{K18} Fly me to the moon
Sicht Julien
Ein heftiges Dröhnen im Kopf weckte mich.
Mein ganzer Körper schmerzte, als hätte mich Jas beim Training wiedermal so richtig auseinander genommen.
Bereits bei der kleinsten Bewegung rebellierte mein Magen.
Fuck man. War wohl gestern ein Glas Gin Tonic zu viel gewesen.
Stöhnend setzte ich mich auf. Sofort begann sich der Boden zu drehen.
Ich schloss für einen Moment die Augen und hielt mir den pochenden Schädel. Wartete, bis das Schwindelgefühl nachließ.
Langsam klärte sich die Sicht.
"Was zum Teufel? Wo bin ich hier?" murmelte ich benommen.
Unter mir befand sich Rasen. Aber nicht das viel zu hohe Gras aus meinem Garten.
Och ne, war ich etwa auf dem Heimweg in einem Park eingepennt?
Na super Julien!
Ich versuchte mich zu erinnern, was passiert war, jedoch waren die Bilder durch eine dichte Nebelsuppe verschleiert.
Was für ein Tag war heute?
Shit, ich musste doch noch das Script für den nächsten Akt fertigschreiben!
Die Finanzierung dieses gigantischen Projektes machte mir schon seit Wochen Bauchschmerzen. Annika machte mich schon verrückt, desswegen, irgendwelche Placemans anzunehmen, die ich nicht fühlte und den Zuschauern nicht ans Bein kloppen wollte.
Aber ich durfte die Fans dieses Universums nicht enttäuschen. Sie nicht mehr länger warten lassen!
Apropos, die Abnahme für das nächste Bulien Video war auch schon längst fällig.
Ah, stress!
Der Tag hatte wieder einmal viel zu wenige Stunden, und was tat ich?
Betäubt meine Sorgen mit Alkohol!
Boa, das Zeug hatte echt ordentlich reingeschallert.
Mein Kopf dröhnte, als stünde ich neben einer Autobahn.
Wind kam auf. Fegte mir Blätter ins Gesicht. Zerrte an meiner Kleidung.
Mein Kopf hob sich.
Der Himmel wirkte gespenstisch.
Dunkelblau, fast schwarz.
Langsam löste sich der Dunst in meinem Kopf. Sämtliche Erinnerungen der vergangenen Ereignisse kamen zurück.
Also war die ganze Story dieser Geschichte hier doch kein Albtraum gewesen!
Bevor ich weiter ausführen konnte, riss ein lautes Krachen mich augenblicklich aus den Gedanken.
Dichte Wolken verfinsterten den Himmel.
Tiefgrau, fast Schwarz. Als türmten sich gigantische Wellen am Himmel auf. Immer höher und höher.
Erinnerte an zerklüftete, unüberwundbare Berge. Blitze zuckten in dessen Innern.
Sie wirkten fast schon apokalyptisch.
Angst bei Gewitter hatte ich bisher noch nie gehabt. War in meiner City ganz normal. Doch ein gewisses Unbehagen breitete sich trotzdem in meinem Bauch aus.
Mit einem lauten Donnern krachten erneut Wolken aufeinander und bäumten sich am Himmel weiter auf.
Obwohl sich der Wolkenberg mehrere Kilometer von mir entfernt befand, hörte sich das bedrohliche Donnern verdammt nahe an.
Es lag ein elektrisierendes Knistern in der Luft.
Noch nie hatte ich eine solch gewaltige Unwetterfront gesehen.
Direkt über den Dächern von Aachen!
Meine Familie, meine Freunde.
Mein Office
Alles, was ich besaß.
Ein eisiger Schauer lief über den Rücken.
Hatten die Jungs den Pool abgedeckt? Alle Türen und Fenster im Haus geschlossen? Waren die Regenrinnen auf dem Dach von den Blättern befreit?
Es hatte sich schonmal, aufgrund verstopfter Rohre wegen dieses beschissenen Baums des Nachbarn, Regenwasser auf dem Dach gesammelt, welches durch die Fasade gedrungen und von der Decke getropft war. Die PC's im oberen Stock mit den ganzen Konzepten, Skrip, Shotlisten... puh, wenn die einen Wasserschaden gehabt hätten.
Direkt alles am Arsch.
Als sei es eine XXL-Dusche erkannte ich selbst aus dieser Entfernung den Regen ungehindert auf die Stadt niederprasseln.
Oder war es sogar Hagel?
Ein Sturm zieht auf!
Solange sich die Boten nicht zusammengeschlossen haben, wird der Sturm verheerend sein...
Die Worte hallten wie ein ferner Traum in meinem Kopf wieder.
Unwillkürlich breitete sich eine Gänsehaut auf meinem Arm aus.
Ich versuchte aufzustehen. Die weichen Knie, denen scheinbar jegliche körperliche Kraft entzogen worden war, erschwerten dies jedoch. Sofort sackte ich wieder zusammen.
Okay, durchatmen Ju, du schaffst das!
Erneut raffte ich mich auf. Starker Wind brachte mich aus dem Gleichgewicht. Schupste mich hin und her.
Wieder gaben meine Knie nach. Eine starke Hand packte mich am Arm und verhinderte den Sturz. Dankbar ergab ich mich der Stützhilfe und bemühte mich, festen Stand zu finden.
Der erscheinende Schatten ließ mich aufblicken. Zotteliges, zerzaustes Fell. Klauenartige Hände, an dessen Finger noch immer der jetzt mit Rost befallene Ring angesteckt war. Das mit scharfen Splittern zerbrochene, goldene Ei hing an der Kette lose auf seiner Brust.
Entsetzt starrte die Beute seinen Jäger an.
