14. Januar, 09:33 Uhr: Iris

Zugfahrten waren meine Inspiration.

So viele Nuancen, Farbschattierungen und Abstufungen, die man in einer Illustration der Bostoner T-Welt einfangen kann. Am liebsten hätte ich sie alle auf der Stelle gezeichnet.

Wer waren diese Menschen? Woher kamen sie, wohin gingen sie, wen liebten sie und wen hassten sie?

Wir alle teilten denselben Raum, Tag für Tag, wenn auch nur für eine kurze Zeit.

So nah und doch so weit weg.

Die U-Bahn war manchmal so eine Schande.

So viel Potenzial für eine Verbindung — alles vergeudet.

Das fragte ich mich normalerweise. Heute jedoch kuschelte ich mich einfach mit einem zufriedenen Seufzer in meinen dicken Mantel und erinnerte mich an Jaydens Versprechen, dass er dafür sorgen würde, dass einige meiner Comicroman-Illustrationen veröffentlicht wurden.

Sein Vater würde einen Verlag für mich finden, weil sie gut waren, nicht weil wir ein Liebespaar waren. Das hatte ich ihn schwören lassen.

Das würde es meiner Mutter zeigen. Sie hatte immer gesagt, dass ich mit meinen „Kritzeleien" nichts erreichen würde, und meinen Wunsch, Kunst zu studieren, abgelehnt. Aber letztes Jahr waren meine Illustrationen auf der Massachusetts Independent Comics Expo endlich bemerkt und hochgelobt worden. Ich wappnete mich, um nach der Fertigstellung meines letzten Projekts eine Reihe von Bewerbungsschreiben vorzubereiten, aber Jaydens Vater hatte Verbindungen, die mir möglicherweise helfen konnten, diesen unangenehmen Schritt zu überspringen. Der alte Mann war ein Finanzgenie und beriet zahlreiche Unternehmen, darunter auch Marvel Entertainment.

Bumm!

Die größte Kaugummiblase, die ich seit Ewigkeiten gemacht hatte, zerplatzte mit einem großen Knall vor meinem Gesicht. Ich war mir ziemlich sicher, dass ein Teil des Kaugummis jetzt an meiner Zahnspange klebte.

Natürlich brachte mir das einige vorwurfsvolle Blicke von meinen Mitfahrern ein.

Ich streckte mich in meinem Sitz und genoss die letzten Momente der Ruhe vor der Station Downtown Crossing, wo die Fahrgäste den Zug überfluten würden.

Einige Minuten später öffneten sich die Türen mit einem Zischen, und eine gebrechliche, ältere Frau, die ein wuscheliges Bündel aus braunem Fell umklammert hielt, betrat den Wagen.

Ich legte eine Hand auf den gegenüberliegenden Sitz, um ihn vor den ankommenden Horden zu schützen, und winkte ihr, sich zu mir zu setzen.

Sie setzte sich. „Danke, Liebes."

Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, starrte mich das wuschelige braune Bündel auf ihrem Schoß mit großen Augen und langen Ohren an.

„Oh, Ihr Hund ist aber süß. Nanu! Ist das ein Corgi? Das ist meine Lieblingshunderasse. Wie alt ist er?" Ich beugte mich vor, als sie es sich gerade bequem gemacht hatte.

„Oh ja, Sie haben recht. Ein Corgi. Es ist eine Hündin. Ruby Tuesday", sagte die Frau mit einem faltigen Lächeln.

„Ruby Tuesday! Das gibt's doch nicht! Ich liebe diesen Namen. Und dieses Lied! Darf ich sie streicheln?" Ich quietschte vor Vergnügen.

„Natürlich, meine Liebe."

Ich wühlte in den riesigen, Mary-Poppins-ähnlichen Taschen meines Mantels.

Wenn es etwas gab, das ich immer bei mir trug, dann war es Essen.

Essen für Menschen.

Aber ich wusste, dass ich auch ein paar Hundeleckerlis dabei hatte.

Der kleine Comic-Laden am Harvard Square, Million Year Picnic, in dem ich arbeitete, wusste nicht einmal, wie sehr er seinem Namen gerecht wurde. In jeder Mittagspause stahl ich mich davon in die Hinterhofgasse und fütterte die streunenden Hunde, die dort herumschlichen.

Als ich schließlich das Leckerli aus meiner Tasche zog, stürzte sich Ruby Tuesday auf mich. Ihre feuchte Zunge hatte meine Handfläche in Sekundenschnelle saubergeleckt.

So ein Schatz!

„Oh, wie nett von Ihnen." Die Frau lächelte. „Sie verwöhnen sie ja richtig. Das sind zufällig ihre Lieblings-Leckerli."

„Ich tue nur meine tägliche gute Tat." Zufrieden beobachtete ich den Hund, wie er sich die Nase leckte, setzte mich zurück in meinen Sitz und aktivierte meine AirPods.

Der Zug hielt an der nächsten Station, und ich begann, meinen Kopf im Rhythmus von Journeys Melodie über ein Kleinstadtmädchen, das einen Mitternachtszug nimmt, zu wippen.

Ich konnte die Worte der Dame nicht verstehen und hielt das Lied an. „Pardon?"

„Eigentlich darf sie nicht so viele Leckereien essen", sagte die Frau, „aber, naja, was solls. Sie ist sehr krank, wissen Sie."

