30. November, 09:33 Uhr: Iris

Müde hob ich meinen Kopf von einem weiteren Bewerbungsschreiben, das ich zum x-ten Mal umformulierte.

Ich hatte diesen Monat schon so viele Versionen geschrieben, dass ich sie selbst nicht mehr glaubte!

Grrr!

Warum musste man einen Brief schreiben, wenn man etwas bei einem Verlag einreichte? Ich hoffte, dass derjenige, der sich diese Idee ausgedacht hatte, einen langsamen und äußerst schmerzhaften Tod sterben würde.

Ein Zug der Red Line in Richtung Süden donnerte an meinem fahrenden Zug vorbei — beide Züge mit voller Geschwindigkeit. Selbst wenn er drin säße, hätte er keine Zeit, um umzusteigen.

Herr Wuschelhase gehörte zu meiner Vergangenheit.

Für mich war das in Ordnung.

Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich nie erfahren würde, wie mein süßer Zugmann wohl war. Oder wie sich seine Stimme anhörte.

An dem Tag, an dem ich erfahren hatte, dass er eine Familie hatte, hatte ich mir nach meiner Erzählstunde einen Hotdog von einem Straßenhändler gekauft.

Ich hatte einen Blick auf mich selbst in dem verbeulten Metall des Imbisswagens erhascht.

Hey, Iris. Ich hatte mich gegrüßt. Du siehst gut aus, altes Mädchen. Und du wirst das hier überstehen. Sieh es von der positiven Seite! Es gibt immer eine Zugfahrt nach Hause.

Es wird jemand Neues für dich da sein.

Es ist nicht das Ende der Welt. Das ist es nie.

Vielleicht war er da gewesen, um mir zu zeigen, dass Jayden nicht der Einzige war, wie ich immer dachte.

Um mir zu zeigen, dass ich für andere Menschen attraktiv sein konnte. Dass es noch viele andere Fische im Meer gab.

Er hat Farben in dein Leben gebracht, hatte das Hündchen in mir gejammert. Farben sind alles für dich, in diesem farblosen Boston.

Aber Farben konnte man überall finden. Ich hob mein Kinn und warf meine Unicorn Frappuccino-Mähne zurück.

Man musste nur wissen, wo man nach ihnen suchen musste.

Und wer wäre besser geeignet, Farben in dieses Leben zu bringen, als ein Illustrator?

Ich hatte beschlossen, mich auf mein Projekt zu konzentrieren und den Familienmenschen zu vergessen.

Fairy Tails hatte jetzt einen neuen Protagonisten. Er würde nie so gut sein wie der, den ich ausradiert hatte. Aber er würde seine Aufgabe erfüllen.

Ich hatte natürlich die vier Giganten studiert, auf deren künstlerischen Schultern jeder stehen wollte.

Marvel, DC, Dark Horse, und Image Comics.

Image war meine erste Wahl. Sie nahmen keine Künstler unter Vertrag, wie es die anderen drei taten, die wie Dunkelelfen in den Minen für sie an ihren Unternehmensprojekten schufteten, ohne jemals die Sonne der eigenen Kreativität zu sehen.

Image Comics war nur an der Veröffentlichung von Originalinhalten interessiert.

Und mein Inhalt war sogar originell.

Ich hoffte so sehr, dass Image Comics das zu schätzen wissen würde.

Dies war der erste Schritt auf dieser Reise.

Mit einem letzten Blick auf die Zieladresse meines Anschreibens, [email protected], klickte ich auf Senden.

Das war's. Meine Bewerbung war unterwegs.

Viel Glück, Fairy Tails.

Mama liebt dich!

Nicht, dass du es nötig hättest: Du bist verdammt großartig.

Jetzt geh da rein, als würde dir der Laden gehören!

Los, los, los, los, los!

Wenn es klappen würde... Wenn sie zurückschreiben und nach Details fragen würden und wenn die Sache in Gang käme...

Könnte das das Ende des Comicbuchladens bedeuten.