Der böse Osterhase
Mit einem Ruck riß ich mich los. Überraschenderweise blieb ein zurückhaltender Wiederstand aus, weswegen ich erneut fast auf die Schnauze viel.
"Deine Furcht ist unbegründet, Julien" Eine weitere Person löste sich aus dem Schatten und stellte sich zwischen mich und den Hasen. Leicht pulsierten die verschnörkelten Linien auf seinem Arm.
"Du... Du hast ihn beauftragt..." Mir versagte die Stimme, als mein Gegenüber einen weiteren Schritt auf mich zu machte. Ich wich zurück. Hob abwehrend den Arm.
Ich konnte ihm nicht vertrauen.
Ich durfte ihm nicht vertrauen!
"Ich half dir, deinen Schmerz zu besiegen, Julien. Nun hilf mir aus meinem." Es war keine Bitte, sondern eine Forderung!
"Zu welchem Preis? Du wirst dabei die Welt zerstören!" entgegnete ich.
"Sagen das meine Brüder?" Das letzte Wort spukte er fürmlich aus.
Donnergrollen schien den Satz zu untermalen. Wir blickten zum Himmel, an dem sich das Gewitter weiter ausbreitete.
Eine ganze Weile standen wir schweigend da, während die Sorge um meine Stadt immer mehr wuchs.
"Ich kenne diesen Blick. Das ist deine Heimat, oder?" fragte der Mann im Mond.
Ich schluckte. "Kannst du den Sturm aufhalten?"
"Das liegt nicht in meiner Hand."
Der Mondmann drehte sich wieder zu mir um.
Das Tuch um den Hals, welches sein Dekolleté größtenteils verdeckte, war durch die Windböen leicht verrutscht. Was darunter zum Vorschein kam ließ mich scharf die Luft einziehen.
"Wer hat dir das angetan?"
Schnell deckte er die Zeichen wieder ab. Es hatte dennoch gereicht, um sie zu erkennen.
Tief in die Haut eingeritzt... mit einem Messer oder ähnlich scharfem Gegenstand!
Sie hatten ihn gefoltert!
Es waren die selben Symbole, wie jene auf dem Pergament oder auf meinem Rücken...
"Sei froh, wurdest du in der heutigen Zeit geboren" antwortete er lediglich.
Obwohl es mein Feind war, tat er mir in diesem Moment total leid.
Ich war schon froh, war ich in behüteter Gegend wie Deutschland und Singapur geboren und aufgewachsen. Die Slums in Bangladesch hatten mich schon sehr erschreckt. Doch ich glaube, die Zeit, in welcher der Mann im Mond und die anderen Wächter aufgewachsen waren, konnte man mit keinem heutigen Drittland vergleichen.
Gedankenverloren strich ich über die zahlreichen Tätowierungen meines linken Unterarmes, welche ebenfalls etwas von der Außenwelt verborgen hielten. Etwas, worüber nur die allerwenigsten Menschen meines Umfelds Bescheid wussten und dessen Erinnerung allmählich verblasste.
Endlich!
Wie man so schön sagt: Aus dem Auge, aus dem Sinn.
Und ja, ich hatte es verdrängt, aus meinen Erinnerungen verbannt. Überdeckt, mit der Rolle, die ich Monatelang gespielt hatte, bis der Schauspieler wirklich zu dieser Figur geworden war. Zu der Person, die ich heute bin.
Und doch hohlt mich diese schlimme Zeit in manchen Situationen wieder ein. Meistens nachts oder wenn ich mal ruhig entspannte. Obwohl dieses Unglücksjahr 2013 so lange zurückliegt, fühlt es sich noch immer so an, als sei es gerade erst gestern gewesen.
Sofort verkrampfte sich mein Herz, als ich daran dachte. Desshalb vermied ich es meinem Gehirn eine Pause zu gönnen. Stopfte es mit To-Dos, neuen Projekten und anderer arbeitsrelevanter Dinge voll, damit es nicht wieder in diese düstere Zeit abdriften konnte.
In eines der dunklesten Kapitel meines Lebens. Draw my Year - Mein Dunkles Ich
Der Grund, weswegen damals unteranderem JuBaFilms in die Brüche ging. Meinetwegen...
Wie ein einziges Mädel ein Herz und eine Seele so zum Zerbrechen bringen konnte. Den Spiegel meiner selbst in tausend Splitter zersprungen war und aus dessen Ramen ein hüllenloser Schatten gekrochen kam, welcher sich an meine Fersen gekrallt hatte. Mich immer tiefer in den dunklen Abgrund gezogen hatte. Zu einem emotionslosen Stück scheisse werden ließ.
Sogar eine regelrechte Phobie vor Mädchen entwickelt hatte...
Weil ich SIE nicht gehen lassen konnte.
Genau wie der Mann im Mond sein Girl nicht gehen lassen kann.
Im Gegensatz zu mir war sie ihm gewaltsam genommen worden.
Aber anstatt sich in Selbstmitleid zu sulen und darin zu ertrinken, so wie ich, wurde sein innere Stärke durch dieses traumatische Erlebnis erst so richtig entfacht.
Woher nahm er diese Kraft?
War es Wut? Verzweiflung?
Was auch immer es war, mit seiner Macht würde er alles daran setzten, seine Liebe zurückzuholen, egal was es für Konsequenzen haben wird.
"Du und ich, wir sind uns sehr ähnlich."
Mein Kopf schnellte herum. "Wir haben nichts gemeinsam!" fauchte ich.
"Beide trachten wir danach, unsere Liebsten zu beschützen. Sind ehrgeizig, lernbegierig. Wollen immer alles perfekt machen und uns keinen Fehler erlauben. Niemanden enttäuschen. Besonders nicht diejenigen, denen man ein Versprechen gegeben hat"
"Woher...?" - "Du warst einer der wenigen Menschen, die stets zu mir hoch geschaut haben."
