30. März, 15:55 Uhr: Evan
Hey Algebra. Ich werde nicht nach deinem X suchen. Er wird nicht zurückkommen. Und Y kenne ich nicht.
Der Text auf dem T-Shirt des Typen - es war Lars, vom Institut - hätte mich vor ein paar Wochen noch geärgert. Aber jetzt brachte er mich zum Lächeln.
Er lehnte an einem der Tische in der Matheria, die Carl und ich an die Wand geschoben hatten, um Platz für meine überraschende Abschiedsveranstaltung zu schaffen.
„Erzählst du uns jetzt, was es damit auf sich hat?" Er deutete auf den Aperitif und die Häppchen, die wir auf das Buffet gehäuft hatten.
„Nur noch ein paar Minuten." Mein Grinsen wirkte wie das eines Verrückten. „Geduld, du haben musst." Ich hatte die Personalabteilung gebeten, meine Kündigung bis zum Ende des Monats geheim zu halten, weil ich nicht wollte, dass mich alle damit belästigten. Ich würde den Zeitpunkt wählen, an dem ich die Nachricht verkündete.
Und dieser Zeitpunkt war jetzt.
„Evan hier hat große Neuigkeiten." Carl klopfte mir auf den Rücken.
Carl war der Einzige, dem ich von meiner bevorstehenden Abreise erzählt hatte. Zuerst hatte er die Stirn gerunzelt, aber dann hatte er mich umarmt und gesagt, dass er meine lahmen Witze vermissen würde. Ich hatte ihn zurück umarmt und ihm gesagt, dass ich seinen dicken Hintern vermissen würde.
Nach dieser Zurschaustellung männlicher Zuneigung und einem peinlichen Moment des Schweigens hatten wir gelacht und waren wieder zur Tagesordnung übergegangen.
Wie auch immer, hier war ich. Genauso wie die Meute - Lars und seine Gruppe für lineare Algebra, die Schar der Nerds für maschinelles Lernen und wir Statistiker - oder Statisten, wie uns alle anderen nannten.
Roscoe, ein weiterer Linearalgebraiker, griff nach einem der Prosecco-Gläser.
Carl hob einen Finger. „Du darfst es berühren, Mann, aber wage nicht, es zu trinken!"
„Das ist grausam." Roscoe legte die Hand auf seine Brust. „Jesus sagte, wenn jemand durstig ist, soll er kommen und trinken."
„Das mag ja sein, aber er ist jetzt nicht hier. Wir sind die Herrscher über das Buffet und-" Carl hielt inne, dann stupste er mich an. „Schau mal unauffällig auf halb zehn Uhr. Das Königspaar beehrt uns mit seiner Anwesenheit."
Ich tat, wie mir geraten wurde — gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Helen mit George, dem Kanzler, an ihrer Seite eintrat.
Wenigstens nicht händchenhaltend.
„Wer hat die eingeladen?", flüsterte ich.
„Ich war das", flüsterte Carl zurück.
„Warum hast du das getan?" Ich hatte diese beiden Turteltäubchen nicht auf meiner Party erwartet.
„Ich kann es kaum erwarten, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie die Neuigkeit erfährt." Carl kicherte.
„Das ist ..." Ich zögerte. Was war es? Grausam? Verrückt? Gerissen? „Das ist interessant."
Die beiden machten einen Bogen um uns.
„Hey, Carl." George tippte meinem Freund auf den Arm. „Danke, dass wir bei deiner ... Überraschungsparty dabei sein dürfen."
Die Schultern der dunklen Jacke des Mannes waren mit Schuppen übersät, genau wie ich es vermutet hatte.
„Eigentlich ist das nicht meine Überraschungsparty." Carl trat aus Georges Reichweite und grinste. „Es ist die von Evan." Er zeigte auf mich.
„Oh, toll! Dann danke, Evan." Georges Blick streifte mein Gesicht und wanderte weiter zum Buffet. „Oh, sehe ich da etwa Schinkencroissants?"
Er drehte Carl, Helen und mir den Rücken zu und schritt zum Buffet.
Ich war erleichtert, dass er weg war. In der Nähe des Liebhabers meiner Ex zu sein, fühlte sich seltsam an.
„Also ... was soll das alles?" Meine Ex winkte mit den Händen in Richtung der Matheria und der Menge darin.
„Das wirst du in ein paar Minuten erfahren." Ich schaute auf meine Uhr. „In zwei Minuten, genaugenommen."
Sie nestelte an einer goldenen Brosche herum, die ihre dunkelblaue Jacke zierte.
Ich kratzte mich am Kopf.
Sie schaute auf ihre Uhr.
Ich zupfte an meinem beigen Pullover — er hatte einen Kaffeefleck am Ärmel.
„Du siehst gut aus, Helen", sagte Carl. „Toll gebräunt."
In Gedanken segnete ich den Mann dafür, dass er in diesen peinlichen Moment hineingestolpert war.
