I

Cugulims Blick schweifte über den leeren Thronsaal vor ihm. Es herrschte eine düstere Atmosphäre vor, kaum Geräusche waren zu hören und das graue Licht des nahenden Abends fiel durch die hoch oben angebrachten Fenster herein. Cugulim kam diese neue Situation immer noch ungewohnt vor, es verursachte in ihm ein mulmiges Gefühl, dass er selbst nun auf diesem Stuhl saß, um Gondor und Arnor zu verwalten. Einerseits wusste er um die Möglichkeiten, die ihm damit gegeben waren, auf der anderen Seite fühlte er auch die Angst vor den bevorstehenden Wochen und Monaten in sich aufwallen. Er war allein inmitten einer Horde von Orks, die ihm allesamt nicht wohlgesinnt waren und ihn nur deshalb am Leben ließen, weil ihr überaus mächtiger Herr, der nun für die nächste Zeit abwesend sein würde, es ihnen befohlen hatte. Bisher war noch nichts Auffälliges oder Nennenswertes passiert, doch Túranto hatte Minas Tirith auch erst heute Morgen verlassen. Morgen würden die von ihm angekündigten Menschen, die er Cugulim zu dessen Schutz und zur Wahrung seiner Autorität senden wollte, in der weißen Stadt eintreffen, doch bis dahin konnte noch viel passieren. Gerade wollte er sich aus seinem Sitz erheben und sich in einem kleinen Spaziergang auf andere Gedanken bringen, als das gewaltige Tor zum Thronsaal aufging. Ein einzelner Ork schleifte über den Boden, bis er vor Cugulim angekommen war und blieb vor ihm stehen.
“Ein Mensch ist angekommen“, sagte Ork mit kratziger Stimme. “Er sagt, er wäre ein Bote von irgendwelchen Menschenhäuptlingen.“
Menschenhäuptlinge? Cugulim war kurz verwirrt, bis er begriff, dass der Ork wohl schlichtweg von Oberhäuptern oder Fürsten der Menschen sprach. “Schickt ihn herein.“
Der Ork nickte zur Antwort, dann trottete er schleppend zum Tor zurück. Eine halbe Minute später kam er mit einer zweiten Gestalt im Schlepptau zurück. Als sie vor Cugulim angekommen waren, betrachtete er den Boten genauer. Seine schwarzen Haare waren nass und wirr und seinem ganzen Körper war die Erschöpfung deutlich anzumerken. Sein Rücken war ein wenig gebeugt, sein Schwert hing unordentlich an seiner Hüfte, seine lederne Rüstung war lächerlich verrutscht und mit Dreck überzogen. Dann warf Cugulim einen Blick in das Gesicht des Boten, in die nervös umherschwirrenden dunkelbraunen Augen und auf den schmalen Mund, dessen Mundwinkel leicht nach oben gezogen waren. Ihm perlte Schweiß von der dunklen Stirn und er sah aus, als wäre er seit Wochen auf der Flucht vor irgendetwas. Als Cugulim jedoch genauer hinsah, schien ihm dieses Gesicht vage bekannt vorzukommen. Ihm war klar, dass er diesen Menschen bereits einmal gesehen hatte.
“Lass uns allein“, sagte er kurz und freundlich zu dem Ork, der kurz widerstrebend grunzte, dann jedoch zurück in Richtung des Tores trottete. Als die großen Holzflügel zugefallen waren, wandte sich Cugulim an den Menschen. “Wie kann ich euch helfen?“
“Herr, ich bin der Bote meines Herren Nirành, des Fürsten von Harad“, sagte der Bote schnell und mit südländischem Akzent. “Mein Herr bittet euch um Zuflucht in eurer Stadt.“
Cugulim musterte den Boten eindringlich. Irgendetwas steckte hinter dieser Nachricht, dessen war er sich sicher. “Wieso sucht ihr hier Zuflucht, in dieser Stadt, wenn ihr doch aus den Ländereien von Harad kommt?“
Sein Tonfall war schärfer als beabsichtigt und Cugulim sah, dass der Bote ein wenig zurückwich.
“Wir befanden uns auf einer Reise in unsere Heimat, als wir auf dem Weg angegriffen wurden. Nun sind wir stark dezimiert und fürchten, in der Wildnis zugrunde zu gehen“, antwortete der Bote mit etwas gesenkter Stimme. “Diesen Brief von meinem Herrn soll ich euch überreichen.“
Der Bote zog einen kleinen Umschlag hervor und reichte ihn Cugulim. Sofort fiel ihm das rote Siegel auf der Rückseite auf, dass eine mehrfach gewundene Schlange zeigte. Cugulim erkannte das Siegel, es war das hoheitliche Siegel des Fürsten der Haradrim. Bezüglich dieser Information musste der Bote also die Wahrheit gesprochen haben. Vorsichtig brach Cugulim das Siegel auf, öffnete den Umschlag und holte den kleinen Brief heraus, der mit schwarzer Tinte und in krakeliger Schrift geschrieben war.
