{K17} Dream like a dream

Sicht Yukiko

Woher wusste er, wer ich war?

"S... Sandmann?"

Irgendwie hatte ich ihn mir ganz anders vorgestellt.

Naja, wie der Sandmann eben von der bekannten Kinderserie. So ein Zwerg mit langem, spitzen Bart und Zipfelmütze.

Aber die Person, die im Sand dieser schier unendlichen Traumwüst vor mir stand, entsprach überhaupt nicht meiner Vorstellung.

Okay, zugegeben, die Zahnfee sah in Wirklichkeit auch vollkommen anders aus.

Ein bisschen erinnerte mich diese Gestallt vor mir an einen Schaich.

"So sieht man sich wieder, Elementarmeisterin." Er hob die Schutzbrille und ein paar schelmisch flackernde Augen kamen zum Vorschein.

"Du kennst mich?"

"Klar, du hast mich vor ein paar Jahren aufgesucht und gebeten, die Erinnerung aller Menschen an dich als Avatar zu löschen" Perplex schaute ich ihn an. Diese Info war mir neu!

"Aber warum kann ich mich daran nicht erinnern?"

"Weil ich auch dein Gedächtnis verändern musste, damit du meine Adresse nicht leakst."

Bitte was? Meine Erinnerungen wurden gelöscht?!
Was, wenn etwas verlorengegangen war, was noch wichtig gewesen wäre?

"Was ist passiert? Warum schläfst du?" fragte ich, um nicht näher über das Thema nachzudenken.

"Auch, nur ein kleiner Unfall wegen dieser beschissenen Plattenfirma?" winkte mein Gegenüber ab.

"Plattenfirma?"

"Weil so ein spacko von Pinguin Typ behauptet, meine Hook gehöre ihm" Der Wächter schnaubte.

Der Sandmann hatte einen eigenen Song?
Ich hatte keinen Track von ihm gesehen, als ich die Sound Library durchforsten hatte.

Es war mir schon komisch vorgekommen, dass jeder der 4 Boten einen eigenen krassen Song hat, außer er.

Oh, stimmt, Santa und Osterhase hatten einen Disstrack gegen ihn gemacht!

Ich habe mich noch gewundert, warum es von seiner Seite keine Antwort auf den Diss gegeben hatte.

Vielleicht war ihm genau dann, als er den Beat produzieren wollte, etwas zugestosen!

"Ist aber kein Grund, im Koma zu liegen!" Stellte ich fest.

"Ach, halb so wild. Bin auf dem Sandsack ausgerutscht und Peng, k.o" Mein Gegenüber winkte ab, so als ob das ein alltägliches Missgeschick gewesen sei.

Ich sah aber die Unsicherheit in seinen Augen, die er zu überspielen versuchte. Erkannte, wie nervös er die Finger knetete.

Ich hatte oft genug Verhöre geführt, um zu wissen, wann mir jemand ins Gesicht log!

Oder zumindest sagte er nur die halbe Wahrheit.

Ich legte den Kopf schief.
Was verschweigst du mir, Sandmann?

"Wie lange schläfst du eigentlich schon?" fragte ich nach.

"Keine Ahnung... Ein paar Stunden vielleicht..." Der Sandmann zuckte mir den Schultern.

Meine Augen verengten sich bei dieser Aussage.

"Was war das letzte Datum, an welches du dich erinnern kannst, bevor du ins Koma gefallen bist?"
Mich beschlich eine böse Vorahnung.

Der Kapuzenträger überlegte einige Zeit.

"Hm... Das muss so gegen Anfang 2019 gewesen sein... Kurz nachdem wir Brüder uns, nach Santas katastrophalen Track, das erste mal seit gut 100 Jahren zu einem Meeting getroffen haben." Er zwinkerte mir zu.

Mir blieb für einen Augenblick die Luft weg. Er hatte fast die Hälfte eines Jahrzehnts verpasst!

Er legte den Kopf schief. Seine Augen musterten mich neugierig.
"Aber ich glaube nicht, dass das der Grund ist, wesswegen du hier bist" Ich verneinte.

"Es geht um Julien Bam" Beim Klang des Namens bließ er genervt die Luft aus.

"Och ne, nicht DER schon wieder." Angewidert verzog er das Gesicht, als bisse er gerade in einen verfaulten Apfel.

"Du kennst ihn?" Überrascht blickte ich den Wächter an.

"Kennen? Ob ich den Typen kenne? NATÜRLICH kenne ich ihn! Wer bitteschön nicht?!" rief er energisch aus und kickte in dem Sand, sodass eine Fontane zur Seite schoss.

