XXII

Die Stille im Raum war erdrückend. Einzig das Knistern des Feuers durchbrach jene unheilvolle Ruhe, die sich über die Hütte gelegt hatte. Lóriel und Lindolór hatten sich in zwei gepolsterten Sesseln am Feuer niedergelassen und waren ebenfalls vollkommen ruhig. Beide hatten in den vergangenen Wochen um eine Vielzahl an grauen Haaren und tiefen Gesichtsfalten zugelegt und die Erschöpfung des Alters sprach deutlich aus ihren Gesichtern. Lóriel hielt den Kopf gesenkt und war tief in das Polster ihres Sessels gesunken, einzig ihre halb geöffneten Augen verrieten, dass sie nicht schlief. Fast siebentausend Jahre lagen nun auf ihren Schultern und es schien, als würde diese Last sie nun in den letzten Schlaf drücken.
"Wir müssen unserer Aufgabe nachkommen, Nellas", flüsterte Lindolór mit unfassbar schwacher Stimme durch den Raum und versuchte, ein schwaches Lächeln aufzusetzen. Seine Frau nickte nur knapp und mühte sich, aus ihrem Sessel aufzustehen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es soweit war, das wussten sie beide, deshalb war es nun an der Zeit, ihre letzte Aufgabe zu erfüllen.
"Ich hole sie", sagte Lóriel schwach und ging langsam, aber immer noch mit elbischer Erhabenheit aus dem Raum, nur um kurz darauf mit einer kleinen, bereits etwas vergilbten Schriftrolle zurückzukehren.
"Ich hätte nicht gedacht, dass es so endet", meinte Lindolór schwach, als Lóriel sich wieder neben ihn setzte, die Schriftrolle in der Hand. Sein Blick lag auf dem langsam verlöschenden Feuer, das lange Schatten auf den hölzernen Boden warf. "Die Schatten werden länger, Nellas. Es ist Zeit."
Lóriel hob den Kopf und sah ihren Mann an. Neben der Müdigkeit und Erschöpfung sprach aus ihren Augen auch etwas anderes, ein Glitzern voller Zärtlichkeit. "Wir werden es gemeinsam tun."
Lindolór nickte und lächelte, dann stand er gemeinsam mit Lóriel auf. Vorsichtig rollte sie die kleine Rolle auf und überflog ihren Text noch einmal mit ihren Augen. Durch alle Jahrtausende hindurch waren sie die Hüter jener Prophezeiungen gewesen, hatten sie an andere weise Menschen weitergegeben, nun war nur noch eine Prophezeiung übrig. Ganz unten, am Rand des Papieres war sie angebracht, in Sindarin, Quenya und Andûnaïsch, der Sprache von Númenor. Wann diese Prophezeiung eintreten würde, wusste außer Ilúvatar wohl keiner und doch würde sie eintreten, wenn das Ende gekommen war. Doch für diese Welt war sie nicht bestimmt, nicht für die Augen der Sterblichen und auch nicht für ihre eigenen, weshalb sie nun aus der Welt getilgt werden würde.
"Ich habe meinem Vater versprochen, diese Rolle nicht in die Hand des Feindes fallen zu lassen", sagte Lindolór mit einem leichten Lächeln im Gesicht. "Heute ist wohl der Tag gekommen, an dem ich dieses Versprechen einlöse."
"Schon bald wirst du ihn wiedersehen", meinte Lóriel sanft und nahm seine Hand in ihre eigenen zitternden Finger. "Doch nun müssen wir unsere Aufgabe vollenden."
Vorsichtig trat Lóriel an das nahezu vollständig verglühte Feuer und sah hinein. Dann schloss sich ihre Hand um die kleine Rolle und sie hielt diese langsam über die Glut. Dann öffnete sie ihre Hand und das kleine Stück Papier fiel in die Glut. Nichts geschah. Das Papier fing keinerlei Feuer, es rauchte nicht einmal. Stattdessen lag es einfach dort, im Feuer, und schien auf etwas zu warten. Lindolór wusste, was er zu tun hatte. Langsam trat er neben seine Frau ans Feuer und streckte seine rechte Hand in Richtung des Papiers. Sein ganzer Arm zitterte und Lóriel hatte kurz Angst, dass ihr Mann jeden Moment vornüber ins Feuer stürzen würde, bis sich sein Arm festigte. Dann sprach er mit klarer, fester und erhabener Stimme die Worte: "Símen termáre-i kal-o estel, ullúme mirima-o ulcu."
Eine Stichflamme brach aus der Glut hervor und verzehrte die Rolle in Sekunden. Nach zehn Sekunden war nur noch Asche von dem geblieben, was einst das Schicksal ihrer Welt getragen hatte. Vorsichtig setzten Lindolór und Lóriel sich wieder. Ihre Beine waren wacklig und schienen ihnen nicht mehr recht gehorchen zu wollen, doch beide schafften sie es, sich in ihre Sessel sinken zu lassen. Lóriel warf einen Blick auf das Feuer, das sich inzwischen wieder zu einer langsam verlöschenden Glut entwickelt hatte und sah anschließend ihren Mann an.
"Dairon", sagte sie, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. "Dairon."
Er wandte ihr seinen Kopf zu. Schrecklich alt und gebrechlich sah er aus und ihr wurde einmal mehr klar, was sie beide an diesem Tag noch erwarten würde.
"Die Kraft der Hütte schwindet, Nellas", sagte er mit zitternder Stimme, "genau wie die unsere. Sie werden uns schon bald gefunden haben."
"Ich weiß", antwortete Lóriel und griff nach seinem Sessel, wo ihre Hand auf der Armlehne verharrte. "Aber wir haben uns lange genug auf diesen Moment vorbereitet, Dairon. Wir sind bereit."
"Ich wäre es nicht, wenn du nicht hier wärst", flüsterte Lindolór und legte seine Hand auf die ihre. Dann drehte er seinen Kopf zu ihr und sah sie zärtlich an. "So lange sind wir nun schon hier und so lange warten wir schon darauf, dass das hier passiert. Es ist gut und wir sind bereit dafür, du und ich."
"Was würde ich nur ohne dich tun?", fragte Lóriel mit Tränen in den Augen und schniefte.
"Wir werden es wohl niemals erfahren." Ein Lächeln stahl sich auf Lindolórs Lippen. "Das müssen wir gar nicht. Schon bald werden wir für die Ewigkeit vereint sein."
Ein krachendes Poltern, gefolgt von einem Fauchen, drang aus dem Flur zu ihnen und unterbrach ihr Gespräch.
"Hast du Angst?", fragte Lindolór leise und sah seiner Frau tief in die Augen.
"Nein, Dairon." Auch sie sah ihn fest an. "Ich weiß, dass du bei mir bist. Ich brauche keine Angst zu haben."
Lächelnd beugte Lindolór sich langsam vor und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. "Es ist vollbracht."