Der Mann im Mond hatte mich beobachtet?!
Grusselig, dieser Gedanke.
Aber ja, es stimmt.
Oft war ich abends am Fenster gestanden. Aber nie hatte ich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden.
Im Gegenteil.
Lag es an ihm, dass ich bei Vollmond nie einschlafen konnte?
Ich seit Kindheit diese unerklärliche Verbindung zu diesem Himmelskörper fühlte?
"Ich kann dich in Sicherheit bringen, Julien." sprach der Mann im Mond. "Dich und deinen Freund Joon."
In dieser Sekunde verschwand alle Schwerelosigkeit, in welche ich für einen Moment der Unbeschwertheit abgedriftet war.
Dieses eine, ganz bestimmte Wort holte mich augenblicklich auf den Boden zurück.
Entrüstet schnappte ich nach Luft.
Was erlaubt er sich?!
Wie konnte er es wagen, Joon's Namen in den Mund zu nehmen!
Nach allem, was er ihm angetan hatte!
Mir angetan hatte!
"Was juckt dich sein Leben!" fuhr ich ihn an. Er hatte keine Ahnung, welchen Schmerz er mir zugefügt hatte.
"DU..." meine Stimme zitterte vor Zorn. "DU hast ihn umgebracht!" Mit größter Mühe unterdrückte ich meine Wut.
Der Mann im Mond schaute mich teilnahmslos an, während ich wutschnaubend versuchte, meine Faust unter Kontrolle zu halten, die umbedingt jedem einzelnen dieser hunderten Gesichter die Zähne ausschlagen wollte.
"Ich glaube zu verstehen... ihr wart beim Ritual anwesend." Der Mann im Mond musterte mich eindringlich. "Bemerkenswert hast du es unbeschadet überstanden"
Ich funkelte ihn an.
Sollte das etwa ein Kompliment sein?
"Der Lichtstrahl diente lediglich als Brücke zur Erde. Ich hatte keinerlei Einfluss auf dessen Verlauf" erklärte der Mann im Mond.
"Und wenn schon! Oskar und seine kranke Sekte haben gesagt, du würdest die Welt von dem Unkraut nahmens Mensch befreien"
Der Mann im Mond schaute wieder zum Himmel hinauf. "Ich habe Oskar nur das gesagt, was er hören wollte" er säufzte.
Noch immer zitterte meine Hand, die sich in den Stoff meiner Hose verkrampft hatte.
Langsam lockerte sie sich.
Allmählich verstand ich, was ab ging.
Der Mann im Mond hatte Oskar und die Masken manipuliert. Ihnen Honig ums Maul geschmiert, damit sie das Ritual für ihn vollzogen und er aus seinem Gefängnis ausbrechen konnte.
"Nie zog ich in Betracht, die Spezies Menschen auszurotten! Wozu auch? Die Menschheit wird sich durch selbstverschuldete Natur- und Kriegskatastrophen bald selbst vernichten.
Mein einziges Ziel ist es wieder mit meiner großen Liebe vereint zu sein."
Schwer drückten diese Worte auf meine Schultern. Das musste ich erstmal sacken lassen.
Manchmal schämte ich mich echt, Teil dieser Gattung zu sein.
Auch was im Netz aktuell abgeht!
Diese ewige Hetzerei und Skandale belasteten mich mehr als ich zugeben wollte.
Was, wenn doch ein funke Warheit in seinen Worten lag?
Joon's Tot wirklich nur ein Versehen gewesen war?
Er kein Bad Guy war, uns sogar vor der drohenden Katastrophe beschützen wollte?
Misstrauisch beäugt ich ihn.
"Wo sollen wir sicher sein, wenn die Apokalypse losbricht?"
Er deutete in den Himmel.
Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren.
"D...Du schickst uns hoch auf den Mond?" Ungläubig schaute ich ihn an.
Mein Gehirn schien die Worte noch gar nicht begreifen zu können.
Schon mein Leben lang träumte ich davon, auf dem Mond zu stehen. Er hatte seit jeher eine besondere Anziehung auf mich gehabt. Besonders bei Vollmond.
Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, hatte ich immer zu ihm hoch geschaut. Er war zu einem Anker geworden, wenn ich von dunklen, negativen Gedanken heimgesucht wurde. Dieser Planet, der so weit weg von der Erde ist, und doch so nah. Faszination war das, was ich in jenen Momenten verspürte.
Alle Sorgen erschienen mir in diesem Augenblick so unwichtig. Klein und unbedeutend.
Ein langersehnter Kindheitstraum würde in Erfüllung gehen.
Aber was, wenn das eine Falle war?
So weit ich wusste, gab es da oben keinen Sauerstoff. Wie sollten wir ohne Raumanzug überhaupt atmen?
Oder wollte er uns auf diese Art und Weise zum Schweigen bringen?
Er müsste uns einfach nur hoch zaubern oder schießen. Kälte und CO2 Mangel würden den Rest erledigen. Alleine schon der Gedanke, qualvoll zu ersticken, ließ mich erschaudern.
Und unsere Körper würden so schnell nicht gefunden werden... höchstens von einem Roboter oder Alien.
"Das ist doch krank!" Erst, als ich den starren Blick vom Mondmann spürte, realisierte ich, dass ich das eben laut gesagt hatte.
Der Mann im Mond bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Eine Mondblume!
Sie pulsierte in einem leicht rötlichen Licht.
"Es tut mir leid Julien! Ich wusste nicht, wie viel Macht diese Pflanzen entfesselt können." flüsterte er während er diese nachdenklich in seinen Fingern drehte.
