XVII
“Was habt ihr mit dem Maiar vor?“, fragte Nirành Cugulim, als sie den Thronsaal verließen und draußen auf den Platz an der Spitze von Minas Tirith traten.
“Das alles wird ihm nicht gefallen“, murmelte Cugulim und trat an die Brüstung.
“Was meint ihr?“, fragte Nirành überrascht und sah Cugulim an. Dessen Blick war jedoch starr nach unten gerichtet, auf den Pelennor, wo ein langer schwarzer Wurm dahinzog.
“Er hat euch nie den Auftrag gegeben, die Orks wegzuschicken.“
“Nein, das hat er nicht.“ Cugulim wandte seinen Blick von den Orkscharen ab und sah Nirành fest an. “Er hat mir versprochen, Menschen zu schicken, die mich gegen die Orks verteidigen, sollten sie mich hintergehen wollen. Er hat mir Unterstützung versprochen. Aber niemals hätte er mich gebeten, die Orks zurück nach Gorothos zu schicken. Es hätte seine eigene Position untergraben und Morgoth einen Großteil der Macht genommen, die er hier besitzt.“
Für kurze Zeit war nur das rhythmische Marschieren der Orks zu hören. “Ihr wusstet von Anfang an, dass wir euch helfen würden.“
“Nun, zumindest war ich guten Mutes, dass ihr auf den Weg gelangen werdet, der für euer und mein Volk der beste Weg ist.“ Cugulim lächelte. “Ein weiser Mann sagte mir einst, dass die Hoffnung für Mittelerde nun auf den Menschen liegt. Wir sind dazu gerufen, diese Voraussage zu erfüllen.“
Nun war es Nirành, der nicht antwortete und seinen Blick in die Ferne schweifen ließ. “Wäre ich vor drei Monaten hier neben gestanden, hätte ich euch ohne zu zögern umgebracht.“
“Nun, zu meinem eigenen Schutz hoffe ich, dass ihr diese Einstellung inzwischen überarbeitet habt.“ Cugulim hatte das Lächeln nicht verloren.
“Wenn dem nicht so wäre, wärt ihr bereits einen Kopf kürzer, seid euch dessen gewiss“, antwortete Nirành mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht. “Ich fürchte, wenn wir nicht in diese Situation geraten wären, würde ich euch genauso umbringen.“
“Ihr müsst einen großen Hass auf mein Volk haben.“
“Ihr habt es selbst gesagt, eigentlich sind wir alle ein Volk.“ Stirnrunzelnd schüttelte der Haradrim den Kopf. “Und dennoch: Diese Feindschaft ist älter als wir beide. Sagt mir, Cugulim, was wurde euch über unsere Länder und die Menschen, die sie bewohnen, erzählt?“
“Mein Vater meinte stets, dass der wilde Osten schon viel Leid über unser Land gebracht hat. Er sprach von euch als den Wilden ohne Gewissen und Zivilisation, die neben dem Essen, Jagen und Saufen einzig das Töten beherrschen. Dennoch muss ich ihn zugute halten, dass er immer wieder davon sprach, wie schlimm es sei, dass die Menschen unter sich so viele Kriege führen würden.“
“Mein Vater nahm mich einst mit auf einen großen Hügel in der Steppe von Nah-Harad, wie ihr es nennt, und zeigte mir das ganze Land um uns herum“, meinte Nirành nach einer kurzen Stille. “Er meinte, dass dieses ganze Land einst uns gehört habe und dass die Feiglinge und Diebe aus dem Westen es uns genommen hätten. Von klein auf wurde dazu erzogen, den König, dem ich und mein Vater dienten, zu hassen.“
“Und da stehen wir.“ Cugulims Blick schweifte über die Ränder der Stadt und auf den Pelennor, wo die Orks langsam außer Sichtweite gerieten.
“Ja, hier stehen wir. Wenn unsere Väter uns jetzt sehen könnten...“
“Ein Sohn ist nicht sein Vater. Wir können einen Neubeginn starten, die alten Feindseligkeiten beseitigen.“
Nirành drehte sich zu Cugulim um, lächelte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Das haben wir bereits getan, Cugulim, zumindest zwischen uns. Unsere Völker werden es uns gleichtun.“
“Wie könnt ihr euch da so sicher sein?“, fragte Cugulim ungläubig.
“Die Menschen von Minas Tirith betrachten uns nicht als ihre Befreier, sondern als neue Eroberer. Wenn wir ihnen zeigen können, dass wir ihnen helfen wollen, werden sie unsere Anwesenheit annehmen.“
“Wie wollt ihr das tun?“ Cugulim hatte immer noch nicht ganz verstanden, worauf Nirành hinauswollte. “Wie könnt ihr meinem Volk so helfen, dass es euch vertraut?“
“Der Maiar“, antwortete Nirành und seine Augen blitzten vor Kampfeslust.