„Oh, danke, Carl." Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. „George und ich haben das Wochenende in Catham verbracht, in Wequasset. Er liebt es, dort Golf zu spielen." Sie deutete auf ihren Begleiter, der sich gerade ein Croissant in den Mund stopfte und schon nach dem nächsten griff. „Lange Spaziergänge am Strand. Ihr wisst ja, wie das ist." Sie zuckte mit den Schultern.
Ich wusste nicht, wie das war. Der Kanzler des Instituts hatte mich noch nie in ein luxuriöses Golfresort eingeladen, aber ich wies sie nicht darauf hin. Auch vermisste ich das Erlebnis nicht wirklich.
Ich schaute wieder auf meine Uhr. 16:00.
Erleichtert ging ich zum Buffet hinüber, griff nach einem Glas Prosecco und stieß es mit einem Löffel an. „Es ist Zeit für eine Rede."
Während ich der Menge zusah, wie sie sich an den Getränken bediente, versuchte ich, mich an den Anfang meiner Rede zu erinnern. Ich muss sie hundertmal geprobt haben, und jetzt waren die Worte weg.
Ich umklammerte das Glas in meiner Hand, bereit für den Toast. Ein Toast! Ja, das war es!
Ich räusperte mich. „Es ist nicht nur Zeit für einen Toast. Nein, ich habe gleich drei davon."
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, während ich sie warten ließ und mir auf die Zunge biss.
„Hier kommt der erste Toast. Er geht an... die Matheria." Ich nahm einen langen Schluck und ließ die sprudelnde, kühle Flüssigkeit meine Kehle umschmeicheln.
„Hört, hört!", sagte jemand.
„Dieser Ort ist für mich ein bisschen wie ein Zuhause", fuhr ich fort. „Er hat Charakter. Seht euch nur die alte Farbe an, die an den Wänden klebt. Die flackernden Leuchtstoffröhren, die nie repariert werden können. Und dieser beständige Geruch von kaltem Essen." Ich schnupperte in die Luft — ja, er war da. „Es ist mehr als eine Kantine. Es ist ... der Dreh- und Angelpunkt der Mathematik."
Lars lachte.
„Der zweite Toast geht an... euch." Ich breitete meine Arme aus und umfasste sie alle. Sogar Helen — ich fühlte mich großzügig, oder vielleicht war es der Alkohol. Dann nahm ich einen weiteren Schluck —einen noch längeren. „Ihr habt mich in den letzten zehn Jahren begleitet. Ich hatte das Glück, Zeit mit euch zu verbringen."
Die Leute klatschten.
Als sich der Lärm gelegt hatte, fuhr ich fort. „Und den dritten Toast trinken wir auf die Zukunft. Möge sie euch leiten, die Riemann-Hypothese und die Zwillings-Primzahl-Vermutung zu knacken. Denn ich weiß, dass ihr den Mut und den Verstand habt, das zu tun." Ich hielt inne und genoss das Grinsen in ihren Gesichtern. Und den glasigen Blick des Kanzlers sowie Helens Stirnrunzeln. „Aber ihr müsst das alleine machen, weil ich nicht da sein werde, um euch zu helfen. Ich verlasse morgen das Institut. Prost!"
Damit trank ich den Rest meines Proseccos aus.
Sie starrten mich an.
„Ja, ihr habt richtig gehört", fügte Carl hinzu. „Er fängt am ersten April einen neuen Job an, und das ist kein Scherz! Also, lasst uns ihm einen großen Applaus mitgeben und ihm Glück wünschen." Er klatschte in die Hände, und die Menge schloss sich ihm an.
„Und was wirst du tun?" rief Lars über den Lärm hinweg.
Ich zeigte auf ihn. „Gute Frage. Ich werde die spielerische Seele der Mathematik und den stählernen Muskel der Wirtschaft miteinander verbinden. Und ich werde das zufällige Risiko mit der scharfen Klinge der Statistik reduzieren. Ich werde Versicherungsstatistiker bei Best Boston Insurances."
Es war nichts falsch daran, gute Worte zu recyceln.
Klatschen und ein paar Pfiffe erhoben sich und trugen mich durch einen Strudel der Gefühle.
Als ich vor einigen Wochen den Vertrag unterschrieben und meine Unterschrift unter meine Kündigung an der Universität gesetzt hatte, hatte sich das alles abstrakt und fern angefühlt.
Aber hier und jetzt machte ich einen Schritt.
Den Schritt.
Den Schritt weg von dem, was ich war. Der Schritt zu etwas ganz anderem.
Irgendwie fand ein weiteres Glas seinen Weg in meine Hand, und ich begrüßte das Schwindelgefühl, das es mir verlieh, während ich mit den Leuten sprach. Sie gratulierten mir, schüttelten mir die Hände und klopften mir auf die Schultern.
Und einige machten die erwarteten versicherungsmathematischen Witze.
Eine Zeit lang war alles ein Wirrwarr aus Gesichtern, Stimmen, Essen und Trinken.