Erst jetzt fiel mir auf, dass die Wise, auf welcher wir standen, voller dieser Blumen waren. Genau wie auf der fliegenden Insel.
Ich erinnerte mich daran, als wir die Zahnfee gefunden hatten. Auch er war auf einem solchen Blumenbeet gefesselt gewesen. Wie geschwächt der Wächter durch die Blumen gewesen war.
Dem Mann im Mond schien diese allerdings nichts auszumachen.
"Diesen Schaden habe ich wieder gut gemacht" er schaute mich an.
Es war jedes Mal voll creepy in dutzende Gesichter gleichzeitig zu gucken. Fühlte mich unangenehm beobachtet. Als würde mich jedes einzelne auf Herz und Niere mustern.
Schnell wandte ich meinen Blick ab.
"Was hat es mit diesen Pflanzen auf sich?" Versucht ich das Thema in eine andere Richtung zu lenken.
Ich wünschte, Joon wäre hier...
Der Mann im Mond setzte sich in Bewegung. Lief weiter die Anhöhe hinauf.
Unschlüssig blickte ich mich um. Sollte ich die Gunst der Stunde nutzen und abhauen?
Aber ich war nicht so schnell wie Sonic! Eher wie ein Igel mit X Beinen. Der Hase würde mich safe innerhalb weniger Schritte einholen.
Hier bleiben?
Ausser den trüben Ausblick auf Aachen gab es nicht viel.
"Deine Entscheidungen werden diese Geschichte formen" erklang die Stimme der Warsagerin aus der Dunkelheit.
Was gibt's noch großartig zu entscheiden?
Die ganze Ausgangssituation war sowas von beschissenen!
Ich musste einfach hoffen, dass es Joon und Kiko ohne mich gelang, den Sandmann und Santa zu finden. Auch ohne Kompass.
Safe boxen mich die Wächter hier raus.
Hoffentlich...
Zögernd folgte ich dem Mond in Menschengestalt. Dort, wo er den Blumen zu nahe kam, begannen sie ebenfalls in einem pulsierenden Licht zu leuchten. Wie ein Herzschlag.
Das Blumenmeer wurde immer dichter, verdeckte die grüne Farbe der Wiese und tauchte die Umgebung in ein rötliches Licht.
"Sie symbolisieren unsere Liebe..."
Vor uns erstreckte sich ein gigantischer Baum. Und wenn ich gigantische meine, dann bedeutet das wirklich riesig!
Seinen Stamm hätte man zu dritt nicht umrunden können.
Mamutbaum
Stark und stolz stand er da. Im Schatten der hellen Sichel des Mondes, welche leicht von Wolken verdeckt wurde. Als könnten seine Wurzeln jedem Unwetter trotzen.
Es schien so, als würde er seine Äste dem Mond entgegenstrecken.
Der Mann im Mond folgte meinem faszinierten Blick.
"Wunderschön, nicht war?" Ich konnte nur nicken.
"Es waren ihre Lieblingsblumen..."
Seine Worte hingen zwischen uns, ehe ich begriff. Der Baum beschildert Iris Grab.
Hier lag sie beerdigt!
Ehrfürchtig senkte ich den Blick.
Nie hätte ich gedacht, dass sie so nahe ihre letzte Ruhe findet. Die Welt war so groß. Sie hätte, weiß Gott wo, in welchem Land auch immer sein können. Aber nein, sie lag genau hier, nur wehnige Kilometer außerhalb meiner City. Was für ein verrückter Zufall.
Zufall? Ich denke nicht!
Scharf zog ich die Luft ein, als mich eine erschreckende Erkenntnis traf.
Er und die anderen Wächter kamen ursprünglich aus Aachen!
"Über mehrere Jahrzehnte hinweg verschwand der Märchenwald und an ihrer Stelle wurde eine Stadt namens Aachen errichtet."
Das waren die abschließenden Worte auf der letzten Märchen Kassette gewesen.
Alle Storys hängen zusammen!
Der Mann im Mond strich über den Stamm "Bald werden wir wieder vereint sein, meine Geliebte! Dann werden meine Brüder erkennen, dass sie Unrecht hatten."
"Warum redet ihr nicht mit einander?" fragte ich.
"Manche Wunden sind zu tief, als dass sie mit Worten geheilt werden könnten..." erwiderte mein Gegenüber. Er legte die Blume am Stamm des Baumes nieder.
Ich konnte es nicht verstehen, warum Konflikte stets mit Gewalt gelöst werden mussten. Einander gegenseitig die Köpfe einzuschlagen machte die Sache auch nicht besser. Für einen Moment waren das Problem vielleicht gelöst, aber ein bitterer Nachgeschmack blieb zurück.
Klar hatte ich mich als Kind auch schon mit meinem Bruder gestritten. Das gehörte bei Geschwistern nunmal dazu. Shawn und ich waren so unterschiedlich. Fast wie Tag und Nacht.
Wir waren beide unseren eigenen Weg gegangen. Hatten unsere eigenen Ziele verfolgt. Jeder hatte sein Ding durchgezogen. Mit der Zeit hatten wir uns etwas auseinandergelebt.
Doch wir haben uns wiedergefunden. Teilten unsere gewonnenen Erfahrungen in den unterschiedlichen Bereichen miteinander.
Und jetzt standen wir kurz davor, die aller letzten Videos für den Julien Bam Kanal gemeinsam zu produzieren.
Zusammen, als Familie!
Ob das große Finale dieser Reise jemals online kommen wird?
"Aber nun wird sich diese Geschichte nicht mehr wiederholen" flüsterte der Mann im Mond zum Baum "Denn ich habe ein Geschenk für dich, liebste Iris..."
"Was denn? Etwa ein krass zerstörter Planet" fragte ich spöttisch.
"Ein unsterblicher Geist!"
