XIII

"Herr Tuk! Hier möchte jemand mit euch sprechen!", drang es an die Ohren von Edmar Tuk, den Thain des Auenlandes. Erschöpft richtete sich der recht groß gewachsene (er maß von Kopf bis Zeh fast vier Fuß) Hobbit von seinem mit Papier, Tinte und dem ein oder anderen Stückchen Essen bedeckten Schreibtisch auf.
"Schickt ihn rein", rief er zurück, dann ließ er sich auf einen Stuhl in seinem Empfangszimmer sinken. Er ahnte bereits, wer dort mit ihm sprechen wollte und welche Kunde er ihm bringen würde. Fast eine Woche war vergangen, seitdem Edmar die Hobbits gegen die Bedrohung der Orks zu den Waffen gerufen hatte und noch war kein endgültiges Ende der Auseinandersetzung abzusehen. Zwar waren die Orks im Gegensatz zu den Hobbits im Kampf ausgebildet, doch die Auenländer machten dies durch ihre Tapferkeit und den Willen, das eigene Land zu verteidigen, wieder wett. Dennoch rückten täglich neue Orks aus dem Nordwesten heran und nun würde der Tag gekommen sein, an dem die Verteidigung der Hobbits endgültig zusammengebrochen war. In diesem Moment trat Tino Horrat ein, der Hobbit, der ihn damals vor dem Einfall der Orks gewarnt hatte und ihm seitdem immer wieder über die Lage an der "Front" (Edmar konnte und wollte dieses Wort immer noch nicht richtig verstehen) berichtete.
"Es ist zwecklos", begann Tino und warf sich erschöpft auf einen Stuhl. Sein jugendliches Gesicht mit den roten Pausbacken war blass und verschwitzt, seine Kleidung war ungepflegt und dreckig, Dinge, die ein jeder Hobbit nicht im Geringsten ausstehen konnte. "Wir können nichts mehr tun, wir werden überrannt."
Stille senkte sich über den Raum und beide hingen ihren düsteren Gedanken nach.
"Ja", unterbrach Edmar das Schweigen. "Ich habe erwartet, dass ihr mir eine solche Nachricht überbringt."
"Was sollen wir jetzt tun, Thain?", fragte Tino verzweifelt und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. "Diese Orks sind gnadenlos, sie werden uns in Stücke hacken."
"Ja", antwortete der Thain erneut und sah zum Fenster hinaus. "Die Lage ist verzweifelt und deshalb müssen wir zu verzweifelten Maßnahmen greifen."
"Maßnahmen?" Der junge Grenzer sah auf. "Was für Maßnahmen meint ihr?"
Edmar Tuk stand auf und nahm von einem kleinen Tischchen in der Nähe ein zusammengefaltetes Blatt Papier, dass wohl schon etwas älter zu sein schien. Es hatte eine bräunliche Färbung angenommen und war sehr dick und als der Thain es auf seinem Schreibtisch ausbreitete, erkannte Tino, worum es sich handelte: Dieses Papier war eine Karte von Mittelerde, wohl schon einige Jahre alt.
"Diese Karte gehörte einst Bilbo Beutlin, der Onkel des Vetters von Peregrin Tuk, meinem Vorfahr", erklärte Edmar. Sanft strich er die Karte mit den Fingern glatt und winkte Tino zu sich.
"Seht hier hin", meinte er und deutete auf eine Stelle auf der Karte. "Dies ist unser Auenland in seiner ganzen Schönheit. Hier", er zeigte auf eine weitere Stelle, "liegt das Königreich Gondor, heute das Wiedervereinigte Königreich mit seiner Hauptstadt Minas Tirith."
Der Thain zog eine Linie vom Auenland zu dem Ort, der auf der Karte mit 'Minas Tirith' bezeichnet war. "Dies ist der Weg, den wir gehen müssen, ein gefährlicher Weg, aber der einzige Weg, der in die Sicherheit führt."
Tino Horrat blickte den Hobbit vor sich, den er nun seit einigen Jahren kannte, fragend an. In diesen wenigen Tagen, in dieser einen knappen Woche hatte sich der Thain mehr verändert als in den zehn Jahren zuvor. Aus dem gemütlichen Hobbit, der nie eine Mahlzeit verpasste, wie ein Verrückter Mathoms sammelte und mit der zahlreichen Verwandschaft Tee trank und Pfeife rauchte, aus dem Muster-Hobbit, der jeden Samstagabend stets in den Grünen Drachen auf ein oder zwei Bier ging war ein Hobbit geworden, der den berühmten Beutlins, Bilbo und Frodo, in der Tapferkeit, die in Hobbits so tief verwurzelt ist, in nichts nachstand. Tino hätte ihm glatt zugetraut, dass er sich aus seiner umfangreichen Sammlung an Mathoms bediente und mit einem dieser alten Schwerter in der Hand auf die Orks an der Grenze losstürmte. So ungern Tino sein schönes Leben aufgeben wollte, so sehr wusste er doch auch, dass die Wahl, die sie sich hier vorgaukelten, in Wirklichkeit gar keine war. Dieser Weg war der einzige Weg.
"Ihr habt recht, Thain", sagte er entschlossen. "Wir müssen alle Hobbits davon in Kenntnis setzen, es muss durchs ganze Auenland hallen: Wir ziehen nach Minas Tirith!"