"Der raubt mir noch den letzten Nerv..." murmelte er zischend, aber gerade noch so laut, sodass ich es verstand.

Er drehte sich wieder zu mir um.

"Drei mal darfst du raten, um wen es bei dem letzten Gespräch zwischen uns Wächtern gegangen war..." Sein linkes Auge zuckte.

Ju
Alle Fäden führten stets zu ihm.
Es waren viel zu viele Zufälle, die nicht alle zufällig passieren konnten.

"Was hat dieser Bameninghong jetzt wieder ausgeheckt?" Der Sandmann bließ hörbar die Luft aus der Nase.

Die Anspannung vibrierte wie das Rasseln einer Klapperschlange.

Ich biss mir auf die Lippen.

Der Traumgefangene war wirklich vollkommen ahnungslos. Hatte tatsächlich keinen Blassen Schimmer, was in den letzten Jahren geschehen war!

Die drohende Vernichtung der Erde...

Das Datum des 17. Septembers 2022, jener Tag, an welchem sich der Mond vor die Sonne geschoben hat und der Mann im Mond in einem gleissenden roten Strahl seinem Gefängnis entfliehen konnte, hatte sich fest in mein Gedächtnis gebrannt.
Zwei Tage war das her!

"Kam endlich ein Statement?" Frage er hoffnungsvoll und zugleich voller Hohn.

"Ähm, was?" Redet der immer so wirr?

"Von der Produktionsfirma 7MILE!?" Er hob die Augenbrauen. "Die mein Musikvideo produziert hat!"

Erwartungsvoll schaute er mich an, als wartete er auf irgendeine Reaktion von mir.

Als diese jedoch ausblieb, bückte er sich zu füßen.
Ich hörte den Sand rascheln, als der in der Wüste Gefangene etwas davon aufhob.

"Dieser Hornochse und sein Musikproduzent haben eine geschützte Hook benutzt, dessen Verlag mich natürlich verklagt haben." Knurrte der Kapuzenträger.

"Und das Video musste nach 2 erfolgreichen Jahren runtergenommen werden." Seine Lippen wölbten sich vor Zorn. "Genau dann, wo ich von den Klichzahlen endlich über Santa und dem Osterhasen gelegen habe, schäppert diese Anzeige rein...."

Einige Körner rieselten zwischen seinen Fingern hindurch, während der Sand von seiner Hand im weiteren Verlauf des Monologs zerquetscht wurde.

So wie ich Ju jetzt kennengelernt hatte, hätte er sowas niemals mit Absicht gemacht.

"Monatelange Calls und Gespräche. Nix führte zum Reupload. Hab sogar den Beat umgebaut, um die Audiospur im bestehenden Video anzupassen. Vergiss es!" Er ballte die Hand noch fester zur Faust, sodass seine Adern hervortraten. "Die von YouTube sind manchmal so engstirnig!"

Der Sandmann öffnete die Hand. Ein Windstoss nahm die Sandkörner mit sich und trug sie fort.

"Wenigstens ist der geänderte Song auf allen anderen Plattformen verfügbar..." sagte er gedankenverloren, während er den davon wehenden Körnern nachsah.

Sandmann hatte tatsächlich gar nichts von der Außenwelt mitbekommen. So wie er die ganze Zeit über seine Musik laberte.

War vollkommen abgeschottet, isoliert in dieser Traumwelt gefangen gewesen, ohne den blassesten Schimmer, was sich draußen anbahnte.

Dass der Mann im Mond zurückgekehrt war. Auf der Suche nach seinem Gesicht, welches ihm zu vollen Macht verhilft. Mit dem Wissen, dass dieses ausgerechnet in Julien Bam's Besitz gelangt war, welcher daraufhin erbitterlich gejagt wurde. Der Osterhasen von den Anhängern seines verbrannten Bruders umgebracht worden war. Welcher aber von diesem in einen untote Handlanger verwandelt worden war, mit dem Ziel, Ju zu verfolgen. Und Zahnfee keine Ahnung, wie lange in einem Bannkreis gefesselt gewesen war.

Sollte ich ihm sagen, dass es gut 4 Jahre gewesen waren, die er verschlafen hatte?

Besser nicht!

Er würde es früh genug herausfinden. Vorausgesetzt, ich fand einen Weg, ihn aus diesem Traum heraus zu holen...

"Mir sind da in einem Raum ganz viele Sanduhren in Regalen aufgefallen." kam mir in den Sinn "Mein Name stand auf einer drauf!"

"Was ist mit ihnen?"