Für einen Augenblick war ich völlig perplex.
Sämtliche erdenkliche Antworten hatte ich erwartet, aber ganz bestimmt nicht diese.
Wie bitte? Ein Geist?!
"What?"
"Raava, Geist des Lichts und des Friedens. Sie besitzt die Macht, meine Geliebte von den Fesseln ihrer Krankheit zu befreien. Die Nacht nicht mehr länger ihr Gefängnis sein muss. Ihr ewiges Leben schenken, damit wir für alle Ewigkeit zusammen sein können."
Jedem anderen, der mir diese wearde Erklärung abgegeben würde, hätte ich lachend gefragt, was er gesoffen oder gekifft hätte.
Höhrte er sich eigentlich selber zu?
Sowas konnte sich doch im nüchternen Zustand keiner ausdenken.
Halt, Moment! Bei genauerer Betrachtung fiel mir jetzt erst ein geschwungenes Muster auf seinem Bauch auf. Eines, welches er bei unserer ersten und letzten Begegnung, auf dem Schrottplatz, noch nicht hatte!
War dieses Wesen etwa irgendwie in seinem Körper eingesperrt?
"Woher hast du diesen Geist?" Es fühlte sich so seltsam an es laut auszusprechen.
Der Mondmann schaute hinauf zu seinem Himmelskörper.
"Es ist schon faszinierend, was Menschen als tun würden, um Leben zu retten. Sowohl fremdes, als auch das eigene." Er schien es mehr zu sich selbst zu sagen.
Auch mich machten seine Worte nachdenklich.
Auf einen Schlag erkannte ich die Zweideutigkeit des Satzes.
Er sprach nicht nur von sich und seiner Sehnsucht, seine große Liebe wieder zu beleben oder von mir, der sich um Joon's Sicherheit sorgte.
Es ging noch um eine dritte Person!
Was, wenn es gar kein Mensch gewesen war, welche die junge Chinesin gemeint hatte, als sie davon gesprochen hatte, dass jemand ihr Wichtiges vom Mann im Mond gefangengenommen wurde?
Mein Magen schien zu Eis zu gefrieren.
"Nein, Yukiko würde niemals..." - "Bist du dir Sicher, Julien?" Ertappt klappte ich den Mund wieder zu.
Unruhig wippte ich auf der Stelle.
Hatte ich mich tatsächlich in einem Menschen getäuscht?
Stets hatte ich mein Team sorgfältig, mit Bedacht ausgewählt gehabt.
War Joon mit seiner Vermutung richtig gelegen?
Dass sie nicht zufällig genau in dem Augenblick im See getaucht war, als wir von dem Monster angegriffen worden waren?
Der Mann im Mond sah mein Schweigen als Bestätigung. "Anscheinend kennst du sie doch nicht so gut, wie du dachtest."
Nachdenklich starrte ich die Blumen auf dem Boden an.
Waren diese Blicke, die sie mir zugeworfen hatte, nur Schauspielerei gewesen?
Alles nur ein hinterhältiger Plan, mich zu verführen, um an das Gesicht zu kommen?
Dass der Mann im Mond auf diese Ebene der emotionalen Ausnutzung gehen würde!
Ich war so blind gewesen!
Am liebsten hätte ich mir selber eine deftige Backpfeife verpasst.
"500 Jahre! So lange Sehnsucht ertragen zu müssen. Dieses Gefühl war weitaus schlimmer als auf dem Mond gefangen zu sein."
Ich schaute auf.
"Aber jetzt bist du wieder hier" warf ich ein. "Erweck sie doch einfach wieder zum Leben, so wie Joon auf dem Schrottplatz!"
Dann wäre diese ganze Hetzjagd endlich vorbei...
Jetzt, wo er anscheinend das Gesicht nicht mehr benötigte!
"Ich habe es versucht..." Er säufzte. "...aber es reicht nicht."
Er hatte bereits versucht seine verstorbene Freundin zurück zu holen?!
Aber, hätte da nicht etwas passieren müssen?
Ich dachte an meine Visionen, die den Weltuntergang beschrieben.
War er ohne Gesicht nicht stark genug?
Aber warum hatte es bei Joon geklappt?
Gedankenverloren strich er über den Stamm. "Es würde sie zerreißen" fügte er flüsternd hinzu. Ob er mit dem Wort sie Iris oder den Geist meinte, ließ sich nicht klar aus dem Satz herauslesen.
Oder halt! Draußen vor dem Zelt der Warsagerin. Yukiko's Schrei!
War das der Augenblick gewesen, als er es versucht hatte?
War das vielleicht der Grund, warum Kiko auf den Deal eingestiegen war?
Weil sie mit diesem Geist irgendwie conectet war?
Und der Mann im Mond das wusste!
"Aber wiso hat es bei Joon funktioniert?" Meine Stimme zitterte leicht, als ich an den Moment zurückdachte.
"Weil dein Freund noch nicht lange im Reich der Toten verweilte."
Seine Stirn ruhte auf dem Stamm des uralten Baumes. "Aber sie ist zu lange und zu tief im Reich der Schatten gefangen. Zu weit fort, als dass ich sie erreichen könnte."
"Warum lässt du diesen Geist nicht frei? Wenn er dir scheinbar doch nichts nützt." Wirklich viel Ahnung von spirituellem hatte ich nicht, im Gegensatz zu meiner Mum. In dieser Hinsicht war ich zu sehr deutsch.
"Ganz einfach: Das Mädchen hat ihren Teil der Abmachung nicht eingehalten!" Zischte der Mondmann.
Meinte er Yukiko?
Welche Abmachung?
Sie hatte mich doch erfolgreich an ihn ausgeliefert!
Was wollte er noch?
"Ich checks nicht?"
