24
"Weißt du, was für eine Krebsart du hattest?" , fragt er. Sie schüttelt den Kopf. Das hatten ihre Eltern ihr nicht erzählt.
"Du hattest Leberkrebs", flüstert er. "Ich habe dir meine Leber gespendet, als ich gestorben bin" Er kann sich langsam Stück für Stück erinnern. Zumindest an die kurze Zeit vor seinem Tod. Die anderen zwanzig Jahre seines Lebens als Mensch sind weiterhin verschwunden.
"Ich habe deine Leber?" , fragt sie. "Wie kann das sein? Du warst doch achtzehn Jahre älter, als ich"
"Oft spenden Eltern ihren Kindern eine Leber, weil man diese zerkleinern kann. Sie haben Teile meiner gesunden Leber dir transplantiert, weil ich es gerne so wollte. Ich wusste, dass ich sowieso sterben würde. Und ich wollte noch etwas gutes tun. Ich brauchte meine Leber sowieso nicht mehr, weshalb nicht an Kinder spenden, die sie brauchen? Meine anderen Organe, die ebenfalls gesund waren, habe ich anderen Menschen gespendet. Deine Eltern waren einverstanden."
"Ich schätze, dass ist die Verbindung, die wir zueinander haben. Du hast mir beim Sterben zugesehen, was schon einmal ein Pluspunkt ist, um mich als Geist wiederzusehen und ein Teil von mir lebt in dir weiter. Das macht das ganze noch einfacher. Ich schätze, dass wir deshalb miteinander reden können und du mich sehen kannst. Ich verstehe aber nicht, weshalb wir uns nicht berühren können. Das macht eigentlich kein Sinn"
"Vielleicht liegt es an der Geisterart, der du angehörst" , sagt sie schulterzuckend.
"Aber dann bist du an einem natürlichen Tod gestorben" , stellt Alana fest. "Was gibt es dann für eine Verbindung zwischen euch? Bei allen anderen hat die Verbindung gepasst" , gibt sie niedergeschlagen zu.
"Ich weiß es nicht" , erwidert er. Die beiden sind einen Schritt vorangekommen und trotzdem fühlt es sich an, als wenn sie immer einen Schritt vorwärts kommen und drei Schritte zurück machen.
"Wir müssen noch einmal in die Bibliothek. Vielleicht kann der Geist uns helfen" , schlägt Alana vor und die beiden fahren gemeinsam in die Bücherei. Sie wollen herausfinden, was die anderen Artisten für Geister sind. Vielleicht gibt es darüber eine Verbindung zwischen ihnen, wenn es nicht die Todesart ist. Als sie in der Bibliothek angekommen sind, setzten sie sich an den Computer, weil sie die Frau nirgendwo sehen. Sie scheint nicht da zu sein.
"Wo ist sie hin?" , fragt Mandrik.
"Meistens taucht sie einfach auf, wenn man eine Weile hier ist" , erklärt Alana. Das letzte Mal ist die Frau immerhin auch einfach aus dem Nichts aufgetaucht, als sie über Geister recherchiert hat. Vielleicht musste man auch nur über Geister nachdenken, reden oder etwas über sie erfahren wollen, damit die Frau auftaucht, spinnt sich Alana in ihrem Kopf zusammen. Als die beiden eine Weile miteinander geredet haben, in der hintersten Ecke, wie die Geisterfrau und Alana das letzte Mal auch, taucht sie tatsächlich aus dem Nichts auf.
"Schön, dass ihr wieder hergefunden habt" , lächelt sie den beiden entgegen. Alana hat noch genau neun Fragen auf ihrem Zettel, die sie noch nicht beantworten kann. Alana schießt sofort mit ihrer ersten Frage heraus.
"Was sind die anderen Geister aus dem Zirkus?" , fragt sie.
"Vick ist ein Restspukgeist" , entgegnet die Frau.
"Wir wussten es" , lächeln die beiden sich an. Bei den anderen waren sie bisher aber noch nicht weitergekommen. Ein paar von euch sind Poltergeister, aber sie haben ihren Job vor langer Zeit aufgegeben.", entgegnet die Geisterfrau.
"Zazie und Rüya?" , fragt Alana.
"Genau" , antwortet sie. "Aber wieso haben sie ihren Job abgelegt?" , fragt Alana.
"Sie haben in dem Business im Zirkus einfach mehr Spaß gehabt"
"Heißt das, man sucht sich seinen Job als Geist aus?" , fragt Alana. "Kann Mandrik ein historischer Geist werden, wenn er es will?" , fragt sie mit großen Augen.
