgefunden" , seufzt Alana.
"Ich verstehe auch immer noch nicht, wieso es nun funktioniert"
"Das Mädchen meinte, ich könnte irgendwie bei dir sein. Dass es einen Weg gäbe"
"Alana. Ich will nicht, dass du dir das Leben nimmst, um bei mir zu sein. Du sollst ohne mich ein glückliches Leben führen"
"Das kann ich nicht mehr"
"Bitte. Tue mir das nicht an"
"Liebst du mich nicht oder weshalb willst du mich nicht bei dir haben?"
"Ich liebe dich. So sehr, wie noch nie jemals etwas zuvor und genau aus diesem Grund will ich, dass du ein glückliches, langes Leben führst. Ich kann in meinem Geisterkörper bleiben und dir beim alt werden zusehen. Wir können uns auch noch berühren, wenn du siebzig bist"
"Mandrik. Das will ich nicht. Ich will nicht ohne dich alt werden. Wie schräg wäre das, wenn ich mit siebzig einen zwanzigjährigen Freund habe?"
"Im Grunde genommen bin ich ja jetzt schon sechsunddreißig. Wenn du siebzig bist, bin ich schon lange älter, als du" , erklärt er ihr.
"Aber man sieht es nicht. Du siehst aus, wie zwanzig und wirst immer den Körper eines Jugendlichen haben. Das halte ich nicht aus. Was meinst du, warum der Freund von Gree irgendwann nicht mehr gekommen ist? Er ist alt geworden und sie ist jung geblieben. Er hat es einfach nicht ertragen können. Er leidet noch heute darunter und ich will nicht, dass uns das gleiche passiert" , versucht sie ihre Beweggründe zu erklären.
"Vielleicht weiß Gree eine Lösung oder vielleicht erfahren wir zumindest, weshalb das mit den Berührungen auf einmal funktioniert" , überlegt Alana.
"Morgen" , flüstert Mandrik und ist schon wieder fast eingeschlafen. Sie kann es immer noch nicht glauben,was für ein Schlaf dieser Junge hat. Sie ist die ganze Nacht über wach und grübelt über all das Geschehene in den letzten Jahren nach. Sie kann es immer noch nicht glauben, dass sie die Existenz von Geistern entdeckt hat und nun einen Geist als festen Freund hat. Sie fühlt sich, als wenn sie in einem Buch Leben würde. Ein Buch ohne Happy End. Sie fragt sich die ganze Nacht über, ob alle Menschen, die sterben zu Geistern werden.
Am nächsten Morgen ist Alana immer noch wach und hat tiefe Augenringe. Sie hat vielleicht ein paar Minuten geschlafen, mehr aber auch nicht.
"Ich bleibe hier bei dir im Zirkus. Wenn er das nächste Mal verschwinden soll. Ich habe den ungefähren Tag ausgerechnet. Er sollte in ein paar Tagen verschwinden. Dann werde ich hier sein und wir sehen, was passieren wird."
"Nein"
"Warum nicht?"
"Weil du mit verschwinden könntest"
"Na und? Es würde niemanden interessieren. Das ist das schlimmste, was passieren kann. Oder ich bleibe hier sitzen, wenn das Zelt verschwindet"
"Ich werde es dir nicht ausreden können, oder?" , fragt er. Sie schüttelt grinsend den Kopf. Es würde keinen Sinn machen, es ihr ausreden zu wollen. Alanas Entscheidung ist gefallen. Sie würde alle Möglichkeiten ausprobieren, um irgendwie bei ihrem Freund sein zu können. Ihre Eltern würden sagen, dass es bloß eine dumme Jugendliebe ist und man sich sowieso wieder trenne würde. Sie solle nicht ihr ganzes Leben kaputt machen. Alana aber weiß, dass es Seelenverwandtschaft ist und die beiden ihr Leben lang zusammen bleiben werden. Manche Menschen kommen in ihrer Jugend zusammen und bleiben das auch ein ganzes Leben lang.