Und dieser Laden war alles, was ich im Leben kannte.

Ich lehnte mich in meinem Sitz weit zurück, atmete tief durch und versuchte, mich zu entspannen.

Ein pickeliges Teenagerpärchen, das mir gegenüber saß, spielte eifrig das Spiel „Lass uns gerade so viel Fummeln und Knutschen, dass sich alle um uns herum extrem unwohl fühlen."

Ich gab es nur ungern zu, aber sie waren am Gewinnen.

Aaaaargh! Es gibt nichts Ekligeres als Leute, die sich gegenseitig das Gesicht ablutschen!

Das heißt, wenn man kein Gesicht hat, an dem man lutschen kann.

Nicht einmal unser Zug, der in einen Bahnhof einfuhr und abrupt bremste, konnte sie von ihrer kühnen Erkundung unerforschter Gebiete abhalten.

„Nächster Halt: Charles/MGH", verkündete der Lautsprecher ebenso kühl und nüchtern, wie er „Nächster Halt: Park Street" und „Nächster Halt: Downtown Crossing" angekündigt hatte.

Doch die beiden anderen Haltestellen ließen mein Herz nicht in meinem Brustkorb hüpfen wie ein flauschiges kleines Häschen.

Und wo wir gerade von Häschen sprachen...

Mehr als zwei Monate später...

Er war da!

Mein Zugfreund.

Sein Anzug war so grau wie dieser Novembermorgen. Sein Blick ruhte auf seinem Schoß.

Vielleicht las er gerade?

Insgeheim genoss ich diese inkognito Sekunden. Dass ich ihn heimlich beobachten konnte, bevor er mich bemerkte.

Er hob die Augenbrauen bei dem, was er dort zwischen seinen Knien sah.

Es war kostbar, die Chance, ihn unverfälscht und ungefiltert zu sehen, unbeeinflusst von der Wahrnehmung des anderen.

Irgendetwas ließ ihn in Richtung meines Zuges blicken.

Als er mich erkannte, verwandelte sich sein Gesichtsausdruck augenblicklich in ein breites Begrüßungsgrinsen.

Schnell hob er einen Finger in die Luft, als wolle er mir sagen, ich solle warten. Dann hob er sein Tablet in die Höhe.

Auf dem Bildschirm war eine Frau in einem dunkelblauen Rock zu sehen, die ein Breitschwert in der Hand hielt, während sich ihr computeranimiertes schwarzes Haar in einem Wind aus Bits und Bytes bewegte. Eine orangefarbene Zahl - 977 - blinkte in der Ecke.

Eine Spiele-App. Und ich würde das Schwert und den Rock überall erkennen.

Herr Wuschel zeigte auf den Bildschirm und dann auf sich selbst.

Spielte er ein Wonder Woman Spiel, weil er mich in diesem Kostüm gesehen hatte?

Seltsam oder niedlich? Ich entschied mich für niedlich — er zeigte mir seine Lieblingsbeschäftigung.

Mein Gehirn schaltete sich ein.

Ich sollte ihm auch etwas zeigen. Etwas über mich.

Aber was!

Schnell!

Ich klickte auf mein Wacom Tablet und rief „Fairy Tails" auf.

Ich konnte ihm wenigstens eine meiner Illustrationen zeigen.

„Synchronisierung mit Cloud ..." informierte mich das Wacom, und ich tippte ungeduldig mit dem Fuß.

Der Zug konnte jeden Moment abfahren!

Als die Synchronisierung abgeschlossen war, blieb mir der Mund offen stehen.

Es war die frühere Version!

Seine Illustration, sie war wieder da!

Die magischen krausen Haare, die Pinnochio-Adler-Sex-Nase, die Karotte in der Hand und alles!

Die Wolke hatte es wiederhergestellt!

Insgeheim dankte ich dem wolkenverhangenen Himmel und hielt das Display gegen das Fenster.

Herr Wuschels Mund verzog sich zu einem überraschten großen O, als er die Illustration sah.

