Der letzte Funke Magie
Riechst du das Feuer? Den Geruch nach verbranntem Fleisch und Holz, den es hinterlässt? Siehst du seine Zungen? Diese Zungen lecken über den Stamm der Eiche, fressen sich durch das Holz bis zur Krone und vernichten erbarmungslos jedes Leben, das ihren Weg kreuzt.
Yasamira hat von ihrer Hütte aus einen guten Blick auf das Feuer, das sich durch den Wald ausbreitet. So schnell wie möglich rennt sie den Holzsteg entlang, der sie zu einer Linde führt. Zwei Elfenkrieger stehen am Fuß des gewaltigen Baums.
"Seid gegrüßt, Yasamira." Der rechte Elfenkrieger neigt den Kopf vor ihr. "Was führt Euch zu unserem Heiligtum?" Yasamira holt tief Luft. "Ein Feuer ist ausgebrochen. Bitte, lasst mich hinein! Wir dürfen die Magie nicht an das Feuer verlieren. Stirbt sie, sterben wir!" Die Krieger zucken zusammen. In der nächsten Sekunde drehen sie sich um und rennen zum Zentrum des Waldes. "Wartet!", ruft Yasamira, doch niemand reagiert auf sie. "Verdammt!" Was mache ich jetzt? Nur die Wächter können das magische Portal zum Herzen des Baumes öffnen! In diesem Moment dringen Schreie an Yasamiras Ohren. Schreie der Verzweiflung und Panik. Als sie sich umdreht, klappt ihr Mund auf. Das Feuer hat sich weiter ausgebreitet und mittlerweile die ersten Bäume ihres Territoriums erreicht. "Yasamira!" Eine tiefe, rauchige Stimme. Yasamira wendet sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine schwarzhaarige Elfe bleibt vor ihr stehen und stützt die Arme auf ihren Knien ab. "Orphia, gut, dass du hier bist. Ich brauche ..." "... später! Was machst du hier? Bring dich in Sicherheit, das Feuer wird in wenigen Augenblicken diesen Ort erreicht haben." Yasamira schüttelt den Kopf. "Sobald das geschehen ist, sind wir alle dem Untergang geweiht! Bitte, du musst das Portal zum Herzen der Linde öffnen. Wenn wir die Magie verlieren ..." "... sind wir verloren." Orphia schluckt. "Gut, ich helfe dir. Vergeude keine Zeit, sobald du das Herz erreicht hast." Yasamira nickt. "Aus tiefster Seele danke ich dir." Orphia legt eine Hand auf den Stamm der Linde und wispert ein paar Worte. Der Baumstamm knarrt und dann schwebt ein goldenes Licht auf Yasamira zu. Es wird heller und heller, so dass sie ihre Augen schließen muss. Gewisper dringt an ihre Ohren. Yasamira öffnet wieder ihre Augen und schluckt. Der Duft nach Wasserlilien und Veilchen legt sich wie ein warmer Mantel um sie. Jede Angst und Panik löst sich von ihr. Wie ein Blatt, das von einer sanften Brise verweht wird. Yasamira atmet tief ein und schüttelt den Kopf. Du hast eine Aufgabe. Vergiss das nicht! Die Elfe macht einen Schritt. Sofort stoppt das Gewisper. "Yasamira." Diese sanfte Stimme ... Habe ich sie schon einmal irgendwo gehört? Sie klingt vertraut und doch kann ich es nicht benennen. "Yasamira." "Wer seid Ihr?" Yasamira schaut sich um, kann jedoch niemanden in dem hohen Raum entdecken. "Ich habe nie einen Namen erhalten und dennoch kennt mich jeder. Jeder kann mich erfahren. Durch ein Wort, ein Bild oder einen Ton." Eine Gänsehaut jagt Yasamiras Wirbelsäule hinab, als die Erkenntnis durch ihre Glieder sickert. "Ihr seid die Magie." "So ist es. Was führt Euch zu mir, Tochter der Sterne und des Waldes?" "Ein Feuer wurde entfacht. Ihr müsst umgehend diesen Ort verlassen, bevor es zu spät ist." Auf diese Worte legt sich Stille über den Raum. "Selbst ein Funken entfacht den größten Brand", raunt die Magie. "Eure Warnung weiß ich sehr zu schätzen, doch ich kann Euch nicht begleiten." "Wie bitte? Warum?" Eine Schweißperle rinnt Yasamiras Stirn hinab. "Jenseits dieses Baumes kann ich nicht existieren. So wie Euer Volk an mich gebunden ist, bin ich mit Euch verbunden." "Dann trage ich Euch an einen anderen Ort! Ihr werdet nicht dem Feuer zu Opfer fallen." "Nein, das geht nicht. Sobald du mich besitzt, steht dir jede Möglichkeit offen." Yasamira schüttelt den Kopf. "Das ist mir