15

Das nächste Mal, als die beiden sich sehen, ist Mandrik wieder wie die Male zuvor. Er scheint die Zeichnungen vergessen zu haben, die er das letzte Mal so unangemessen fand. Die beiden versuchen all die Zeit, die sie zusammen haben, zu genießen und unternehmen eine Menge Dinge zusammen. Tagsüber muss Alana arbeiten, aber an den Wochenenden nimmt sie sich die Tage für Mandrik frei, denn er musste immer nur ab Mitternacht arbeiten. Er kann die Proben sausen lassen. Das hat Gree früher auch so gemacht, als sie verliebt gewesen ist. Die anderen nehmen es ihm nicht übel, denn sie können die Tricks im Schlaf. Sollte doch Mal einer schief gehen wusste es am Tag darauf aber auch keiner mehr. Eigentlich proben die Geister tagsüber bloß, weil sie sonst nichts mit ihrem Tod anzufangen wissen.

Es ist Freitag und Alana hat früher Schluss, als die anderen Tage der Woche. Sie hat sich für sich und Mandrik etwas ganz besonderes ausgedacht. Sie fährt von der Arbeit mit dem Fahrrad zum Zirkus und die Haare wehen im Wind. Sie hat Kopfhörer in den Ohren und hört "I kissed a girl" Circus " von Katy Perry. Es ist im April dieses Jahres herausgekommen und seitdem spielt Alana es auf Dauerschleife. Sie singt grinsend mit. Als sie endlich beim Zirkus ankommt ist sie aus der Puste vom Singen und in die Pedale treten und begrüßt ihren Freund lachend.

"Hey, wie siehst du denn aus?" , fragt er grinsend.

"Ich hab eine Sturmfrisur, oder"?, fragt sie und hält sich die Hände schüchtern vors Gesicht. Er kann sie ihr nicht aus dem Gesicht nehmen, denn er würde durch sie hindurch fassen. Er musste sie mit Worten dazu bringen, ihn wieder anzusehen.

"Du siehst süß aus" , sagt er. Am liebsten würde er ihr nun die Haare aus dem Gesicht streichen, doch dies wird niemals möglich sein, denn Alana lebt und er ist tot. Diese Erkenntnis quält ihn jede Nacht, seitdem er sie kennengelernt hat.

"Ich hab uns heute was ganz besonderes zusammen gestellt. Das ist schließlich sowas wie unser erstes Date" , sagt sie. Er schaut sie mit großen, fragenden Augen an.

"Lass dich überraschen" , sagt sie und er setzt sich auf den Gepäckträger von ihrem Fahrrad, damit sie Unternehmungen machen können. Mandrik schwebt ein kleines Stück über dem Gepäckträger, sodass er diesen mit keinem Zentimeter seines Körpers berührt. Er würde hindurchschweben. Er ruft noch etwas ins Zirkuszelt hinein, bevor die beiden sich davon entfernen. Von außen hin sieht es aus, als wenn Alana alleine auf dem Fahrrad sitzen würde und mit der Luft reden würde, denn sie ist die einzige, die ihn sehen kann. Er kann sich auf den Gepäckträger setzen, weil Geister die Gabe haben, ein kleines Stück über den Gegenständen zu schweben. Er könnte das Fahrrad nicht fahren, weil er den Lenker dazu in die Hände nehmen müsste.

"Du willst mit mir auf den Dom?" , fragt er. Sie nickt grinsend.

"Ich gehe aber nicht auf die Achterbahn. Dann kotze ich"

"Können Geister kotzen?" , fragt sie lachend und läuft auf die erste Achterbahn zu. Er lässt sich schließlich doch überreden und sitzt zwei Minuten später in der erstbesten Achterbahn. Er läuft hinterher, weil es ihr erstes Date ist und er sie glücklich machen will. Er will all das und noch mehr mit ihr erleben und ihr all das geben, was er ihr geben kann. Deshalb lässt er sich darauf ein, auch wenn ihm in Achterbahnen früher immer schlecht geworden ist. Nun hat sie sich auch noch eine mit Looping ausgesucht und ihm wird schon beim anschauen schlecht, doch er würde alles für Alana tun. Als die beiden aus der Achterbahn herauskommen dreht sich Mandriks Magen gegen den Uhrzeigersinn, doch er kann tatsächlich nicht kotzen, denn er muss schließlich auch nichts essen. Was sollte da also herauskommen? Alana lacht sich über ihn schlapp, weil er sich den Magen hält und gebeugt vor ihr steht.