Er zeigte zuerst auf mich, als wollte er sich vergewissern, dass ich es gezeichnet hatte.

Ich nickte stolz. Ich liebte meine Kunst.

„Achtung an alle Passagiere. Wegen Vorbereitungen zu Gleisarbeiten auf dieser Strecke kommt es zu einer mehrminütigen Verspätung."

Vorbereitungen für was für Gleisarbeiten?

Wen zum Teufel kümmert das, Iris? Genieß einfach die Zeit mit Herr Wuschelhase.

Das tat ich dann auch und reckte meinen Hals, um einen Blick um den einen pickeligen Teenager herum auf Herr Wuschelhase zu werfen.

Sein Markenzeichen, das zerzauste Haar und die heißen Stoppeln, waren wieder da, trotz des Anzugs, den er trug.

Pickel-Teenie Nr. 2 gesellte sich zu seiner Freundin am Fenster, und sie setzten ihr fröhliches Mund-Wrestling fort, diesmal im Stehen.

Sie schienen sogar bereit zu sein, zu drastischeren Maßnahmen überzugehen, ohne sich um die Welt zu kümmern.

Ich beneidete sie regelrecht.

Ich wollte, was sie hatten.

Herr Wuschel sah sie auch; eine Röte kroch seinen Hals hinauf.

Dann, ganz langsam, riss er seinen Blick von dem Paar los und zeigte auf mein T-Shirt.

Ich sah, wie er wieder nach seinem Tablet griff.

Er schien etwas in Fast & Furious-Manier zu kritzeln; Sekunden später hob er das Gerät in die Luft.

Auf dem Bildschirm stand:

UND IHR VERLOBTER?

Ich brauchte einen Moment und einen Blick auf mein T-Shirt, um seine Frage zu verstehen - ich trug das T-Shirt, das verkündete, dass ich Single und bereit für einen Pringle war.

Ich schnaubte und hielt mir den Mund zu, was mir einen irritierten Blick des pickeligen Teenagers Nr. 1 einbrachte.

Mein Stift bewegte sich aus eigenem Antrieb über mein Tablet

ABSERVIERT!

Ich fügte ein kickendes Bein und ein eilig skizziertes fliegendes Männchen hinzu, um anzuzeigen, dass ich ihm den Laufpass gegeben hatte.

Ich hielt das Gerät an das Fenster, direkt neben den Hintern des pickeligen Teenagers Nr. 1, und Herr Wuschels' Mund verzog sich bei diesem Anblick zu einem breiten Lächeln. Er hielt seinen Daumen hoch.

Wie bitte?

Warum sollte ihn das interessieren? Dachte Herr Wuschel etwa daran, seiner Frau untreu zu werden?

Ich entschied mich für eine weitere Nachricht, die ihm gleichzeitig seine moralisch fragwürdige Reaktion vor Augen führen sollte und schrieb eilig zurück:

UND IHRE FRAU?

Er hielt inne.

Ich schluckte.

Dieser ganze Austausch fühlte sich surreal an. Wie die Teilnahme an einem Fernsehquiz, bei dem jede Antwort ach so richtig oder ach so falsch sein konnte.

Er schrieb auf dem Tablet. Die Sekunden vergingen wie Äonen.

Mein Herz schlug im Rhythmus von TamTam D'Afrique.

Er hob das Gerät langsam hoch, den Blick auf mich gerichtet, mit ernster Miene und ernstem Gesicht.

GESCHIEDEN!

Nie hatten mir einfache zehn Buchstaben auf einem Bildschirm mehr Freude bereitet.

In diesem Moment stürzte sich mein Zug nach vorne, wie ein Tier im Tunnel, das sich auf seine Beute stürzt.

Sein Mund öffnete sich, und er schüttelte den Kopf.

Die nachlässige Effizienz der Massachusetts Bay Transportation Authority riss mir den Anblick des unverheirateten Herrn Wuschel aus dem Gesicht.

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