Der Mann im Mond löste sich vom Baum. Schritt um mich herum, während tausende Gesichter mich abwechselnd musterten.
Wortlos hob er etwas vom Boden auf. Etwas, was von den dichten Blüten verschluckt worden war und ich es desswegen nicht gesehen hatte. Jetzt erkannte ich es klar und deutlich.
Zeitgleich hatte meine Hand von selbst ihren Weg an meine Hüften gesucht. Doch sie fand nur den Stoff meiner olivgrünen Jeans.
Ein eiskalter Schauer durchfuhr mich.
Meine Tasche mit dem Gesicht!
Fuck, fuck, fuck!!!
"Nein!"
Doch es war schon zu spät.
Der Mann im Mond drehte die Tasche um und schüttelte dessen Inhalt auf den Boden.
Der Beutel war leer!
Mein Herz hörte für ein paar Sekunden auf zu schlagen und rutschte anschließend in die Hose.
Mir wurde heiß und kalt zugleich.
Wo war das Gesicht?
"Ich... Ich..." meine Stimme versagte. Meine Gedanken fuhren Achterbahn.
Wo konnte es bloß sein?
War es mir etwa geklaut worden?!
Stetig hatte ich die Tasche bei mir getragen.
Zuerst verlor ich das Pergament vom Osterhasen und jetzt auch noch das Gesicht.
Wie dämlich konnte man eigentlich sein!
Der Blick vom Mann im Mond durchbohrte mich.
Mein Gehirn war wie leergefegt.
Als hätte er alle meine Argumente verbrannt.
Er würde mir nicht glauben. Egal, was ich erzähle. Dachte bestimmt, ich hätte ihn erneut ausgetrickst.
Augenblicklich fuhr eisige Kälte in meinen Körper. Umhüllt mich. Ließ mich vor Furcht ab dem, was jetzt passieren wird, erzittern.
"Offenbar hab ich dich falsch eingeschätzt, Julien"
Automatisch setzten meine Füße den Rückwärtsgang ein.
Flehend schaute ich zum Osterhasen. Meiner einzigen Hoffnung in dieser aussichtslosen Situation.
Hilf mir!
Doch dieser stand regungslos da und beobachtete stumm das Geschehen.
Er war lediglich eine willenlose Marionette des Puppenspielers.
"Ich dachte, da du ebenfalls einen geliebten Menschen verloren hast, verstündest du meine Situation, Julien!" Der Mann im Mond kam bedrohlich auf mich zu.
Mein Körper prallte gegen etwas Hartes.
Spürte den Stamm des Baumes im Rücken. Der mächtigste Bruder der Wächter beugte sich über mich. Stützte die Hand dicht über meinem Kopf am Stamm ab.
"Ich habe dir ein so großes Geschenk gemacht. Und wie denkst du es mir, Julien?" Er schnaubte verächtlich. "Wenn du glaubst, mich täuschen zu können, bist du noch dümmer als deines Gleichen ohnehin schon sind!"
Plötzlich begannen seine Augen in einem unheimlichen, kalten Licht zu glühen. "So sieht man sich wieder, Felix!" sprach er mit Verachtung in der Stimme.
Was ging denn jetzt ab?
Der Mann im Mond schien in die Ferne zu lauschen. "Nach all den Jahrhunderten hast du dich kein Stück verändert, Klaus!"
Moment...
Hatte etwa jemand das Gesicht gerade gefunden und sprach jetzt damit?
So wie ich es auch schon getan hatte?
Schrei! Mach dich bemerkbar! Ruf um Hilfe! Drängte mein Gehirn.
Aber würde es überhaupt etwas bringen?
Ich selber hatte keine Ahnung, wo ich mich ganz genau befand. Mein Orientierungssinn war als Stadtkind sowas von miserabel. Ohne Google-Maps war ich bei Outdoor-Drehs sowas von Lost. Für mich sah im Wald einfach alles gleich aus!
Bis die Wächter oder irgend jemand sonst zur Rettung hier war, wäre ich schon längst über alle Berge an einen anderen Ort verschleppt worden.
"Ich glaube, euch ist bereits klar, was ich Will!" Der Blick vom Mann im Mond senkte sich zu mir herunter, was mir bei dem Anblick eine Gänsehaut den Rücken hinunter jagte. "Es wäre doch jammer schade, wenn das unschuldige Blut des ins Kreuzfeuer geratenen Sterblichen hier, vergossen werden müsste..."
Das Blut gefrohr mir in den Adern. Mein Atem ging nur noch stossweise.
Hatte für eine Millisekunde das Gefühl, zu ersticken.
Der Wetteinsatz gegen das Gesicht, welches dem Bösewicht zu seiner vollen Macht verhilft, war mein eigenes Leben!
Meine Knie zitterten.
Alle Farbe wich aus meinem Gesicht.
Es stand so vieles auf dem Spiel!
Nicht nur mein Leben, sondern auch das aller Menschen auf diesem Planeten. Zumindest, wenn ich meiner Vision glauben schenken sollte.
Würden die Wächter auf den Deal eingehen?
Safe gab es irgend einen unausgesprochenen Hacken!
Zu viele Filme hatte ich mittlerweile gesehen um zu wissen, dass solche Verhandlungen selten von beiden Parteien eingehalten wurden.
Hatte ich selber ja auch nicht...
Angespannt wartete ich, was als Nächstes passierte.
"Das liegt ganz allein an euch!" Schien der Mann im Mond auf eine Reaktion der Wächter zu reagieren. Es schien ihm sichtlich Spaß zu machen, mit seinen Brüdern Katz und Maus zu spielen.
"Bringt mein Gesicht bei Sonnenuntergang zum Grab!" Stellte er seine Forderung klar.