"Machst du dich über mich lustig?" , fragt er. Ihm ist immer noch schlecht.

"Ein bisschen" , grinst sie. Von außen muss sie irre aussehen, denn sie lacht sich schlapp. Alleine. Die beiden fahren noch Wasserbahn, was früher einer Mandriks Lieblingsgeräte auf Jahrmärkten war. Es macht kein Sinn, dass er die so liebte und Achterbahnen verachtete, aber es war eben so. Es gab manche Dinge im Leben, die man einfach nicht erklären konnte. Die beiden fahren Riesenrad und auch in diesem Moment würden die beiden alles dafür gegeben, sich zu berühren, doch sie greifen durch sich hindurch. Sie sitzen im Riesenrad nebeneinander und schauen über Rumor. Sie sehen alles. Sie können den Zirkus sehen, Alanas Haus, ihre alte Schule und den Supermarkt. Sie versucht, Mandriks Hand zu greifen. Es würde ihr auch reichen, diese einfach nur zu streichen, doch sie greift wieder hindurch. Wie jedes Mal. Es wird sich nicht ändern, nur weil sie es sich wünscht. Doch sie wird es immer und immer wieder versuchen. Nachdem die beiden fast den ganzen Abend auf dem Dom verbracht haben und Alana nichts gegessen hat, ermahnt Mandrik sie das erste Mal.

"Du musst endlich etwas essen" , sagt er aufgebracht, als sie an einem weiteren Essenstand vorbeigehen. "Ich sehe doch, wie dir das Wasser im Mund zusammenläuft, Alana"

"Aber du kannst nichts essen. Ich finde es unfair, wenn ich mir jetzt den leckeren Kram reinziehe"

"Es ist okay. Ich kann das ab. Wenn du willst, kann ich für die Zeit auch gehen, aber für mich ist es wirklich in Ordnung, wenn du etwas isst. Du musst etwas essen. Alana, ich mache mir Sorgen um dich. Du hast seit heute Mittag nichts mehr gegessen und es ist schon wirklich spät"

"Okay. Okay, ich esse ja was." , sagt sie und stellt sich an einem Maisstand an. "Aber muss es nicht scheiße sein, all diese leckeren Dinge zu riechen und nichts essen zu können?" , fragt sie.

"Wir können schon etwas essen. Aber wir tun es äußerst selten, weil die Schmerzen danach unerträglich sind" , gibt er zu.

"Woher weißt du das?"

"Weil ich das Essen ganz am Anfang ziemlich vermisst habe und öfter Mal gegen die ungeschriebene Regel verstoßen habe. Da musste ich dann mit ziemlichen Bauchkrämpfen zurecht kommen. Also lassen wir es lieber, weil wir es sowieso nicht benötigen" , gibt er zu.

"Tut mir Leid. Wenn ich ein Geist wäre, würde ich das Essen glaube ich am meisten vermissen" , sagt sie. Der junge Mann an dem Maisstand bittet sie nun darum, was sie haben möchte. Sie hat gar nicht bemerkt, dass sie inzwischen dran ist und unterhält sich immer noch mit Mandrik.

"Entschuldigung, was möchtest du haben?" , fragt er jetzt noch einmal lauter und schaut Alana entgeistert an.

"Mit wem redest du?" , fragt er.

"Ach, niemandem." , sagt sie. "Einen Maiskolben mit Salz bitte" , sagt sie. Sie liebt diese Maiskolben auf dem Dom. Die schmecken abgöttisch gut und dies ist eine Sache, die sie als Geist sicherlich vermissen würde. Doch um mit Mandrik zusammen zu sein, würde sie auch darauf verzichten können. Er steht immer noch neben ihr und sie fühlt sich unwohl, als sie beginnt zu essen.

"Tut mir leid" , nuschelt sie zwischen zwei Bissen.

"Es ist okay" , sagt er lächelnd und es sieht so aus, als wenn er sich Entschuldigen würde. Danach holt sie sich noch etwas zu Essen, bis sie satt geworden ist.

"Bist du satt?" , fragt er.

"Pappsatt"

"Wirklich?"

"Ja, wirklich"

"Sorry, ich habe seitdem einfach kein Gefühl mehr dafür, was Menschen essen"

In diesem Moment fragt sie sich, wie lange Mandrik schon tot ist. Es könnten zehn, zwanzig oder auch nur fünf Jahre sein, aber eben auch nur ein Jahr. Immerhin haben die Geister kein Zeitgefühl.