gleichgültig, ich werde den Weg der Dunkelheit nicht beschreiten. Darauf habt Ihr mein Wort." "Dein Herz lässt mich erkennen, dass du die Wahrheit sprichst, doch ich werde dennoch nicht mit dir gehen. Wenn du stark genug bist, dem Wunsch nach Macht zu widerstehen, so wird dich meine Energie zerstören. Kein Lebewesen allein kann mich tragen." Yasamiras Herz schlägt schneller. "Dann ... dann rufe ich meine Leute zusammen." Sie dreht sich um und legt eine Hand auf das Holz. Feingliedrige grüne Linien fließen aus ihren Fingerspitzen in das Holz und formen sich zu einem Auge. In der nächsten Sekunde dringt der Geruch nach Rauch wieder in Yasamiras Nase. Wärme tanzt auf sie zu. Hilferufe und Gewimmer dringen auf sie ein. "Niemand deiner Leute wird dir helfen", wispert die Magie. "Du solltest jetzt besser gehen. Das Feuer wird diesen Baum schon bald erreicht haben. Möchtest du wirklich hier sterben?"Diese Frage bricht einen Staudamm in Yasamira. Tränen kullern ihre Wangen hinab. "Wenn ich Euch nicht mitnehmen kann, sterben wir auch! Bitte, es muss doch eine Möglichkeit geben. Es muss einfach." "Weine nicht, Tochter der Sterne und des Waldes. Dass keine Hoffnung mehr besteht, habe ich nicht gesagt." Yasamira schnieft. "Wie bitte? Was ..." Ein hellblauer Funken taucht plötzlich vor ihr auf. "Nimm diesen Funken und bringe ihn an einen sicheren Ort. Er wird mich wieder zum Leben erwecken. Geht nun, ich kann die ersten Flammen bereits spüren." Yasamira streckt die Hand nach dem Funken aus. Ihre Haut kitzelt etwas, als er sie berührt. "Geh und verzweilfe nicht, Tochter der Sterne und des Waldes. Auch wenn die Dunkelheit undurchdringlich erscheinen mag, scheint immer ein kleines Licht." "Danke", haucht Yasamira und berührt abermals das Holz. Wieder schwebt ein goldenes Licht auf sie zu und hüllt sie vollständig ein. Drückende Hitze tanzt um Yasamira herum. Die Elfe öffnet die Augen und hustet. Ihr Blick gleitet zu ihrer linken Hand, mit der sie den Funken umklammert hält, dann rennt sie los. Schreie wehen aus der Ferne zu ihr, doch Yasamira bleibt nicht stehen. Immer weiter rast sie. An brennenden Büschen, Bäumen und Sträuchern vorbei. Mit jedem Atemzug spürt sie einen scharfen Schmerz in ihrer Brust. Dennoch bleibt sie nicht stehen, sondern eilt weiter. Weiter und weiter. Ich werde den Rand des Waldes erreichen! Ich muss einfach! Ein Knacken und dann fällt ein brennender Ast vor ihr zu Boden. Yasamira rollt sich zur Seite. Ein scharfer Schmerz durchschießt ihre linke Schulter. Yasamira schreit auf. Das Brennen in ihrer Brust verdreifacht sich. Nein, nein, nein! Das darf nicht das Ende sein. Ich muss ... Yasamira holt tief Luft, doch das Brennen in ihr lodert weiter. Die Elfe sinkt auf die Knie und kriecht weiter. Schatten tanzen vor ihren Augen. Das Brennen wandelt sich zu einer Enge und in diesem Augenblick begreift Yasamira. Eine Träne kullert ihre Wange hinab. Sie setzt sich hin, zieht die Knie an und öffnet ihre linke Hand. Der blaue Funke schwebt auf sie zu. "Finde einen sicheren Ort", krächzt Yasamira. "Es ..." Sie hustet. Die Enge bildet Schnüre um ihre Kehle. "tut mir leid." Die Schnüre ziehen sich zu.
Der Funken steig nach oben zum Himmel empor. Fliegt über das Inferno hinweg, an einem Meer und abertausenden von Wäldern vorbei. Die Zeit spielt keine Rolle für ihn, doch schließlich hört er Stimmen.
"Den Satz bitte noch einmal." Die freundliche Stimme eines Mannes.
"Sehr gut und jetzt schau zu mir." Eine sanfte Frauenstimme.
"Das Lektorat ist geschafft! Yes, yes, yes!" Eine überglückliche Frauenstimme.
Der Funken verharrt an Ort und Stelle. Er blickt hinab und erkennt Menschen, die von smaragdgrünen Auren umgeben sind. Zufriedenheit und die Gewissheit, dass die Magie weiterleben werden, durchströmen ihn. Anschließend lässt er sich in den Herzen jener Menschen nieder.
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