XXVII
Die knapp sechzig Schiffe, die den Anduin flussaufwärts hinaufsegelten, waren nun schon fast auf der Höhe der früheren Hauptstadt Gondors, Osgiliath. Besetzt waren sie mit über viertausend Korsaren aus Umbarlonde, der Hauptstadt Umbars. Engnarn, der Fürst Umbars stand im Heck des größten der Schiffe und wartete auf das Signal des Steuermannes, der ihm sagte, dass Osgiliath unmittelbar vor ihnen lag. Seit Tagen brannte er auf dieses Gefecht, dass ihm und seinem Volk endlich die Anerkennung und Macht verlieh, die es seit Jahren verdient und doch nie erhalten hatte. Morgoth würde ihnen diese bringen, dessen war er sich sicher. Er, Engnarn, würde letztendlich doch an die Macht seines großen Vorbilds, Ar-Pharazôn, heranreichen, dessen Macht sogar groß genug gewesen war, den mächtigsten Diener Morgoths, Sauron, gefangen zu halten und mit seiner Hilfe Valinor anzugreifen. Was ihm misslungen war, wollte Engnarn nun an der Seite des mächtigen Morgoth Bauglir, durchführen. Nicht umsonst hatte er verlangt, Ar-Pharazôn II. genannt zu werden, um dessen Taten zu wiederholen, besser noch zu übertreffen.
“Mein Herr, in weniger als fünf Minuten erreichen wir Osgiliath“, unterbrach eine Stimme seine Gedankengänge. Ein Bootsjunge stand mit gesenktem Kopf vor ihm, Engnarn nickte nur kühl. Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Langsam erhob sich der Fürst Umbars aus seinem Schemel und passierte das Deck des Schiffs. Im Bug angekommen, stellte er sich auf die kleine Erhebung ganz am vorderen Ende des Schiffs. Feldherr Norwan trat neben ihn und verbeugte sich. Erste graue Gebilde zeichneten sich rechts des Anduin ab und vor ihnen, ebenfalls auf der rechten Seite, waren erste Ruinen klar zu erkennen, während links des Flusses letzte Ausläufer des kleinen Gebirges zu sehen waren. Als diese langsam zu weichen begannen, konnte man dahinter ein großes, unförmiges graues Gebilde erkennen.
“Was ist das?“, fragte Engnarn mit aufeinander gepressten Zähnen. Ihm schwante Böses und Wut stieg in ihm auf.
“Ich kann es nicht sagen, Herr“, antwortete Norwan mit fester Stimme. Er war einer der wenigen, die sich von Engnarns häufigen Wutanfällen nicht verängstigen ließ. “Anscheinend hat Gondor Vorbereitungen auf die Schlacht getroffen.“
Als sie näherkamen, wurde das unförmige Gebilde zu einer gewaltigen Mauer, die mit starken Toren und einer Reihe von Abwehrtürmen gesichert war.
“Wie ist es ihnen gelungen, in solch kurzer Zeit eine Verteidigung dieser Größe zu errichten?“, fragte Engnarn einerseits verblüfft, aber noch wütender als zuvor. Seine Fingerknöchel, die die hölzerne Reling umfassten, wurden zunehmend weiß und sein Gesicht steinhart.
“Seht, Herr!“, rief Norwan plötzlich und deutete mit seinem Finger auf die Mauer. Engnarn folgte dessen Richtung und was er dort sah, sorgte dafür, dass sein Mund kurz offen stehenblieb. Tausende, zehntausende schwarze Gestalten tummelten sich zwischen der riesigen Mauer und dem Westufer des Anduin. Einige griffen das einzige Tor der Mauer an, andere versuchten mit Leitern die Mauer zu erklimmen. Ein paar weitere Gestalten standen etwas abseits und griffen offensichtlich die Verteidiger der Mauer mit Fernkampfwaffen an. Niemals zuvor hatte Engnarn oder sonst einer der Korsaren aus Umbar ein Heer gesehen, das auch nur ansatzweise der Größe dieses Heeres gleichkam.
“Es war eine gute Idee, sich mit Morgoth dem Unterdrücker zu verbünden, Herr“, meinte Norwan und zum ersten Mal an diesem Tag erschien ein grimmiges Lächeln auf dem Gesicht des Fürsten von Umbar.
“Dem stimme ich zu, Norwan“, antwortete er, dann gab er den Befehl zum Anlegen. “Macht euch bereit für die Schlacht, Männer!“
“Es ist an der Zeit, die Vorherrschaft Gondors zu beenden“, sagte er lächelnd, dann wandte er sich ab.
