XLIII

Drei Wochen später

Aiyas Blick richtete sich nach Westen, dort, wo weit in der Ferne das große Meer lag. Nicht nur ihr Blick, sondern auch ihre Gedanken schweiften in die Ferne. Vollkommen ruhig saß sie auf ihrem Pferd, den Kopf schon auf das ausgerichtet, was nach der bald anbrechenden Nacht folgen würde. Morgen würde sie zur ersten Hochkönigin von Gondor und Arnor gekrönt werden, ein prunkvolles Fest erwartete sie, auf das sie sich nicht vorbereitet hatte. Manchmal hatte sie gar erwogen, diese Würde, die für sie allerdings in großen Teilen auch eine Bürde sein würde, abzulehnen, doch sie wusste, dass sie diese Möglichkeit eigentlich nicht hatte. Ihrem Volk war so viel genommen worden, nun musste sie ihm helfen und Beständigkeit in diese unruhigen Zeiten bringen. Jetzt hieß es jedoch erst einmal, Legolas zu verabschieden. Der Elb hatte die vergangenen drei Wochen bei ihr in Minas Tirith verbracht und ihr geholfen, das Leben in der Stadt und auch ihre eigenen Probleme in den Griff zu bekommen. Nun war es für ihn an der Zeit, sie zu verlassen und nach Valinor zurückzukehren. Nach all dem, was er für sie getan hatte, war sie ihm sehr dankbar für seine Hilfe in den schwierigen Situationen der vergangen Wochen. Er hatte ihr geholfen, nach dem Tod ihres Geliebten, ihres Bruders und ihrer besten Freundin auch noch über den Verlust des letzten Menschen, der sie noch an ihre Vergangenheit vor dem Krieg erinnert hatte, Cugulim, hinwegzukommen. Er war in der Nacht, nachdem Aiya ihn besucht hatte, gestorben und vor zwei Wochen bestattet worden. Nun gab es nichts mehr, was sie an die Zeit erinnerte, bevor Morgoths Erweckung entdeckt worden war. Es war an der Zeit, etwas Neues zu erschaffen, und dazu gehörte auch die Tatsache, dass Legolas sie verlassen musste. Langsam wandte sie ihren Kopf nach rechts, wo der Elb auf einem schneeweißen Schimmel saß und ebenfalls in den Westen sah. Dort sank bereits die Sonne über den Gipfeln der Ered Nimrais und der Himmel verdunkelte sich langsam. Der April begann sich immer mehr zu entfalten und so war es selbst jetzt noch angenehm warm, doch Legolas, das wusste Aiya, wäre auch durch den kältesten Schneesturm geritten, um dorthin zurückzukehren, wo er hingehörte. Er musste nicht nur zurück, er wollte es auch. Wie alle Elben zog auch ihn es auf die anderen Seite des Meeres. Schließlich löste er sich aus seiner Starre und sah Aiya an. Sie standen auf einem Hügel nördlich der Stadt, sodass sie, wenn sie in Richtung der sinkenden Sonne sahen, die Weiße Stadt in ihrem Glanz erblickten. Bei all dem hatte er ihre beigestanden, nun war es an der Zeit für ihn, aufzubrechen.
"Du weißt, dass ich gehen muss", sagte er mit seiner zarten Stimme und sah sie an. In den vergangenen Wochen war er ihr ein sehr guter Freund geworden, doch sie hatte akzeptiert, dass er ausbrechen musste.
"Das tue ich", antwortete sie mit fester Stimme und erwiderte seinen Blick.
"Du wirst eine gute Königin sein", meinte der Elb lächelnd. "Auch, wenn ich genau weiß, wie wenig du diesen Thron anstrebst. In dieser Hinsicht bist du wie dein Großvater."
"Er ist weggelaufen", entgegnete Aiya ihm. "Er ist geflohen vor dieser Bürde."
"Das ist wahr", antwortete Legolas, ohne sein Lächeln abzulegen. "Doch er wurde in der Wildnis geboren und von Elben erzogen. Er wusste nichts davon, wie es ist, ein König zu sein. Deshalb ging er in den Norden und zog sich zurück, nur um schließlich doch seiner Bestimmung nachzugehen."
Legolas machte eine kurze Pause und sah Aiya intensiv an. "In den ersten Jahren hat er die Krone gehasst, doch er mit der Zeit hat er gelernt, mit ihr zu leben. Er wurde der wohl größte König, den diese Lande bisher gesehen haben."
Vorsichtig lenkte er seinen Schimmel näher an Aiyas Pferd heran, bis er ihr die Hand auf die Schulter legen konnte und ihr tief in die Augen sah. "Ich weiß, dass du das auch kannst, Aiya. Die Valar haben dich gegrüßt und zu dir gesprochen. Du bist ein besonderer Mensch, und besondere Menschen verdienen besondere Aufgaben."
Langsam lehnte er sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "Ich grüße dich, Aiya, Hochkönigin von Gondor und Arnor. Du wirst diesem Land zu du Freude verhelfen, auch wenn ihr selbst nicht mehr an Freude teilhaben kannst. Möge die Gunst der Valar dich beschützen."
Dann setzte er sich wieder zurück und sah ihr lang in die Augen, bis sich um ihren Mund ein zartes Lächeln bildete. Er nickte ihr noch einmal zu, dann drehte er sich um und lenkte sein Pferd den Hügel hinunter, in Richtung der Ered Nimrais. Aiya sah ihm hinterher und sah den Mann auf dem weißen Pferd immer weiter aus ihrem Blickfeld verschwinden. Über seinem Kopf hatte die rot leuchtende Sonne den Kamm der Berge bereits überwunden und langsam senkte sich Dunkelheit über die Ebenen von Gondor. Immer dunkler wurde es um die Weiße Stadt, bis sie schließlich ganz im Schatten der Berge lag und die Sonne fast versunken war. Obwohl Aiya nun die Kälte der nahenden Nacht verspürte, blieb sie dort, auf dem Hügel, und wartete. Sie wusste, was gleich erscheinen würde. Die Sonne schickte einen letzten Strahl auf die einsame Königin, dann tauchte der kleine Stern am Horizont auf, den Aiya erwartet hatte. Gil-Estel hieß er, Stern der Hohen Hoffnung. Er leuchtete heller als alle anderen Sterne am Himmel und war doch so klein. Aiya dachte zurück an die Geschichten, die man ihr erzählt hatte, in denen es hieß, dass dieser Stern der Schein eines der Silmaril sei, der an der Stirn Earendil über den Himmel fuhr. Ein bitteres Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Die vergangenen Ereignisse hatten ihr gezeigt, wie viel Wahrheit in solchen Legenden steckte. Sie warf einen letzten Blick auf den Stern, dann lenkte sie ihr Pferd zur Stadt hin, hinein in ein neues, altes Leben.

So endet also die Geschichte der Silmarili, viele Jahrtausende, nachdem Feanor sie aus dem Licht von Tag und Nacht schuf. Nur einer von ihnen blieb übrig, sein Licht verbindet des Morgens und des Abends das Licht von Tag und Nacht, steigt empor neben der Sonne und bringt Arda Hoffnung. Er fährt, gebunden an Earendils Stirn über den Himmel und verbreitet sein Licht, das Licht des letzten Silmaril.

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