"Ich hab das Gefühl, dass ich für kaum noch was das Gefühl habe"

"Aber.." , beginnt sie.

"Fühlst du etwas?" , fragt sie unsicher.

"Wobei?"

"Fühlst du etwas bei mir?" , fragt sie und kann ihn nicht anschauen, als sie ihn das fragt. Am liebsten würde er ihr Gesicht in seine Hände nehmen, ihr tief in die Augen sehen und sie küssen.

"Scheiße" , flucht er.

"Was?" , fragt sie geschockt und schaut ihn jetzt doch an.

"Alana, ich fühle bei dir viel zu viel, als dass ich es beschreiben kann. Und ich würde dich in diesem Moment so gerne küssen, aber es geht verdammt nochmal einfach nicht. Das macht mich irre"

"Ich habe das Gefühl, du und die Gefühle, die ich für dich habe, sind das einzige, was ich fühlen kann. Und die Schmerzen, wenn ich etwas gegessen habe" , fügt er grinsend hinzu.

"Es ist unfair" , stellt Alana fest.

"Was ist unfair?" , fragt er.

"Warum ist Gree tot, aber nicht richtig tot? Warum bin ich nicht an ihrer Stelle und sie wirklich tot? Sie wollte es doch so und nun steckt sie fest.. Warum bin ich hier und du dort? Warum kann ich nicht an einer der Stelle der Artisten sein? Warum kannst du nicht an der Stelle eines anderen Menschen sein, der lebt?" , fragt sie.

"Weil ich tot bin" , ist die einzige Antwort, die er auf ihre gestellten Fragen gibt.

"Ich hasse es, dass du tot bist" , erklärt sie. Nun spricht sie ein älterer Mann an, der ihr Vater sein könnte.

"Ist alles okay?" , fragt er unsicher.

"Ja, warum?" , fragt sie.

"Weil du eben mit einem Toten gesprochen hast" , erwidert er zögernd.

"Können Sie ihn sehen?" , fragt sie mit großen Augen.

"Wen sehen?" , fragt er. "Soll ich Sie nach Hause bringen?" , fragt er, weil er sich ernsthaft Sorgen um ihren geistigen Zustand macht.

"Ist es ihnen noch nie passiert, dass sie einen Menschen gesehen haben, der gerade jemanden verloren hat und noch mit ihm spricht?" , fragt sie, nachdem sie die Gefahr der Situation erkennt.

"Entschuldigen Sie. Es war nur gut gemeint"

"Verpissen Sie sich!" , spuckt sie ihm entgegen.

"Alana!" , ermahnt Mandrik sie.

"Wir sollten woanders hingehen, wo nicht so viele Menschen sind" , erwidert sie. Sie hält den Mann, der schon fast wieder in der Menge verschwunden ist, noch einmal am Arm fest.

"Tut mir Leid, wie ich eben reagiert habe. Mein Freund ist vor ein paar Tagen gestorben und ich bin etwas empfindlich" , sucht sie eine sinnvolle Ausrede. Sie wollte nicht, dass der Mann sich wegen ihr schlecht fühlt und das nächste Mal wegen ihr einem anderen Menschen, der wirklich Hilfe benötigte, nicht half. Sie ist zu einem schlechten Menschen geworden und lügt ständig, seit Tote ihr Leben bestimmen.

"Das tut mir wirklich Leid" , sagt er.

"Es war gut, dass sie mir helfen wollten. Machen sie so weiter, auch wenn die Menschen, wie Arschlöcher reagieren" , erwidert sie lächelnd und verschwindet schließlich in der Menge der Menschen. Der Mann schaut ihr verblüfft nach.

Mandrik und sie gehen zu den Fahrradständern, an denen sie das Fahrrad von ihr geparkt haben und er setzt sich wieder auf den Gepäckträger.

"Kennst du einen schönen Ort, wo wir ungestört sind?" , fragt Mandrik.

"Du kennst noch gar nicht mein Zuhause. Meinem Freund würde ich mein Zuhause zeigen.." , sagt sie mit einer nachdenklichen Pause.

"Sind wir eigentlich zusammen?" , fragt sie unsicher. Immerhin würde man die beiden nicht als das Paar beschreiben. Sie gehörten noch nicht einmal der gleichen Spezies an.