"Nein, dass kann er nicht. Aber man kann seinen Job aufgeben, wenn man das möchte und einen anderen wählen. Dies ist aber nur bei bestimmten Geisterarten so. Vor allem bei Poltergeistern, weil sie ihre Arbeit irgendwann satt haben. Zumindest einige von ihnen. Trotzdem sind sie noch Poltergeister. Sie sind nur einfach in den Ruhestand gegangen und führen ein angenehmes Leben, wenn man das so nennen kann. Wie ihr Menschen, wenn ihr in Rente geht"
"Cato und Enytha sind auch mentale Abdruckmanifestationen, wie Vick. Die anderen sind eigentlich ganz normale Geister, wie Mandrik" , erklärt die Frau.
"Und was ist jetzt die Verbindung zwischen den allen?" , fragt Alana. Sie hat es immer noch nicht verstanden.
"Da wart ihr schon auf dem richtigen Weg. Es ist die Todesart gewesen, denn bei Mandrik ist der Krebs nicht einfach so entstanden. Es wurde bei ihm extra ausgelöst" , erklärt sie. "Es ist so gesehen keine natürliche Todesursache, sondern ausgelöster Tod. So gesehen ist es langsam herbeigeführter Mord" , erklärt sie. Mandrik schaut sie geschockt an. Das hatte er nicht gewusst. Hatten seine Eltern ihn bewusst krank gemacht? Er hatte schon einmal vom Münchhausender-Syndrom gehört, aber kann man seine Kinder dabei umbringen? Kann es so weit gehen?
"Okay. Also, all die Geister im Zirkus sind eines unnatürlichen Todes gestorben. Aber das sind ja nicht die einzigen Menschen, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind. Wo sind die anderen? Etwa in anderen Zirkussen?" , fragt Alana und fühlt sich ein bisschen lächerlich, diese Frage zu stellen.
"Ja" , erzählt die Frau. "Die Menschen aus dem Zirkus haben alle in Rumor gelebt und sind auch hier gestorben. Eines unnatürlichen Todes. Deshalb sind sie alle in diesem Zirkus gefangen" , erwidert sie.
"Woher weißt du das alles?" , fragt Alana.
"Ich bin ein historischer Geist aus Rumor. Ich weiß so einiges, Schätzchen" , sagt die Frau lächelnd.
"Okay, vielleicht kannst du mir noch mehr Fragen beantworten" , denkt Alana laut nach.
"Weißt du, warum der Zirkus immer wieder verschwindet und so plötzlich wieder auftaucht? Müsste man nicht in Rumor bleiben, wenn man im Rumor gestorben ist? Wo geht der Zirkus hin?" , fragt sie.
"Das kann ich dir nicht sagen und deine anderen Fragen kann ich ebenso nicht beantworten. Ich habe keine Zeit mehr" , sagt sie und verschwindet wieder von der einen auf die andere Sekunde. Sieben Fragen bleiben übrig. Sieben Fragen, die es noch zu beantworten gibt, aber die Geisterfrau würde ihnen nicht mehr helfen. Mandrik weiß, dass sie eigentlich schon viel zu viel beantwortet hat. Sie wusste bloß, dass Alana besonders ist, weil sie ihn dabei hatte. Sie fragt sich, ob es irgendwie doch eine Möglichkeit gibt, ihn zu berühren, ohne selbst zu sterben. Früher haben die beiden sich schließlich auch berührt. Alana bekommt in der nächsten Zeit immer mehr Flashbacks aus der Zeit im Krankenhaus und kann sich an den Prozess erinnern. Sie wäre fast gestorben, wenn sie seine Leber nicht bekommen hätte. Sie kann es nicht glauben, dass sie mit einem fremden Organ lebt und bis vor ein paar Stunden nichts davon wusste. Mit Mandriks Organ. Sie kann es nicht glauben, dass ihre Eltern sie jahrelang in Unwissenheit gelassen haben. Mandrik kann sich auch an sie erinnern, was wohl eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sein soll, wenn sie die Geisterfrau richtig verstanden hat. Sie würde weiter suchen, bis die beiden alle Wahrheiten erfahren haben. Anfang letzten Jahres hätte sie niemals geglaubt, überhaupt in eine solche Geschichte verwickelt zu werden. Die beiden machen sich erst einmal wieder auf den Weg in den Zirkus, um ihren restlichen Abend ohne Recherche zu verbringen. Schließlich müssen sie erst einmal die Ereignisse und vor allem die Erkenntnis der letzten und des heutigen Tages verarbeiten.
"Kannst du mir eigentlich einen anderen Pullover geben und diesen hier wieder nehmen?" , fragt sie. Sie hatte ihn inzwischen gewaschen und er riecht nicht mehr nach Mandrik, sondern eher nach ihr. Die beiden tauschen jeweils die beiden Pullover. Mandrik beginnt zu lächeln.