*
Ein paar Tage später ist es so weit. Heute ist der Tag, an dem der Zirkus nach ihren Rechnungen verschwinden sollte. Es ist der zehnte Tag und sie kann nicht wissen, ob der Zirkus verschwindet oder ob sie ein paar Wochen warten müssen. An diesem Tag ist es das erste Mal, dass sie hofft, dass er verschwindet. Sie will mitgehen. Sie denkt, sie hat einen Weg gefunden. Zum Glück ist heute Wochenende. Somit muss sie sich nicht krank melden oder frei nehmen. Sie hat inzwischen schon viel zu viele Tage gefehlt, doch es interessiert niemanden, denn ihre Eltern kümmern sich nicht. Sie ist volljährig, wieso sollte sich also jemand um sie sorgen?
Alana hatte an diesem Freitag bei Mandrik geschlafen, falls der Zirkus über Nacht verschwinden sollte. Nun sitzen sie alle gemeinsam im Zirkuszelt und warten darauf, dass irgendetwas passiert. Sie wissen nun Bescheid über das Zeitlimit, was Alana ausgerechnet hat. Sie alle haben immer noch kein Zeitgefühl, weshalb sie von den zehn , die es auf sich hat, noch nie etwas mitbekommen haben. Mit einem Mal löst einer der Geister ein Streifen des Zirkuszeltes, an dem es festgemacht wurden ist. Alana sitzt auf einmal mitten auf der Wiese, auf dem eben noch der Zirkus stand. Der Zirkus ist weg und sie sitzt ganz alleine auf der großen Wiese. Sie überfällt ein unglaubliches melancholisches Gefühl. Sie hatte keine verdammte Lösung gefunden. Sie würde immer in Rumor bleiben, während Mandrik um die Welt reist und sie nicht weiß, wann er wieder kommt. In ihr steigen die Tränen hoch, die sie nicht rauslassen weil, weil sie Angst hat, der Botin noch einmal zu begegnen.
Als sie die Tränen versucht runterzuschlucken und die Augen schließlich wieder öffnet, ist genau dies geschehen. Die Botin steht grinsend vor ihr.
"Es gibt keinen anderen Weg" , sagt sie und ist in der nächsten Sekunde schon wieder verschwunden. Alana hat gerade keinen Kopf, sich über das Gesagte Gedanken zu machen. Sie ist einfach froh, dass die Botin wieder verschwunden ist. Alana bleibt noch eine gefühlte Ewigkeit auf dem Rasen sitzen, bis sie sich zusammen reißen kann und nach Hause geht. Ihre Welt ist schon wieder regnerisch und grau geworden. Alana ist fest entschlossen, herauszufinden, was es mit dem Zirkus auf sich hat und ob man dies aufhalten kann. Sie will noch einmal mit dem Bibliotheksgeist sprechen, aber sie ist verschwunden und taucht in den nächsten Tagen auch nicht mehr auf.
Der Botengeist taucht hingegen immer wieder für kurze Sekunden auf und spuckt Alana Informationen vor die Füße.
"Du kannst den Zirkus nicht aufhalten" , ist die erste Information, die sie bekommt. Alana ist sich nicht sicher, ob die Botin die Wahrheit sagt, denn sie hat das Gefühl, dass sie Alana in den Tod treiben will. Sie ist ganz anders, als der historische Geist. Die Frau war nett und hilfsbereit. Die Botin ist gehässig und hilft ihr nicht richtig weiter. Sie gibt ihr schon Informationen, aber Alana hat das Gefühl, dass all diese Informationen nur am Ende, wenn sie alles davon hat, zu einem großen Puzzle zusammen gefügt werden können. Die Botin spannt Alana auf die Folter, denn sie hatte noch nicht alle Informationen und konnte sie nur von der Botin bekommen. Alles, was sie alleine herausfinden konnte, hat sie schon herausgefunden, hat sie das Gefühl. Nun ist sie von der Hilfe der Geister angewiesen und sie weiß nicht, ob diese ihr helfen würden. Immerhin war sie ein kleiner, kläglicher Mensch. Dem Freund von Gree hatte man auch nicht geholfen, weshalb sollte man es also bei ihr tun? Sie hatte immer dringender das Bedürfnis, noch einmal mit ihm zu sprechen und schließlich ist sie so verzweifelt, dass sie tatsächlich seine Nummer wählt. Die beiden treffen sich in einem Cafe in Rumor und setzen sich in die hinterste Ecke. Alana will ihn eigentlich nicht belasten, aber sie musste so schnell wie möglich weiterkommen. Sie wollte bis zu ihrem Geburtstag in ein paar Tagen wissen, was Sache ist.
