20. September, 11:45 Uhr: Evan
„Das ist wie ein Raumschiff, Dad!" Janice saß in einer Weidenkugel und beäugte mich durch das runde Eingangsloch. Das Ding war an einer Kette von der Decke aufgehängt. „Schubs mich, damit es schwingt!"
Ich gehorchte und beschleunigte ihr Gefäß mit einem Warp-Pendel, und sie quietschte vor Vergnügen.
Glücklicherweise war das Chillaxium bei Best Boston Insurances von den Töchtern und Söhnen bei der Arbeit übernommen worden, und der sonst so ruhige Rückzugsort war mit Gebrüll, Geschrei und Gelächter erfüllt, wie das Affenhaus im Zoo.
Neben der Weidenkugel stand eine sarggroße Holzkiste, die von einem Innenarchitekten zu einem Couchtisch umfunktioniert worden war - es handelte sich ja nicht um einen Sarg, oder? Überall lagen Comics darauf verstreut.
Einer stach mir ins Auge.
„Süße, das musst du dir ansehen!" Ich stoppte die transdimensionale Bewegung von Janice' Raumschiff und zeigte auf ein Cover, auf dem eine Frau mit schwarzer Mähne, metallenen Handschellen, einem engen Mieder und viel Haut abgebildet war.
„Was ist das?" Janice und Baby Yoda kletterten durch das Loch, purzelten auf den gepolsterten Boden und rappelten sich auf.
Ich reichte ihr den Comic. „So sah die Pendlerin, die wir heute gesehen haben, im Juni aus, glaub mir."
Meine Tochter betrachtete das Bild mit großen Augen. „Wonder Woman! Ich liebe sie! Hat sie wirklich so ausgesehen, die Frau aus dem Zug?"
Ich nickte. „Ja. Die Haare, die Metalldinger an ihren Armen. Und sie hatte das gleiche Kleid."
„Wow! Cool!" Sie blätterte in dem Buch.
„Und, die Zugfrau, sie..." Ich wollte gerade über ihre Haarfärbegewohnheiten berichten, als eine Hand auf meiner Schulter mich stoppte.
„Evan. Stellst du deinem Nachwuchs unsere Firmenbroschüren vor?"
Ich drehte mich um und sah, dass Liam, der Chef aller Chefs, mich anlächelte. Seine gebleichten Zähne erhellten ein perfekt gebräuntes Gesicht.
„Hey, Liam, schön, dich zu sehen." Ich wies mit einer Hand auf Janice, während ich die andere in den festen Griff des Mannes drückte. „Das ist Janice, meine Tochter."
„Freut mich, euch kennenzulernen, Milady ... und MiYoda." Er verbeugte sich vor ihr. „Und das hier ist Maximilian, mein Sohn." Er zeigte auf einen blonden Jungen neben sich, ein oder zwei Jahre jünger als meine Tochter. Der Junge hielt ein Maschinengewehr aus Plastik in der Hand und sah aus, als wäre er bereit und in der Lage, es in einem tödlichen Kampfeinsatz zu benutzen.
„Hallo, Maximilian." Ich lächelte ihn an.
Er funkelte mich an und richtete die Mündung seiner Waffe in meine Richtung.
„Äh ..." Ich sah wieder zu seinem Vater. „Janice bewundert die Comicsammlung hier. Sie liebt Wonder Woman."
Er hob die Brauen. „Ah, ja, Wonder Woman. Wusstest Du, dass wir bei Boston's Best Insurances für jeden Superman-Comic einen Wonder Woman-Comic haben? Gleichberechtigung der Geschlechter ist-"
„Sie ist nur ein Mädchen, diese Wonder Woman", sagte Maximilian und unterbrach seinen Vater. „Superman würde ihr jederzeit in den fetten Arsch treten. Und jetzt will ich die Servierer sehen."
„Die Servierer?" Liam sah seinen Sohn stirnrunzelnd an.
„Ja, die großen Computer." Der Junge wischte sich mit einer Hand die Nase ab, dann wischte er die Hand an seiner Waffe ab. „Die, die eine Menge Geld kosten."
„Ah, die Server, meinst du."
„Hab ich doch gesagt." Er hob die Waffe an seine Schulter und richtete sie auf meine Tochter.
Ich stellte mich zwischen ihn und sein Ziel.
Liams Lachen hatte eine höhere Tonlage als sonst. „Okay, junger Mann. Sehen wir uns die Server an." Er nickte mir zu. „Wie du siehst, muss ich weitermachen. Maximilian interessiert sich für Technik. Wir sehen uns!"
„Tschüss", sagte ich und sah ihnen beim Hinausgehen hinterher.
„Spielen die Servierer Call of Duty?" fragte Maximilian, als er seinen Vater zur Tür zog.