"Er riecht nach dir" , sagt er lächelnd. Sie greift ihren Pullover, den sie nun anhat und hält ihn sich an die Nase. Dieser riecht nun endlich wieder nach Mandrik. Die beiden fahren gemeinsam mit dem Fahrrad zum Zirkuszelt und verbringen dort den restlichen Tag in der Sonne, in der sie niemand sieht. Sie reden die ganze Zeit miteinander über Gott und die Welt.
"Kann ich heute Abend hier schlafen? Ich will nicht nach Hause" , gibt Alana nach einer Weile zu. Sie hatte keine Lust, ihren Eltern unter die Augen zu treten, die sie jahrelang angelogen haben und es weiterhin tun würden, wenn sie nichts gesagt hätte.
"Wie willst du das deinen Eltern erklären?" , fragt er.
"Ich sage einfach, dass ich bei Emma übernachte"
"Du willst sie anlügen?" , fragt er.
"Sie haben das achtzehn Jahre mit mir abgezogen. Da werde ich wohl eine Lüge einbauen dürfen" , sagt sie.
"Gibt sie dir den ein Alibi?" , fragt er.
"Bestimmt"
"Und was ist, wenn er Zirkus einfach verschwindet?" , fragt er. Immerhin ist es letztes Mal auch einfach passiert, als die beiden beisammen waren.
"Dann verschwinde ich eben mit. Niemand wird mich vermissen" , erklärt sie. Ihre Eltern interessieren sich einen scheiß Dreck. Sie kann sich kaum vorstellen, dass sie es bemerken würden, wenn sie weg wäre. Sie sind ja sowieso nie da. Emma hat sowieso auch andere Sachen im Kopf und die beiden sehen sich kaum noch. Sie würde es also auch nicht bemerken.
"Das stimmt nicht" , erwidert er. "Außerdem haben wir doch herausgefunden, dass es im zehn Stunden, zehn Tage, zehn Wochen, zehn Monate Abstand passiert. Es sind noch keine zehn Tage angebrochen. Wir werden heute Nacht nicht verschwinden" , bemerkt sie.
"Okay, dann kannst du hierbleiben" , sagt er. Die beiden sind immer nur bei Alana geblieben. Jetzt freut er sich, dass er sie in sein Leben interagieren kann. Die beiden gehen zu den anderen, die fleißig am proben sind, um heute Nacht wieder aufzutreten. Die beiden kommen herein und überall sind die Artisten, die üben. Alana liebt das Gefühl schon wieder und setzt sich in die Reihen, um ihnen zuzuschauen. Es ist noch einmal ein ganz anderes Gefühl, den Artisten beim Proben zuzusehen, als wenn sie in der Vorstellung aufführen. Sie kann sich nicht entscheiden, was besser ist. Sie liebt das Gefühl von Zirkus und den Vorstellungen. Aber sie liebt auch das Leben im Zirkus und nun fühlt es sich so an, als wenn sie dazugehören würde. Nachdem die Proben zu Ende sind, zerstreuen sich die Artisten in ihre Wohnwagen, weil es langsam Abend wird. Sie brauchen noch ein wenig Ruhe, bevor um Mitternacht die Vorstellung beginnt. Die beiden ziehen sich in seinen Wohnwagen zurück und reden die ganze Zeit miteinander, bis es nach einigen Stunden an der Wohnwagentür klopft. Die Vorstellung würde in ein paar Stunden beginnen und sie mussten noch Vorbereitungen treffen. Alana ist das erste Mal so richtig mit eingebunden und liebt es abgöttisch. Nach einer Stunde beginnt der Ticketverkauf und Mandrik und sie sitzen im Tickethäuschen, um die Tickets zu verkaufen. Sie berühren sich an dem Oberkörper, ohne es zu bemerken. Alana sieht keine bekannten Gesichter. Sie fragt sich, wie es wäre, wenn jemand sie erkennen würde. Ob sie dann jemand erkennen würde oder ob die Leute es vergessen würden, dass sie mitgeholfen hat, wenn der Zirkus verschwindet. Sie will kein Risiko eingehen und lässt Mandrik nach einigen Minuten doch alleine, denn Rumor ist klein und es werden bestimmt Gäste kommen, die Alana kennen. Sie will den Geistern keinen Ärger einbrocken. Sie verschwindet im Artisteneingang und hält sich eher im Hintergrund auf. Nachdem die ganzen Menschen im Publikum sitzen, ist Alana aufgeregt. Sie hatte eine Wette mit Mandrik abgeschlossen und musste auftreten, wenn sie verlieren würde. Sie hatte die Wette verloren und heute wäre der Abend, an dem sie in die Manege muss, weshalb ihr Herz doppelt so schnell schlägt, wie sonst.