"Hattest du je Kontakt zu anderen Geistern, als zu Gree?" , fragt Alana gerade heraus. Die beiden flüstern, damit die anderen Gäste sie nicht hören können.
"Zu einem Geist und der war schrecklich. Danach hatte ich keine Lust mehr, je wieder einem zu begegnen" , erwidert der alte Mann.
"Was für ein Geist?" , fragt sie.
"Eine Botin" , spuckt der Mann das Wort geradezu heraus.
"Ich habe auch Kontakt zu einer Botin. Sind die immer so gehässig oder ist es vielleicht sogar die gleiche?" , fragt sie. Im gleichen Moment ist sie sich eigentlich sicher, dass es nicht die gleiche sein kann, denn sie meinte, dass sie gerade erst gestorben sei. Es kann aber auch sein, dass sie Alana eiskalt ins Gesicht gelogen hat. Das würde Alana dem Geist sogar zutrauen.
"Magst du mir beschreiben, wie sie ausgesehen hat?" , fragt sie und der ältere Mann beschreibt die Botin, die Alana auch gesehen hat. Es ist also tatsächlich die gleiche, wie damals bei ihm. Ihn hat sie nicht in den Tod getrieben und Alana ist sich sicher, dass es den Geist fuchsteufelswild machen würde.
"Hat der Geist dir Informationen gegeben, wie du bei Gree sein kannst?" , fragt sie den Mann.
"Schon, aber sie hat nie mit der ganzen Wahrheit rausgerückt, bis ich aufgegeben habe, weil ich zu alt geworden bin. Dann habe ich mein ganz normales Leben weitergeführt. Ich hatte einen tollen Job. Außerdem hatte ich zu der Zeit schon Kinder und wollte ihnen meinen Suizid nicht antun. Deshalb bin ich heute, wo ich heute bin" , sagt er und zeigt auf sich.
"Hast du es jemals bereut?" , fragt sie.
"Dass ich keinen Weg gefunden habe, bei Gree zu bleiben?" , fragt er. Alana nickt.
"Schon, ein bisschen. Wenn ich früher einen Weg gefunden hätte. Wenn ich sechzehn gewesen wäre, dann wäre ich sicherlich bei ihr geblieben. Aber mein Leben ist besser geworden und inzwischen bin ich auch zufrieden mit meinem heutigen Leben. Manchmal bin ich melancholisch und vermisse Gree und die Zeit, die wir zusammen hatten, aber ich mag auch mein heutiges, langes Leben. Ich erinnere mich einfach gerne an die Zeit und erzähle meinen Enkelkindern Geschichten über die Zeit. Wenn ich mir damals das Leben genommen hätte, dann gäbe es viele Personen nun nicht, die jetzt auf der Welt sind und anderen Menschen das Leben versüßen" , lächelt der Mann.
"Der Geist ist ein Arschloch. Er quält uns absichtlich"
"Ich bin sicher, dass du einen Weg findest, um glücklich zu sein", verabschiedet sich der Mann nach einem langen Gespräch. "Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du noch fragen hast", sagt er und ist kurz darauf verschwunden. Alana ist sich sicher, dass er hofft, dass sie ihr Glück in diesem Leben findet und Mandrik vergessen kann oder zumindest nur in Erinnerung bewahren kann.
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