Er grinste, als würde er eine viel zu übertriebene Komödie schauen.
"Ihr solltet auf den Jungen hören..."
Dann wurden die Mundwinkel des Antagonisten wieder hart wie Stein. "Ganz gleich, wo ihr auch hingeht, ich werde euch finden! Und zwar jeden einzelnen, nach dem anderen!" Den letzten Satz betonte er sehr langsam. Unverkennbar war dies eine Morddrohung gewesen!
Ich drückte mich verstohlen noch mehr gegen den Stamm des Baumes, bis die Rinde schmerzhaft in meine Wirbelsäule drückte.
Sollte der Mann im Mond den Kompass auf meinem Rücken entdecken, waren die anderen sowas gefickt!
Erneut lauschte der Mann im Mond in die Stille hinein.
"Das ist das Problem von euch Wächtern. Eure Moral steht euch im Weg!" Wiederrief er scheinbar einer Argumentation.
Das Leuchten seiner Augen erlosch. Die Verbindung zu seinem Faice war scheinbar aufgelöst worden.
Ein siegessicheres Grinsen bildete sich auf dem flackernden Gesicht.
"Sie sind so berechenbar!"
Diese plötzliche dreihundertsechzig Grad-Drehung meines Gegenübers erschütterte mich zutiefst.
Er hatte mich genauso hinters Licht geführt wie die Masken!
Seine wearde Backstory hatte mich komplett verwirrt gehabt.
Hatte mich an allem zweifeln lassen. Ich hatte nicht auf Joon gehört. War nicht bei Zahnfee geblieben, weil ich unbedingt auch helfen wollte, und hatte dabei alles nur noch schlimmer gemacht!
Einfach alles hatte ich falsch gemacht...
Jetzt war es zu spät!
Ich muss hier weg!
In Slowmotion tapsten meine Füße möglichst lautlos über das knöchelhohe Gras. Schielte verstohlen zum Osterhase, der am Fuße des Hügels stand und uns beobachte.
Ich kam nicht weiter als ein paar Millimeter.
In Sekundenschnelle überbrückte die an der Rinde ruhende Hand über meinem Kopf den Abstand und packte mein Haar. Stieß mich mit einer unbändigten körperlichen Kraft zurück an den Baum.
Beim harten Aufprall wurde die Luft aus meiner Lunge gepresst.
Stocksteif verharrte ich mitten in der Bewegung. Ängstlich blickte ich in die dutzenden Gesichter, welche mich mahnend musterten.
Ich fühlte mich ertappt. Gänzlich eingeängt. Zerquetscht wie Schinken in einem Sandwich.
Gefangen zwischen dem jahrhundertealten, mächtigen Baum und dem Muskelpaket dicht vor mir.
"Ich war sehr geduldig mit dir Julien...."
Er beugte sich weiter zu mir runter.
Das flirrende Gesicht kam bedrohlich näher.
Für meinen Geschmack viel zu nah...
Spürte deutlich die Kälte von ihm ausgehend.
"... aber ich kann nicht mehr länger warten!"
In jenem Augenblick wünschte ich mir das Schild zurück, das mein Wiedersacher daran hinderte, mich zu berühren.
Aber der böse Osterhase hatte es zerstört...
Besagter stand einfach nur da. Reglos wie eine Statue.
Half weder mir, noch meinem Peiniger.
Jetzt war ich dem Mann im Mond hilflos ausgeliefert.
Er ließ meine Strähne wieder los. Erleichtert ließ ich die angehaltene Luft aus meinem Mund entweichen.
Doch scheinbar hatte ich mich zu früh gefreut:
"Da du dich offenbar entschieden hast, auf wessen Seite du stehst, kann ich für nichts mehr garantieren."
Meine Kehle war wie zugeschnürrt. Selbst das Atmen fiel mir schwar.
Mach was! Irgend was. Niem eine Bohne! Sprich mit ihm und verschaff dir irgendwie Zeit!
Das Gehirn schrie die Worte. Anscheinend sprach es Chinesisch, denn mein Körper konnte oder wollte dem Befehl nicht Folge leisten. Das Verbindungskabel zwischen Motor und Maschine war durch den aus meiner Panik entstandenen Kurzschluss lahmgelegt.
Das Exoskelett schien ein eigenes Leben ohne meinen Einfluss zu führen, dem ich nichts entgegenzusetzen hatte.
Zitternd krallten sich meine Finger in den Stamm hinter mir.
Mein Gegenüber anzugreifen machte keinen Sinn. Wie mächtig er war, hatte ich schon auf dem Schrottplatz von Julia's Dad gesehen. Und seine Kräfte am eigenen Leib erfahren zu müssen, hatte ich echt keinen Bock.
Wie eine mächtige Statue stand er einfach nur da. Den Kopf dicht vor meinem. Seinen frostigen Atem konnte ich an meiner Nasenspitze kitzeln spüren.
In diesem Moment war es, als sei ich wieder der kleine 8 jährige Pottschnittjunge, der auf dem Schulhof regelmäßig verprügelt wurde.
Und genau dieses Mobbingopfer ohne Selbstbewusstsein war ich nun wieder.
Klein und hilflos.
Tief im Innern war ich noch immer der unsichere, introvertierte Julien, der sich nach außen hin nur als selbstsicher und extrovertiert gab.
War nicht so stark, wie meine Community geglaubt hatte.
Schwach!
Ich wagte es kaum, mich zu bewegen. Zu groß war die Furcht, von der Magie getroffen zu werden.
Wenn der Mann im Mond die Macht besaß, jemanden aus dem Reich der Toten wiederzubeleben, wollte ich gar nicht erst wissen, was er so alles mit Lebenden anstellen konnte.
Wie Uberpowerd würde er mit dem Gesicht erst werden?