„... und wie kann man einen introvertierten Versicherungsstatistiker von einem extrovertierten Versicherungsstatistiker unterscheiden?", fragte Roscoe.
Ich kannte die Antwort bereits. Es war das dritte Mal, dass jemand diese Frage gestellt hatte. Ein introvertierter Versicherungsstatistiker starrt während eines Gesprächs auf seine eigenen Füße, während ein extrovertierter Versicherungsstatistiker auf die Füße seines Gegenübers starrt.
In der Hoffnung, eine der Quiches zu erwischen, steuerte ich auf das Buffet zu.
Eine dicke, schwere Handfläche senkte sich auf meine Schulter, so dass mir fast die Knie schlotterten. „Guter Mann!", dröhnte George. „Handel ist Gold wert. Das sage ich meinen Studenten immer, wenn sie bei Bean Counters anfangen."
Bean Counters — das Start-up-Unternehmen des Kanzlers. Keiner wusste, was sie genau machten. Es war mir auch egal. Vielleicht zählten sie wirklich Bohnen.
Helen gesellte sich zu uns, und die Pfote des Kanzlers verließ meine Schulter und landete auf ihrer. Der Aufprall ließ sie die Stirn runzeln, aber sie sagte nichts.
„Ich lasse Sie beide zum Verabschieden alleine", sagte er und ging wieder in Richtung Buffet.
Helen hatte gelbliche Flecken auf ihrer weißen Bluse. Sie tat mir leid - sie versuchte immer, ihre Kleidung makellos zu halten.
Sie deutete auf das Essen. „Tolle Idee, das mit dem Buffet. Obwohl ich von den Donuts etwas überrascht war. Ich hätte nicht gedacht, dass du auf diese Art von Essen stehst."
Ich spürte, wie ich errötete, als ich den Stapel Gebäck betrachtete, den ich nachträglich zum Menü hinzugefügt hatte. „Die sind ziemlich gut, weißt du. Du solltest einen probieren."
Meine Ex kicherte und legte den Kopf in den Nacken. „Oh, Evan. Manchmal bist du so ein Quatschkopf."
„Oh, und wo wir gerade von Veränderungen sprechen..." Ich hielt einen leicht beschwipsten Finger hoch, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Hast du dir schon mal die Haare gefärbt? Blau würde dir gut stehen."
Sie runzelte die Stirn. „Da hast du wohl ein Glas zu viel getrunken." Dann wurde ihr Blick weicher. „Aber ich muss zugeben, dass Du mich manchmal überraschst. Wie zum Beispiel mit Deinem ... Karrierewechsel. Ein ziemlicher Schritt, muss ich zugeben. Das hätte ich nicht von Dir erwartet. Ist das nicht die Versicherung im Best Boston Tower?"
„Genau, da werde ich arbeiten. Oben im Himmel!"
Sie pfiff leise vor sich hin. „Ich habe gehört, die haben da so coole Büros wie die von Google."
„Das ist ein toller Ort, ja."
„Also ... ich gratuliere dir." Mit einem kleinen Lächeln im Gesicht streckte sie ihre Hand aus. „Man sieht sich."
Ihre Handfläche fühlte sich feucht an.
Als Helen die Matheria verließ, bewacht von Herrn Bohnenzähler, kam Carl mit einer Bierflasche in der Hand zu mir. „Alter, hast du ihren Gesichtsausdruck gesehen, als du deine Ansage gemacht hast? Das war unbezahlbar!"
Ich schüttelte den Kopf, nein.
„Sie war so überrascht, dass sie sich den Orangensaft über die ganze Bluse gespuckt hat." Er lachte. „Und sie hat Augen gemacht, die größer waren als ein Paar Quiches."
„Hat sie das?" Ich hätte sie im Auge behalten sollen, um ihre Reaktion zu beobachten.
„Tolle Rede, nebenbei bemerkt. Du gehst wirklich mit einem großen Knall." Er drückte meinen Arm.
„Danke. Diese Rede ..." Ich suchte nach Worten. „Sie gab mir das Gefühl, als würde ich eine Brücke niederbrennen ... du weißt schon, nachdem ich sie überquert hatte."
„Genau das hast du getan, sozusagen." Carl hob seine Flasche zu einem feierlichen Salut. „Aber wir sind immer noch deine Freunde. Ich hoffe, wir sehen uns wieder, hast du gehört? Sei kein Fremder. Du hast ja meine Nummer, Mann."
Die Gruppe für lineare Algebra lachte, wahrscheinlich über einen weiteren versicherungsmathematischen Witz, den Lars gemacht hatte.
Carl hatte Recht, wir waren immer noch Freunde. Aber die Brücke war jetzt abgebrannt, und es gab kein Zurück mehr in die Heimat, die die Matheria war.
Ich würde mir auf dieser Seite des Flusses ein neues Zuhause suchen müssen.
Mein Herz klopfte.
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