XXXV
Mit eisiger Ruhe betrachtete Alatar das Geschehen vor ihm. Fast alle Verteidiger der Halle hatten ihr Leben gelassen, nur Isladin und Cugulim waren von den Orks gefangen genommen und abgeführt worden. Dutzende Orks drängten sich in die Halle und schienen auf etwas zu warten. Vom großen Tor bis zu den drei Istari, die vor dem Thron standen und von den Orks nicht angegriffen worden waren, hatten sie eine Gasse gebildet. Eldarion saß immer noch auf dem Thron des Wiedervereinigten Königreichs, neben ihm stand seine Frau Melda. Diese fünf waren die einzigen, die noch auf den letzten Resten Gondors standen und diese verteidigten. Hinter dem Tor konnte Alatar eine Silhouette vor dem dämmernden Himmel ausmachen, die immer größer wurde und offensichtlich auf sie zukam. Als die Gestalt in den Schein der Fackeln trat, die die Orks im Thronsaal trugen, musterte Alatar sie gründlich. Die Gestalt war groß, mindestens zwei Meter maß sie und von Kopf bis Fuß in eine schwarze Rüstung gehüllt. Auch ihr Gesicht war größtenteils von einem schwarzen Visier verdeckt, nur gelbe, listige Augen lugten aus der Schwärze hervor. Es war unmöglich zu sagen, ob diese Gestalt ein Ork, ein Mensch oder eine andere Gestalt war. Rechts an ihrer Hüfte hing ein gewaltiges Schwert, das ebenfalls pechschwarz war. Die Gestalt war so dunkel, dass sie das umliegende Licht fast zu verschlingen schien. Der ganze Saal war in ehrfürchtiger Ruhe erstarrt und nur die schweren Schritte der Gestalt waren zu vernehmen. Als sie etwa fünf Meter vor den drei Istari stand, hielt sie an und sah auf diese hinab.
“Warum stellt ihr euch mir in den Weg?“, fragte die Gestalt mit tiefer, grollender Stimme. “Ich sehe doch, dass ihr wisst, dass euer Ende nicht mehr fern ist.“
“Wir werden vor keinem Knecht Morgoths weichen“, entgegnete Pallando mit fester Stimme.
“Knecht Morgoths? Denkt ihr etwa, ich wäre eines dieser lächerlichen Geschöpfe?“, meinte die Gestalt und deutete auf die Orks. Ein donnerndes Lachen erklang. “Ich bin einer der euren, einer der Maiar.“
“Wer seid ihr?“, fragte nun Radagast mit unverhohlener Überraschung.
“Mein Name ist nicht mehr von Belang, seit mich der erste und einzige Herrscher von Mittelerde in seinen Dienst berufen hat“, antwortete die Gestalt. “Man nennt mich nun Túranto, den Mund der Macht. Ich verkünde die Worte des Dunklen Herrschers bei allen und bin die Hand, die sein Schwert führt, das Schwert, das euch alle vernichten wird.“
“Die Vernichtung wird euer Los sein“, meinte Alatar gefasst.
Túranto lachte schallend, dann zog er sein Schwert. “Im Namen Morgoth Bauglirs, des Unterdrückers, des ersten und mächtigsten der Valar, des Herrschers über Mittelerde und ganz Arda sage ich euch: Ihr werdet auf den Knien kriechen und um Gnade betteln, Gnade, die euch der Dunkle Herrscher niemals gewähren wird. Macht euch bereit, als Gefangene des großen Melkor Morgoth aus dieser Stadt geführt zu werden.“
“Niemals werden wir zu euren Füßen um Gnade winseln“, entgegnete Alatar bissig und zog sein Schwert.
“Macht euch auf euer Ende gefasst“, fügte Pallando hinzu und richtete Stab und Schwert auf Túranto.
“Nun denn, Brüder, nun ist es an der Zeit.“ Radagasts Stimme klang todernst. “Wir müssen diese Welt um einen Verderbten erleichtern.“
Alle drei gingen sie zum Angriff über. Radagast und Pallando kümmerten sich um die anstürmenden Orks, während Alatar Túranto gegenübertrat. Alatars Elbenschwert, das einst zum Ende des Ersten Zeitalters in der Beute mehrerer Zwerge aus Doriath über die blauen Berge hinein nach Mittelerde gelangt war, traf immer wieder auf die Klinge Túrantos, die aus schwarzem Eisen gefertigt war. Sie war fast doppelt so breit wie jedes gewöhnliche Schwert und auch um einiges länger. Trotz ihres enormen Gewichts schwang Túranto sie ohne Mühe und seine wuchtigen, beidhändigen Hiebe konnte Alatar nur mit äußerster Mühe parieren. Die Tatsache, dass er in seiner linken Hand noch seinen Stab trug, der am oberen Ende von einem Schlangenkopf geziert wurde, erschwerte ihm den Schwertkampf noch weiter, sodass Túranto ihn immer weiter zurückdrängen konnte. Er stand schon fast beim Thron Gondors, als er einen Ruf vernahm. Pallando sah in seine Richtung, unbeeindruckt von der schwierigen Lage, in der sich Alatar soeben befand. Wenig hinter ihm stand Radagast, der seinen Stab horizontal auf Höhe seines Kopfes hielt. Ein weiß-bläulicher Schimmer ging von den Stabenden aus, der den hinteren Teil des Thronsaals vom vorderen abtrennte. Die Orks versuchten reihenweise, das Schutzschild zu durchdringen, doch ihre Waffen und Körper prallten von dem Schimmer wie von einer Mauer zurück, auch Radagast konnten sie nicht erreichen. Inzwischen hatte auch Túranto erkannt, dass sich die Situation geändert hatte. Einen Moment lang spiegelte sich Angst in seinen Augen wieder, doch er fand seine Fassung augenblicklich wieder. Trotzdem war Alatar dieser kurze Moment aufgefallen. Nun war ihm klar, dass der Maiar nicht mit einer solchen Entwicklung gerechnet hatte und er witterte seine Chance. Túranto wich nun ein paar Schritte seitlich zurück, sodass der Thron zu seiner Linken lag. Alatar und Pallando trafen etwa sieben Meter vor ihm zusammen, bereit, diesem Gefecht seine entscheidende Wendung zu verleihen.