"Dort hinein!", schrie der Ork-Hauptmann in Schwarzer Sprache und deutete auf eine Tür, hinter der er den flackernden Schein eines Feuers ausgemacht hatte. Ihre Patrouille hier war nicht sinnlos gewesen, wie er anfänglich gedacht hatte, stattdessen waren sie nach einiger Zeit auf diese alte Hütte gestoßen, die sich an einen der zahlreichen Hügel in der Gegend schmiegte. Seine Späher hatten zwei alte Elben ausgemacht, die allein an einem Feuer in der Hütte saßen. Für die Orks war klar, dass diese beiden nur eines verdient hatten: den Tod. Schon brach einer der Orks die Tür auf und alle stürmten sie in das große Esszimmer, zuletzt auch der Hauptmann. Die Orks hatten sich am Eingang postiert und für ihn Platz gelassen. Freudig bleckte er die Zähne, als er die mit grauen Haaren bedeckten Hinterköpfe der zwei Elben in den Sesseln erkennen konnte. Nun würden sie ihrem gerechten Schicksal zugeführt werden.
"Willkommen, Diener des Gefallenen", klang es plötzlich klar und fest aus einem der Sessel. Alle Orks schienen wie erstarrt, irgendetwas konnte hier nicht stimmen. "Wir haben euch bereits erwartet. Kommt und erfüllt, was man euch aufgetragen hat."

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