Ich glaube, das konnte sich kein Mensch so richtig vorstellen.
Meine Finger umschlossen das durchtrennte Freundschaftsarmband in meiner Hosentasche.
Drückten und rieben nervös über den den geknüpften Stoff. Als könnte ich damit meinen besten Freund zu mir rufen.
Doch Joon kam nicht!
Langsam lösten sich die verknoteten Fäden.
Bald würde es kein Band mehr sein...
Die Zeit zog sich ewig wie Kaugummi.
"B... bitte... lass m... mich gehn!" Es war ein flehendes Winseln. Ich versuchte gar nicht erst meine Angst zu verbergen, was mir ohnehin nicht gelungen wäre.
Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solche Furcht verspürt. Wie ich es geschafft hatte, diesen unverständlichen, genuschelten Satz aus meinem Mund zu bekommen, blieb mir ein Rätsel.
Alle Hoffnung setzte ich in diese Frage.
Meine Lebensversicherung.
Mit etwas Glück...
Nachsicht...
Skrupel und Emphatie...
Vielleicht...
"Nein!"
Am liebsten hätte ich den ganzen Frust und Panik herausgeschriehen. Nichtmehr viel und ich würde aus Verzweiflung in Tränen ausbrechen.
Ich war sonst jemand, der sehr selten weinte. Der eigentlich seine Gefühle recht gut im Griff hatte. Es sei denn, es war etwas geschehen, was mich vollkommen aus der Bahn warf. Wie bei der Schließung meiner geliebten Bamschool.
Auch nach drei Jahren nagte dieser Verlust noch immer an mir. Egal, was ich versucht hatte, es war mir nicht gelungen, sie vor dem Untergang zu bewahren. Genau wie bei Joon...
"Weisst du Julien, es gibt nicht viele Menschen, die so viel für eine geliebte Person auf sich nehmen würden." Ein schmieriger Unterton mischte sich in seine Stimme. "Eine solch ehrliche, innige Bindung aus tiefstem Herzen, beruhend auf Gegenseitigkeit, ist heutzutage sehr rar geworden. Es wäre eine Verschwendung, diese nicht zu nutzen..."
Der Mann im Mond kam noch ein Stück näher. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast.
Seine ausstrahlende Kälte fuhr mir direkt unter die Haut.
Ohne, dass ich es wollte, begannen meine Zähne leicht zu klappern.
"Falls du jetzt die Hoffnung hast, meine Brüder würden dich tatsächlich retten, muss ich dich leider enttäuschen!"
Entsetzt riß ich die Augen auf. Er wusste schon, dass die Wächter nicht auf den Deal einstigen.
Mich einfach meinem Schicksal überließen.
Stotternd stellte ich die Frage, welche schon seit ich hier war, in meinem Hinterkopf herumgeisterte:
"W... wirst du m... mich j... jetzt t... töten?" - "Wäre es dir recht?" fragte mich der Mann im Mond direkt.
Wie?
Was war das für eine Frage?
Als ob ich freiwillig sterben wollen würde, wenn ich noch nicht einmal die Hälfte meines Lebens gelebt hatte!
Es noch so vieles gab, was ich tun wollte.
Vorausgesetzt, diese Geschichte schließt mit einem glücklichen Happy End...
Ich öffnete den Mund, doch brachte keinen Ton heraus.
"Wie ich bereits sagte: Deine Furcht ist unbegründet, Julien!" Verblüfft hob ich die Augen.
"Denn ich brauche dich noch..."
Diese Worte lösten so einiges in meinem Körper aus. Sowohl äußerlich sichtbar, als auch tief in meinem Innern. Tausend Szenarien schossen durch meinen Kopf.
Raubten mir fast den Verstand.
Der Mann im Mond beobachtete das unkontrollierte Verhalten meines Körpers mit einer gewissen Genugtuung, ehe er mit zischender Stimme in mein Ohr sprach:
"Dein Körper wird mir dabei helfen, mein Eigentum zurück zu holen!"
Erschrocken schnappte ich nach Luft.
Er wollte diesen Body Snatch bei mir anwenden!
Wie an Julia's Dad auf dem Schrottplatz.
Mir die Kontrolle über die Handlungen meines Körpers entreißen.
NEIN!
Alles nur das nicht!
Ich wollte Joon nicht verraten!
Ihm nichts antun!
Auch Julia, Reiner, den Wächtern oder Raumschiffcrew und auch Kiko nicht. Letztere war ebenfalls erpresst und zu ihrer Tat gezwungen worden.
Erneut flammte die Erinnerung meiner Vision, in der Joon wieder tot war, vor meinem inneren Auge auf.
Mein Magen drehte sich um, als sich plötzlich eine schlimme Vermutung in meinen Kopf schlich:
Was, wenn ich selber es war, der ihn umbrachte?
Die Tätowierungen meines Feindes begannen in einem kühlen Licht zu leuchten. Nebel bildete sich um die Hand über meinem Kopf und ließ die Rinde des Baumes bröckeln. Die Macht erzitterte den Stamm.
Ich wusste nicht, ob Angstschweiß oder Tränen der Verzweiflung meine Wangen befeuchteten. Vermutlich beides...
Ein klägliches Wimmern, eines sterbenden Tieres gleich, entfuhr meiner Kehle.
Die letzten Kräfte verließen mich endgültig.
Schwerfällig rutschte mein Körper am Stamm entlang in Richtung Boden.
Kauerte mich ganz klein zusammen.
Als ob das etwas nützen würde...
Violett-blaue Energie waberte ungehindert auf mich zu. Rieselte erbarmungslos auf mich herab.
Alles, was ich fühlte, war klirrende Kälte und das beklemmende Gefühl, alleine zu sein.
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