“Legt eure Waffen nieder, Túranto“, sprach Alatar gebieterisch. “Ihr habt keine Chance.“
Túranto lachte dunkel, aber schon nach kurzer Zeit wurde seine Miene schlagartig ernst. “Nun mögt ihr zumindest zahlenmäßig überlegen sein, Istari und dennoch bin ich mächtiger als ihr, denn die Kraft Morgoths ist mit mir.“
“Wie schwach ist Morgoth geworden, wenn das alles ist, was er zu bieten hat“, entgegnete Pallando. “Ihr werdet für alles, was an diesen Tage passiert ist, Rechenschaft tragen müssen.“
“Seid nicht so vermessen, euch mit der Macht eines Valars zu messen“, meinte Túranto mit einem spöttischen Grinsen.
“Und doch steht vor mir nur einer meiner Brüder, die kaum stärker sind als ich es bin“, antwortete Alatar und hob das Schwert. “Die Maiar sind geschaffen für das Gute, nicht zur Verderbtheit. Ein Maiar, der der Dunkelheit anheimfällt, ist keiner der unseren mehr.“
Dann begann das Gefecht von neuem. Auch zu zweit hatten die Istari keine Oberhand gegen Túranto im Schwertkampf. Keiner schaffte es, dem anderen Schaden zuzufügen. Pallando schlug, stach und parierte, doch Túranto schien jeden Angriff bereits zu ahnen. Er verteidigte gegen zwei Gegner ebenso gut wie er davor einen attackiert hatte, keine Fehler schlichen sich bei ihm ein. Schnell merkten Alatar und Pallando, dass es ihnen nicht möglich war, Túranto im Kampf mit dem Schwert zu bezwingen. Ein kurzer Blick genügte und ihr weiteres Vorgehen war beschlossen. Sie mussten heute ihre uralte Regel brechen und die Kräfte, die ihnen die Valar verliehen hatten, nutzen, um das Böse zu töten. Die Schwerter fuhren zurück in die Scheiden und beide rissen sie gleichzeitig ihre Stäbe in die Höhe. Túranto stieß einen tiefen Schrei aus, dann fiel sein Schwert klappernd zu Boden. Sein Kopf fiel in den Nacken, seine Augen waren vor Schmerz weit aufgerissen und er begann, zwanzig Zentimeter über dem Boden zu schweben. Er rührte sich nicht, es sah vielmehr aus, als würden ihn die beiden Istari seiner gesamten Kraft berauben. Anfangs versuchte er sich zu wehren, doch schnell wurde er schwächer. Schließlich hing er wehrlos in der Luft und regte sich nicht mehr. Alatar atmete erleichtert durch. Gleich würde die Lebenskraft des Maiar aufgebraucht sein und das komplizierte und anstrengende Ritual wäre vorüber. Nun konnte es jeden Moment so weit sein.
Plötzlich sackte Túrantos Kopf nach vorne und sein Körper zuckte wie im Todeskampf. Dann trafen seine Füße auf den Boden und seine Augen schlossen sich. Einige wenige Sekunden passierte gar nichts, dann öffnete Túranto die Augen. Wo zuvor ein klares Gelb geschimmert hatte, flackerte nun ein rötliches Feuer mit einem einzigen hell glühenden Kreis darin. Schwärze lag hinter den Flammen und die Augen sahen ins Nirgendwo. Totenstille beherrschte den Raum, dann öffnete Túranto den Mund. Seine Stimme klang verzerrt, aber auch viel menschlicher als zuvor, zudem noch dunkler und tiefer. Jedes der Worte, das er sprach, strahlte spürbare Macht aus.
“Ihr habt recht, Alatar. Der Körper, den ihr bekämpftet, war der eines der euren. Er besaß nicht die Macht, euch zu vernichten. Und auch wenn sein Körper für euch sichtbar der gleiche geblieben ist, so ist sein Geist doch nun ein anderer. Einer, der die Macht hat, diese ganze Stadt dem Erdboden gleichzumachen.“
Die Stimme legte eine kurze Pause ein. “Das Los, dass euer Bruder über euch gesprochen hat, es wird erfüllt werden, da es das Los war, das ich ihm für euch gab. Ihr werdet diese Stadt als Gefangene des Melkor Morgoth verlassen, gefangen genommen vom ersten und letzten der Valar. Ich, Morgoth der Bedrücker, werde höchstselbst dafür sorgen, dass ihr den Weg in meine Verließe findet.“
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