"Na, aufgeregt?" , fragt Mandrik sie grinsend.
"Wie hältst du das nur jeden Abend aus?" , fragt sie.
"Gewöhnung. Und ich habe kein Herz" , sagt er grinsend. Er scheint ihr Herz pochen zu hören.
"Du bist gleich als erstes dran" , sagt er.
"Bist du sicher? Ich platze gleich vor Aufregung. Ich kann da nicht rausgehen" , sagt sie zitternd.
"Du schaffst das"
"Werden die Leute sich nicht an mich erinnern? Mich kennen sie immerhin. Ich bin kein Geist"
"Nein, werden sie nicht. Bist du deshalb vorhin gegangen?" , fragt er. "Sie werden dich vergessen, sobald der Zirkus wieder verschwunden ist"
"Sie werden mich aber nicht komplett vergessen, oder? Nur, dass ich hier im Zirkus aufgetreten bin, weil sie alles vergessen, was damit zutun hat?" , fragt sie panisch.
"Sie werden deine Existenz nicht vergessen" , sagt Mandrik. Er findet es süß, dass sie das denkt. Grees Freund ist damals auch im Zirkus aufgetreten und niemand hat sich an ihn erinnert. Mandrik selbst kann sich zwar nicht mehr daran erinnern, aber Gree hat es ihm erzählt.
"Nun, meine Damen und Herren" , hört Alana es nun aus der Manege und hat das Gefühl, dass ihr Herz gleich aus ihrer Brust springt, so aufgeregt ist sie. Dann ist es soweit. Sie wird angekündigt und muss auf die Bühne. Sie sieht die Menschen aus dem Publikum aber kaum, weil die Lichter sie so blenden. Darüber ist sie unheimlich froh. Sie versucht sich vorzustellen, dass sie alleine mit Mandrik trainiert. Sie hat inzwischen mit fünf Bällen jonglieren gelernt und zeigt ihre Künste. Sie beginnt mit drei Tüchern, steigert sich auf drei Bälle und dann nimmt sie jeweils einen dazu, bis sie mit fünf kleinen Bällen jongliert. Anschließend nimmt sie noch die Keulen. Die Leute jubeln. Im Zirkusfreiwilligenjahr hat sie so einiges gelernt. Ein Glück, denn sonst wäre sie nun aufgeschmissen. Nachdem sie die Einlage beendet hat, kommt Mandrik zu ihr auf die Bühne und die beiden werfen die Keulen hin und her. Das haben sie ein paar Mal geübt, aber sie ist erstaunt, wie gut es klappt. Sie hat immer noch seinen Pullover an, aber ihr wird unheimlich heiß darin. Nachdem sie die Nummer beendet haben, gehen sie gemeinsam aus der Manege und sie zieht den Pullover aus. Die beiden machen es sich gemütlich, bis Mandrik das nächste Mal dran ist. Heute bauen die anderen die anderen Nummern alleine auf. Die beiden wollen einfach ihre gemeinsame Zeit miteinander genießen.
"Das hast du gut gemacht. Unheimlich gut. Ich hätte nicht gedacht, dass du es so drauf hast" , scherzt ihr Freund. "Die anderen meinen auch, dass du es gut gemacht hast" , grinst er.
"Ich habe so einiges gelernt, bei meinem Zirkus FSJ" , grinst sie ihn an und die beiden sind in diesem Moment einfach glücklich, beieinander zu sein und die gemeinsame Zeit genießen zu können. Nachdem die beiden die Vorstellung zu Ende gebracht haben und alle Menschen fröhlich in ihre Häuser zurück kehren, müssen die Artisten noch aufräumen. Mandrik und Alana helfen dabei, bevor sie in Mandriks Wohnwagen hineingehen und sich in das große Bett legen, um nebeneinander einzuschlafen.
"Hast du deinen Eltern schon Bescheid gegeben?" , fragt er nach einer Weile, in der Alana schon fast eingeschlafen ist.
"Nein" , murmelt sie.
"Mach das bitte. Sonst suchen sie dich überall. Und sie werden dich nicht finden"
"Okay" , sagt sie, sucht ihr Handy und schreibt ihren Eltern eine Nachricht, dass sie bei Emma schläft. Kurz darauf schreibt sie Emma eine Nachricht, dass sie ein Alibi braucht und ihren Eltern dies verklickert hat. Emma antwortet nicht, immerhin ist es mitten in der Nacht, aber ihre Eltern schicken nach ein paar Minuten einen Daumen hoch zurück. Wahrscheinlich, weil sie gerade erst nach Hause gekommen sind.
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