“Plinnie!“, rief Celeborn und mit der Fanfare neben ihm, die auf seinen Ruf antwortete, folgten hunderte der geforderten Pfeile und fanden ihren Weg in die schwarze Masse zu ihren Füßen. Seit über einer Stunde lief der Angriff der Orks und hatte Celeborn schon zuvor geahnt, dass die große zahlenmäßige Überlegenheit der Orks ein gewaltiger Vorteil in dieser Schlacht sein würde, wusste er nun, dass dies bei weitem nicht der einzige Vorteil der Angreifer war. Neben ihrer großen Zahl und ihrer zwar nicht übergroßen, aber stark verbesserten Disziplin auf dem Schlachtfeld waren die Orks zudem auch noch besser ausgerüstet und motivierter auf den Kampf als es viele der Elben noch vor der Schlacht gewesen waren. Dennoch, Celeborns Kampfgeist war so stark wie eh und je. Schon längst hatte er es aufgegeben, die Pfeile zu zählen, die seinen Bogen verlassen hatten oder die Toten, die diese Pfeile gefordert hatten. Sie mussten so lange durchhalten wie nur irgend möglich, denn keiner der anderen Verteidiger, seien es Menschen oder diese erdgeborenen Zwerge, waren für die Orks auch nur ansatzweise ein so großes Hindernis wie die fast achttausend Elben, die den äußersten Mauerring verteidigten. Kein Volk trotzte Morgoth schon so lange und es war kein Wunder, dass ausgerechnet sein, Celeborns Volk der Elben, das erstgeborene war. Sie waren die ersten Kinder Ilúvatars und sie würden sich mit allem, was sie hatten, den Dunkelheiten Morgoths entgegenstellen. Wieder ließ Celeborn das Signal geben und ein weiterer Pfeilhagel ergoss sich über die schwarzen Gestalten am Fuße der Mauer. Langsam sah er sich um und versuchte sich ein Bild von der Lage auf dem Schlachtfeld zu machen. Das Tor, das natürlich zum Ziel des Hauptangriffes der Orks auserkoren worden war, hielt nach wie vor stand, auch wenn die Orks inzwischen einen großen Rammbock einsetzten. Auf der Mauer war die Situation kritischer: Überall versuchten die Diener der Dunklen Hand auf Leitern und ähnlichem das riesige Steingebilde zu erklimmen. Immerhin war ihnen noch nicht aufgefallen, dass in der Mauer selbst kaum Mörtel verarbeitet war, sonst läge das gesamte Werk wohl bereits in Trümmern. Zwar hatte noch keiner der zahlreichen Stoßtrupps wirklich auf der Mauer Fuß fassen können, doch während die Reihen der Elben sich langsam aber sicher lichteten, rückten für jeden gefallenen Ork drei nach. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Stellungen überrannt werden würden. Als Celeborn soeben den Blick Richtung Süden wandte, fielen ihm mehrere Gebilde am Horizont auf, die sich deutlich gegen die trübe Fassade der Landschaft rund um den Anduin abhoben. Nach mehrmaligem Hinsehen erkannte Celeborn, dass es sich dabei um Schiffe handeln musste, Schiffe aus dem Süden. Die Korsaren aus Umbar waren gekommen, noch mehr Feinde, noch eine Streitmacht mehr, die der Dunklen Hand Morgoths unterstand. Fast hätte der Elbenfürst den Mut verloren, doch er tat es nicht. Er wollte kämpfen für die Freiheit Mittelerdes und die seines eigenen Volkes. Schon wollte er seinen Blick wieder auf's Schlachtfeld richten, als etwas im Nordosten seinen Blick auf sich zog. Dort, neben den Gipfeln des Aschengebirges, inmitten der Braunen Lande, zog sich ein langsamer, grauer Wurm dahin. Mehrere kleine Türmchen ragten daraus hervor und als Celeborn das Schauspiel eine weitere Minute beobachtet hatte, war er sich sicher: Dieser graue Wurm stellte das Heer der Menschen von Khand, Rhûn und Harad dar. Die kleinen Türmchen waren wohl Mûmakil, die schrecklichen Ollifanten aus den weiten Ebenen des Landes Rhûn. Nochmal zwanzigtausend, wenn nicht gar noch mehr Feinde, die zu bekämpfen waren. Celeborns Mut schwand weiter, bis ihn ein Elb am Arm berührte.
“Herr?“, fragte dieser und interpretierte den fragenden Blick des Elbenfürsten als Zeichen der Aufmerksamkeit. “Seht selbst, denn ich denke, ihr solltet in die Stadt zurückkehren.“
Geschockt warf Celeborn einen Blick auf die Mauer. An drei Stellen hatten die Orks nun die Verteidigung der Elben überwunden und ein Fluss aus schwarzen Gestalten ergoss sich über das Gemäuer. Weitere Leitern flogen heran und die schwarze Flut wollte nicht enden. Schnell schluckte Celeborn und nickte kurz, dann rannte er die Treppen zum Boden des Turmes hinab.
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