“Túranto?“ Cugulim brauchte einen Moment, um zu realisieren, was der Fürst der Haradrim soeben gesagt hatte. “Was wollt ihr mir ihm tun?“
“Sein Tod wird Minas Tirith unsere Treue beweisen.“
“Er ist ein Maiar, ihr könnt ihn nicht töten!“
“Dann nehmen wir ihn gefangen, schaffen ihn aus dem Weg“, erwiderte Nirành. “Er darf unsere Vorhaben nicht behindern.“
Für einen kurzen Moment war es vollkommen still. “Wir sollten einen Plan ausarbeiten.“
“Das sollten wir“, bestätigte Nirành den jungen Verwalter und nickte. “Wisst ihr, wann er zurückkehren wird?“
“Ich denke, Túranto wird frühstens in einer Woche hier eintreffen, doch ich kann keine Versprechungen machen.“
“Wenn er kommt, müssen wir bereit sein.“
“Ihr habt recht, Nirành.“ Cugulim lächelte gedankenverloren und starrte ins Leere. “Und da wir nicht wissen, wann er kommt, müssen wir immer bereit sein.“
“Dann werden wir das tun“, antwortete Nirành entschlossen und nickte. Sie hatten sich auf diesen Plan geeinigt, nun würden sie ihn vollziehen.
Stille trat ein. Cugulim starrte gedankenverloren auf den Pelennor hinab, auf dem die Orks soeben nach Nordwesten abbogen und deren Marsch leise in der Ferne verklang. Es schien, als wäre er endlich am Ziel angelangt, auch wenn er wusste, dass alle Mühen umsonst waren, sollten sie es nicht schaffen, Túranto außer Gefecht zu setzen.
“Einer der Männer aus Rhûn, die vor ein paar Wochen eingetroffen sind, hat mich nach euch gefragt“, sagte Nirành aus dem Nichts und sah Cugulim an. Nach kurzem Verharren drehte dieser seinen Kopf und sah den Fürst der Haradrim fragend an. “Er sagte, ihr hättet euch bereits einmal getroffen und er schien nicht froh darüber zu sein.“
Ein kleines Lächeln stahl sich auf Cugulims Gesicht. “Ich weiß, wen ihr meint, ich habe ihn auch erkannt.“
“Ich möchte nicht, dass irgendetwas die gute, neugeschaffene Beziehung zwischen unseren Völkern gefährdet, Cugulim. Wenn es etwas gibt, dass einer Klärung bedarf, möchte ich euch bitten, dies zu klären.“
“Macht euch keine Sorgen, Nirành.“ Cugulim lächelte immer noch. “Ich habe diesen Mann erst einmal getroffen, in der Steppe im Westen von Rhûn. Merac, der Fürst von Rhûn, hatte befohlen, mich zu töten.“
Er machte eine kurze Pause und sah Nirành etwas genauer an. “Vielleicht erinnert ihr euch. Ich war damals als Bote von König Eldarion bei euch und habe euch um Unterstützung im Kampf gegen Morgoth gebeten.“
“Und ich habe euch fortgejagt.“ Nirành wandte den Blick ab. “Nur einer der vielen Fehler, die ich in dieser Zeit begangen habe.“
“Hättet ihr damals anders gehandelt, ständen wir jetzt womöglich nicht hier und hätten nicht die einmalige Gelegenheit, die Feindschaft unserer Völker zu beenden.“ Cugulim klopfte Nirành aufmunternd auf die Schulter. “Jedenfalls tauchte dann einer der Istari auf, schlug meine Angreifer nieder und brachte mich zu sich. So hat damals alles für mich angefangen, ich kann ihm also vielleicht sogar dankbar sein, dass er diesen Stein ins Rollen gebracht hat.“
Nirành sah ihn ungläubig an. “Es fasziniert mich, dass ihr so viel Gutes aus einer solch schlechten Tat ziehen könnt.“
“Nun, mein Freund, die Zeiten sind dunkel. Wenn wir immer nur das Schlechte sehen, ist unser Kämpfen vergebens.“ Cugulim drehte sich um und winkte Nirành, ihm zu folgen. Gemeinsam schritten sie über den Platz und auf den Thronsaal zu.
“Wir sollten uns darauf vorbereiten, diesem Bösen gegenüberzustehen. Wenn Túranto kommt, müssen wir wachsam sein. Doch ich bin mir sicher“, Cugulim lächelte Nirành erneut an, “die Menschen werden das Dunkel besiegen, vereint gegen Morgoth.“
“Vereint gegen Morgoth.“ Auch Nirành lächelte, dann schüttelte er den Kopf und betrat den Thronsaal.
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