Ich hätte gerne die Antwort seines Vaters gehört, aber da waren sie schon außer Hörweite.
„Ich kann den Jungen nicht leiden." Janice kniff die Augen zusammen, als die beiden das Chillaxium endgültig verließen.
Ich nickte, teilte schweigend ihre Gefühle und sah auf die Uhr. „Lass uns gehen. Wir haben eine Reservierung im Restaurant auf dem Dach."
Wir nahmen die Treppe zum Chef's Retreat, da es nur eine Etage höher lag. Ein Kellner in stahlgrauen Hosen und einem perfekt gebügelten weißen Hemd führte uns zu unserem Tisch, direkt am Fenster, mit der Stadt unter uns.
Janice ignorierte jedoch die Aussicht. Sie stellte Baby Yoda neben das Fenster, zog den Wonder Woman-Comic aus ihrer Tasche und legte ihn vor sich auf den Tisch.
„Oh, das müssen wir nach dem Mittagessen zurückbringen." Ich hatte nicht bemerkt, dass sie ihn aus den Firmenbroschüren geklaut hatte. Den Comic mitzunehmen könnte das Geschlechtergleichgewicht von Best Boston aus der Balance bringen.
„Klar, wir bringen ihn zurück. Aber sehen wir ihn uns doch erst einmal an!" Sie zeichnete mit einem Finger das Gesicht und den Körper von Wonder Woman nach. „Sie ist hübsch."
„Sie ist Wonder Woman. Natürlich ist sie hübsch."
Janice sah zu mir auf. „Die Zugfrau, meine ich."
Ich nickte. „Ja, da hast du recht. Sie ist auch hübsch. Und du hättest sie Anfang des Jahres sehen sollen. Das erste Mal, als ich sie sah, hatte sie blaues Haar, wie das Meer. Das nächste Mal war es rosa, glaube ich. Und einmal war es golden."
Ihre Augen weiteten sich. „Golden?"
„Ja." Ich versuchte, mich an den Farbton zu erinnern. Metallisch, irgendwo zwischen Gold und Silber. Es war der Tag gewesen, an dem sie mich in die Welt von Dunkin Donuts geführt hatte. Der Puderzucker-Donut hatte ihr die Nasenspitze gepudert.
„Du magst sie, nicht wahr?" fragte Janice.
„Wie kommst du denn darauf?" Ich fragte mich, ob ich jetzt rot werden würde.
„Weil du lächelst, wenn du an sie denkst." Sie legte ihren Kopf schief und musterte mich.
Mir war unbehaglich unter ihrem Blick, also öffnete ich die Speisekarte. „Oh, heute gibt es eine Fenchel-Pastinaken-Suppe. Hättest Du das gern?"
Sie rümpfte die Nase. „Haben die auch richtiges Essen?"
Ich überprüfte die Angebote und wurde fündig. „Es gibt Spaghetti mit Tomatensoße." Ich zensierte die Tatsache, dass die Spaghetti mit les légumes du jour garniert waren.
„Okay, Spaghetti sind gut." Sie schnappte sich Baby Yoda und zwang ihn, mich anzusehen.
„Damen mit gefärbten Haaren, du magst", sagte er.
„Stimmt, kleiner Yoda." Ich grinste ihn an, dann Janice. „Aber ich mag sie auch manchmal ganz natürlich."
Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, schüttelte Janice den Kopf und zeigte mit dem Finger auf Baby Yoda.
„Die Haare färben, Mama das nie macht", sagte er.
„Stimmt auch wieder." Das würde sie nie tun, da war ich mir sicher.
„Die Zugfrau, du also besser findest?", fragte Yoda.
„Ich..." Jetzt wurde ich tatsächlich rot. „Sie ist ..." Ich schluckte. „Ich kenne sie doch gar nicht."
Janice setzte Baby-Yoda zurück auf seinen Platz am Fenster. „Dann geh und lerne sie kennen. Ich würde sie auch gerne kennenlernen. Du bist der Superdad, du kannst es wahr werden lassen."
Ich schnappte mir Baby Yoda und brachte ihn dazu, sich meiner Tochter zuzuwenden.
Sie grinste.
„Kennenlernen ich sie gerne würde, ja", sagte der kleine Yoda. „Aber nie einfach das Leben ist. Einen hübschen Mann mit Muskeln wie ein Gorilla, sie schon hat."
Ihr Grinsen wurde durch ein Stirnrunzeln ersetzt. „Ein Gorillamann? Das ist schade." Sie drückte meine Hand, dann lächelte sie wieder. „Aber zum Glück haben wir ja noch Mom."
Ja, Mama hatten wir. Und die Zugfrau war nichts weiter als ein Traum.
Ein verrückter Traum.
Und aus ihm aufwachen, musste ich.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top