"Ich würde dein Zimmer wirklich gerne sehen" , erklärt er. "Und ich würde dich sehr gerne meine Freundin nennen" , sagt er grinsend.

"Okay" , sagt sie grinsend. Alana fährt wieder, denn es würde seltsam aussehen, wenn das Fahrrad von alleine fahren würde und Alana nur hinten drauf sitzen würde, zumal das physisch für Mandrik auch nicht möglich ist. Die beiden kommen irgendwann bei Alana Zuhause an und die dreht den Schlüssel im Schloss.

"Warte" , flüstert Mandrik.

"Was?" , fragt sie, ebenfalls flüsternd.

"Sind deine Eltern Zuhause?"

"Darüber brauchst du dir ja wohl keine Gedanken machen" , sagt sie lachend.

"Sie würden dich hören, wie du mit der Luft redest. Ich habe Angst, dass sie sich Sorgen um dich machen" , flüstert er immer noch, obwohl Alana die einzige ist, die ihn hören kann.

"Wenn es dich beruhigt. Nein, sie sind nicht da. Sie sind fast nie da"

"Dann muss ich dich wohl öfter besuchen" , sagt er grinsend. Die beiden gehen in das Haus hinein und streifen sich die Schuhe ab.

"Kann nur ich deine Schuhe sehen?" , fragt sie.

"Nein. Ich kann sie auch sehen" , sagt er und streckt ihr die Zunge aus.

"Aber meine Eltern nicht?" , fragt sie. "Falls sie nach Hause kommen", fügt sie noch schnell hinzu.

"Nein, sie können sie nicht sehen"

"Aber sie kommen nicht so bald heim" , erklärt sie ihm, und er seufzt erleichtert.

Die beiden gehen auf eine Tür im ersten Stockwerk zu und Alana öffnet die Tür. Mandrik ist beeindruckt von all den Zeichnungen, die an den Wänden hängen. Er schaut sich eine Weile im Zimmer um, bis er wieder Alana anschaut.

"Du hast ein sehr schönes Zimmer" , sagt er und setzt sich neben sie aufs Bett.

"Danke" , sagt sie.

"Ich hab hier Kopfhörer. Willst du ein bisschen Musik hören?" , fragt sie.

"Du weißt doch, dass ich hindurch greifen würde" , sagt er.

"Kannst du sie dir auch nicht in die Ohren stecken? Also ich?" , fragt sie.

"Ich habe es ehrlich gesagt noch nie ausprobiert, aber du greifst auch immer durch mich hindurch. Ich kann es mir nicht vorstellen, um ehrlich zu sein" , antwortet er.

"Wir probieren es aus, wenn das okay ist" , erwidert sie.

"Okay" , flüstert er.

Sie greift vorsichtig nach den beiden Kopfhörern, die in ihrem Handy stecken. Sie greift nach einem der Bänder und streckt sie in Mandriks Richtung, doch es funktioniert nicht. Der Kopfhörer fällt durch seinen Kopf und bleibt liegen.

"Das hatte ich mir so romantisch vorgestellt" , sagt sie traurig.

"Wir können ganz leise Musik hören. Dann hat es den gleichen Effekt" , schlägt er vor. Sie steht auf, holt ihre Box vom Schreibtisch und legt sie neben sich auf die rechte Seite des großen Doppelbettes, in dem sie nebeneinander liegen. Sie sucht ihre Playlist aus dem Handy heraus und startet sie.

"Ich habe so lange keine Musik mehr gehört" , sagt er.

"Wirklich?" , fragt sie.

"Nur die aus dem Zirkus. Aber keine echte" , erwidert er.

"Sie ist wunderschön" , flüstert er nach einer Weile, nachdem sie eine Weile Musik gehört haben. Sie reden noch die ganze Nacht und irgendwann beginnt Mandrik zu weinen. Es ist weit nach Mitternacht. Die Vorstellung hat längst begonnen, doch heute mussten sie ohne ihn Leben. Er würde die ganze Nacht bei Alana bleiben. Einfach nur neben ihr liegen und ihr beim schlafen zusehen. Er würde die ganze Nacht neben ihr liegen bleiben. Die Musik ist eine Ironie des Schicksals. Es spielt Boys dont cry von The Cure aus Alanas Box. Besonders nachts hat Mandrik mit den Folgen seines Todes zu kämpfen. Er hasst es inzwischen.

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