“Ihr wurdet von Orks angegriffen?“, fragte Cugulim erstaunt, als er den Brief fertig gelesen hatte.
“Das ist wahr, Herr.“
“Hat sich euer Fürst nicht mit Morgoth und seinen Truppen verbündet? Wieso greifen sie euch an?“, fragte Cugulim, obwohl er die Antwort auf dem Papier vor sich stehen hatte.
“Wir- wir wissen es nicht, Herr“, stotterte der Bote ängstlich. “Doch seid versichert, dass sich mein Herr niemals gegen den Dunklen Herrscher aufgelehnt hat!“
“Diese Antwort wird er mir selbst bestätigen dürfen“, antwortete Cugulim mit einem Hauch von Härte in der Stimme. “Ich werde euch ein Zimmer zuweisen lassen, dort könnt ihr verweilen, bis euer Herr eintrifft.“
“Ich danke euch, Herr“, antwortete der Bote und verneigte sich knapp. Schon wollte er den Saal verlassen, als Cugulim ihn noch einmal aufhielt.
“Halt!“, rief der Verwalter Gondors durch den Saal und sofort blieb der Bote stehen. Eine angespannte Stille herrschte plötzlich im Saal. “Wann wird euer König eintreffen?“
“Sie müssen in Teilen zu Fuß reisen, das erschwert ihr Vorankommen deutlich“, sagte der Bote und schluckte. “Sie werden frühestens in zwei Wochen hier eintreffen.“
“Danke“, sagte Cugulim und winkte ihn fort. “Ihr könnt gehen.“
Der Bote verneigte sich nochmals, dann drehte er sich um und beeilte sich, den Saal zu verlassen. Zurück blieb Cugulim, der auf seinem Stuhl saß, den Kopf in einen Arm gestürzt und die Augen nachdenklich gen Boden gerichtet. Ihm war eingefallen, wo er diesen Boten bereits gesehen hatte: Er war es gewesen, der Cugulim damals in den Ebenen von Rhûn zusammen mit einigen anderen Soldaten angegriffen hatte um ihn zu töten. Alatar hatte ihn damals gerettet, doch zuvor hatte der Anführer der Soldaten noch das Tuch, das seinen Mund verhüllt hatte, abgenommen. Es war das gleiche Gesicht gewesen wie das des Boten, den Nirành, der Fürst der Haradrim, ihm geschickt hatte. Doch dies war nicht der Hauptgrund für seine Nachdenklichkeit. Die Haradrim waren offenbar von Orks angegriffen worden. Dies war durchaus nicht ungewöhnlich, hassten Orks doch alles, was nicht ihrer Rasse angehörte. Dennoch hatten die Haradrim wie die anderen Menschenfürsten des Südens und Ostens ein Bündnis mit Morgoth geschlossen und standen mit den Orks auf einer Seite. Nirành schrieb in seinem Brief, dass die Orks von ihrer Unabhängigkeit erzählt hatten, dass dieser Angriff kein Befehl Morgoths war. Diese Information war für Cugulim von gewaltigem Wert, konnte sie ihm doch helfen, die Unterstützung Nirànhs für seinen Plan zu gewinnen. Wenn er den Fürsten der Haradrim davon überzeugen konnte, dass Morgoth sein Volk nur ausnutzte und es früher oder später in die Sklaverei führen würde, konnte er mit dessen Unterstützung rechnen. Cugulim wusste noch, dass Morgoth zwei der Menschenfürsten des Südens und Ostens umgebracht hatte. Er wusste, dass Nirành nun in Furcht vor Morgoth lebte, vielleicht war er also bereit, sich gegen ihn zu stellen. Stand der Fürst der Haradrim erst auf seiner Seite, würde sein Volk nicht lange zögern und es ihm gleichtun.
Abermals öffnete sich das große Tor und riss Cugulim aus seinen Gedanken. Der Ork, der Cugulim bereits das Kommen des Boten angekündigt hatte, kam erneut herein und blieb vor Cugulim stehen.
“Eure Befehle?“, sagte er scharf, aber auch mit Langeweile in der Stimme.
“Führt den Boten auf ein Quartier im obersten Ring, versorgt ihn dort mit allem, was er nötig hat, aber lasst ihn nicht zu weit von seinem Quartier weg“, antwortete Cugulim. “In den kommenden Wochen werden weitere Menschen eintreffen. Schickt sie zu mir, ich möchte mit ihnen allen reden. Tut ihnen nichts an, genauso wie dem Rest der Menschen, die hier noch leben! Ich stehe stets mit Túranto in Kontakt und seine Strafe wird gewaltig sein, wenn er von Fehltritten erfährt.“
Der Ork nickte erneut nur knapp, dann schlenderte er zurück Richtung Tor. Cugulim sah ihm hinterher und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dieser erste Tag hatte viel Kraft von ihm gefordert und es würden viele weitere kräftezehrende Tage und Wochen folgen.

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