Zwei Pferde, ein schwarzes und ein braunes mit einem blau und einem schwarz gekleideten Reiter, preschten im gestreckten Galopp über eine Ebene südlich der Eisenberge. Sechs Tage waren vergangen seit der Nacht, in der sie sich beide zum ersten Mal getroffen hatten und nun hatten sie ihre Strecke fast hinter sich gebracht. Das Haus, dass das Ziel ihrer langen und mühsamen Reise war, lag bereits deutlich sichtbar am Horizont vor ihnen. Alatar, der blau gekleidete Istari, drosselte sein Tempo und ritt direkt neben Cugulim, der als Bote aus Minas Tirith den schwarzen Überwurf mit dem weißen Baum Gondors darauf trug.
“Das ist die Hütte meines Bruders“, rief er ihm zu. “Wir müssen vorsichtig sein, denn in den vielen Jahren, in denen Pallando hier draußen lebt, ist er misstrauisch und paranoid geworden.“
Cugulim nickte nur als Antwort, dann legte er die letzten Meter zurück, die ihn und seinen Begleiter noch von der kleinen, von Felsen geschützten Hütte trennten. Am Häuslein angekommen, saßen sie ab und ließen die Pferde an einer nahen Quelle trinken. Alatar und Cugulim gingen um die Hütte herum und blickten auf eine niedrige hölzerne Tür, die den Eingang zur Hütte bildete.
“Es ist bereits einige Monate her, dass ich zuletzt hier war“, meinte der Zauberer. “Ich habe dich gewarnt, mehr kann ich nicht tun. Versuche, sein Vertrauen zu gewinnen.“
Dann nahm er seinen Stab zur Hand und klopfte mit der oben an diesem befestigten Kugel dreimal laut gegen die Tür.
“Pallando!“, rief er laut, dann warteten sie. Eine halbe Minute später hörte man schlurfende Schritte, dann öffnete sich die Tür um einen Spalt.
“Alatar?“, ertönte eine leise, leicht zitternde Stimme aus dem Haus. Sekunden später tauchte im Türspalt ein Gesicht auf, dass dem des angesprochenen Zauberers verblüffend ähnlich sah, dieselben grauen Augen, derselbe weiße Bart, nur fehlte Pallando das sanfte Lächeln, dass Alatar seit Cugulim ihm begegnet war, nicht abgelegt hatte. Die Augen waren gefüllt von dunklen Sorgen und als sie den Herold aus Gondor erblickten, weiteten sie sich schreckhaft.
“Bruder! Es ist schön, doch zu sehen“, antwortete Alatar lächelnd.
“Wer ist das?“, fragte Pallando mit zitternder Stimme und ließ dabei Cugulim nicht aus den Augen.
Alatar lächelte weiter, offenbar wusste er genau, wie dieses Gespräch ablaufen würde. “Dies, mein Freund, ist Cugulim, ein Bote aus Gondor“, erklärte er dem verwirrten Zauberer. “Ich habe ihn in einem Hinterhalt das Leben gerettet und er hat mir Informationen über Gondor und den Westen gegeben.“
Pallando öffnete die Tür um ein paar wenige Zentimeter, doch dann hielt er inne.
“Du hast es auch gespürt, nicht wahr, Bruder?“, fragte Alatar nun eindringlicher. “Du weißt, was vorgeht in der alten Welt des Westens. Du weißt, dass wir handeln müssen, unsere Aufgabe erfüllen müssen.“
Pallando schien einen Moment nachzudenken, dann öffnete er die Tür ganz und gab den Blick auf seinen langen, dunkelblauen Mantel frei, der eins zu eins dem Alatars entsprach.
“Ja, mein Bruder, ich sehe, dass du recht hast“, sagte Pallando nun mit fester Stimme. Mit einer ausladenden Handbewegung forderte er sie auf, die Hütte zu betreten. “Kommt herein und ruht euch von eurer Reise aus! Es gibt viel zu sagen und noch mehr zu hören und die Zeit ist knapp. Die Bedrohung im Westen, sie rückt immer weiter vor.“

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