„Oh Gott, nein! Das ist ja furchtbar! Tut mir so leid, das zu hören." Stirnrunzelnd zog ich an einem meiner Ohrstöpsel und hielt mir die Hand vor den Mund.

Verdammt.

Ist es nicht immer so im Leben?

Erst heiße Schokolade, dann Durchfall.

Ruby Tuesday warf mir einen traurigen Blick zu. Um sie aufzumuntern, streckte ich ihr die Zunge heraus. Das machte sie nur noch trauriger, also beugte ich mich vor und zerzauste ihr Fell.

„Sie hat Krebs, wissen Sie, und... Na ja, ganz so schlimm ist es nicht. Sie bekommt ihre Chemo und so, aber ich sage mir immer, selbst wenn es nicht klappt... wir hatten eine gute Zeit, Ruby und ich. Und ist es nicht das, worauf es ankommt?" Die Frau lächelte, aber die Tränen, die auf ihren Wangen glitzerten, passten zu dem regnerischen Bahnhof, an dem wir uns befanden.

„Oh je, sehen Sie nur, jetzt geht das schon wieder los." Eine ihrer faltigen Hände zitterte auf ihrem Schoß, während sie mit der anderen versuchte, sich die Tränen aus den Augen zu reiben.

Ich schluckte.

Ich schloss die winzige Lücke zwischen uns und drückte ihre Hand. „Oh nein! Dafür muss man sich nicht schämen! Mein Vater hat immer gesagt, dass Weinen gut ist. Wenn die Tränen einen verlassen, bedeutet das, dass die Augen trocknen. Man macht sich gerade bereit, glücklich zu sein!"

„Sie sind sehr klug", schniefte die Frau. „Und so eine positive, freundliche Seele. Ändern Sie sich ja nicht."

„Oh, und Ihre Haarfarbe ist so schön, meine Liebe", fügte sie hinzu. „Erfrischend und originell."

„Pffft." Ich prustete spöttisch und ausgiebig. „Wenigstens denkt irgendjemand so." Daran würde ich mich erinnern, wenn meine Mutter das nächste Mal einen Wutanfall bekam, sobald sie mich zu unserem gemütlichen Samstagmittagessen traf.

Mit einem Lächeln lehnte ich mich in meinem Sitz zurück.

Meine Zunge tastete meine Vorderzähne ab, um nach Kaugummiresten in meiner Zahnspange zu suchen.

Ich war sicher, dass es Ruby Tuesday gut gehen würde.

Als ich zu den Fenstern des Zuges blickte, der neben uns auf dem Gleis stand, trafen meine Augen auf die eines Herrn, der im Zug saß.

Durch seine eckige Brille starrte er mich praktisch an.

Was glotzte er so? Ich runzelte die Stirn und legte den Kopf schief.

Er zuckte mit den Schultern.

Das musste ich ihm zugestehen. Er hielt meinem Blick stand wie ein Champion, mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.

Er sah aus wie ein Mann in seinen Dreißigern.

Doch das graue Hemd und der graue Pullover, die er trug, ließen ihn älter aussehen, und die Tränensäcke unter seinen müden Augen taten ihr Übriges.

Trotzdem sah die Brille an ihm hinreißend aus!

Genauso wie das Nest seiner dunkelbraunen Haare, die mich an Herrn Wuschel erinnerten, einen süßen Teddy, den ich als kleines Mädchen hatte. Aber der heiße Stoppelbart des Mannes machten ihn mehr als nur niedlich.

Natürlich nicht so glühend heiß wie Jayden.

Er starrte mich immer noch an, und ich öffnete und schloss spielerisch meine Nasenlöcher zu einem spöttischen Gruß.

Er machte es mir nach, wenn auch viel langsamer.

Was als Nächstes geschah, spottete ganz offen über meine Einstellung, das Glas sei immer halb voll.

Der Mann, der neben Herr Wuschel saß und ein Razor Kraken Gaming Headset trug, für das ich mein letztes Hemd gegeben hätte, öffnete die Coladose, die er in der Hand hielt.

Herr Wuschel hob die Hand vor sein Gesicht und schützte seine Augen vor dem Sprühnebel der morgendlichen Kohlenhydratbombe. Während der Kopfhörer-Typ seinen Drink genoss, kramte Herr Wuschel in seinen Taschen herum und sah dabei so erbärmlich aus, wie nur ein durchnässtes, pelziges Wesen aussehen kann.

Die Szene war irgendwie lustig, aber er tat mir auch leid. Der arme Mann hatte irgendeine Art von Unterstützung verdient.

Da ich nicht in der Lage war, ihm wirklich zu helfen, schoss mir eine Idee durch den Kopf.

Meine Hand flog wieder einmal zu meinen magischen Manteltaschen.

Taschentücher!

Alle Frauen der Welt sollten wissen, dass sie diesen Sofortzauber nutzen können, anstatt ihre Taschen zu durchwühlen.

Mit einem Grinsen winkte ich ihm mit einer Packung Taschentücher zu.

Heute sollten alle glücklich sein. Es war mein Geburtstag.

Und... meine Arbeit würde veröffentlicht werden!

Dann setzte sich sein Zug in Bewegung.

Der sexy Stoppelbart Herr Wuschel winkte mit seiner rotzigen Hand, Röte kroch seine Wangen hinauf, und er glitt davon.

Illustration erstellt von: EvelynHail

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