"Naja, sie sind alle fast abgelaufen..."

"Alle?"

Ich nickte.

Nervös begann er zu lachen " Das kann gar nicht sein. Jeden Abend wird neuer Sand eingefüllt, bis die Lebenszeit der Person zu Ende ist."

Er kicherte nervös.
"Solange die Maschinen laufen..." - "Liefen sie nicht!" unterbrach ich ihn.

Das Lachen blieb ihm im Hals stecken.

Auf einen Schlag wich alle Farbe aus seinem Gesicht.
"Nicht?"

"Alles war still, als ich in die Rafienerie kam" erklärte ich vorsichtig.

Von Beginn an hatte ich ein mulmiges Gefühl gehabt. Sein entsetztes Gesicht bestätigte dies. Etwas lief gewaltig schief.

Diese Sanduhren... Die Lebenszeit eines jeden Menschen...

Alle waren fast leer gewesen!

Bedeutete das etwa...

"Fuck man!" Schrie der Wächter in den Himmel hinaus.

"Scheisse, scheisse scheisse, der Strudel der Zeit gerät durcheinander" Der Wächter boxte und schlug mit wütenden Schreien in in die Luft.

Er atmete schwer, als er sich wieder zu mir drehte "Hat sich irgendwas verändert? Hat sich mal der Tag wiederholt oder wurde eine ganze Woche ausgelassen?" fragte er eindringlich.

Wie bitte?
Woher soll ich das wissen?

Angesträngt dachte ich nach. "Ich hab gehört, es gebe im Universum ein Zeitloch neben der Erde, durch welches ein Raumschiff aus der Zukunft hier her gekommen ist."

Selbst wenn ich selber es sagte, hörte es sich in meinen Ohren noch immer nach einem schlechten Science-Fiction Film an.

"Mein Traumsand in der Atmosphäre sollte die Bildung von Zeitlöchern eigentlich verhindern! Damit keine Zeitreisen möglich sind und Änderungen in der Vergangenheit, den Lauf der Menschheitsgeschichte oder die Gegenwart verändert..."

Zeitreisen
Die Raumschiffcrew!
Verdammt, wenn die in der Vergangenheit zu viel verändern, wer weiß, was das für Auswirkungen hat?

"Und ich glaube, in dieser Story sind die Chapter von der Timeline her nicht ganz chronologisch" flüsterte ich kleinlaut.

Oh Raya, was machst du nur?!

"Verflixte Axt! Es ist noch schlimmer als ich dachte!" knurrte der Sandmann.

"Ju hat Visionen von der Zukunft!" versuchte ich den Sandmann zurück auf das ursprüngliche Thema zu führen.

Und tatsächlich klappte es.
"Schon wieder?!" Der Kapuzenträger drehte sich ruckartig um, so dass seinen Umhang flatterte.

"Wie, schon wieder?" fragte ich erstaunt nach.

Er wusste über Ju's Visionen Bescheid?

"Lange Geschicht... aber wir haben ja Zeit..." Er setzte sich in den Sand. Offenbar bereit, eine lange Geschichte zu erzählen.

Hä, wie wir hatten noch Zeit?

Hatte er mir gerade nicht zugehört?
Oder sich selber?

Kuzzeitgedächtnis lässt grüßen!

Ich war drauf und dran, ihm zu erklären, dass dafür gar keine Zeit blieb.

Vielleicht schwebte Ju gerade in Lebensgefahr?! Genau jetzt!

Aber dann müsste ich ihm erzählen, dass der Mann im Mond auf die Erde zurückgekehrt war und was seinem Bruder, dem Osterhasen, widerfahren war.

Andererseits... gab seine Hintergrundgeschichte vielleicht Antworten auf offene Fragen!

Ich tat es meinem Gegenüber also gleich und ließ mich in den Sand nieder.

"Julien wurde schon vor Jahren fast täglich von apokalyptischen Albträumen geplagt." begann der Sandmann zu erzählen.

"Woher weißt du das so genau? fragte ich. Er zuckte mit den Schultern.

"Andere schauen Netflix oder Amazon Prime. Ich hab ein Freeware Abo bei Dream World." Das verschmilzte Grinsen auf dem Gesicht meines Gegenübers war deutlich zu sehen.

Ich erschauderte bei dem Gedanken, wie dieser etwas durchgeknallte Typen meine privaten Träume, wie Pornos, gucken konnte.

"Jene von freischaffenden Künstlern sind immer besonders spannend. So lebendig und voller Plot-Twists" fügte dieser etwas verträumt hinzu.

"Das kam dir nicht komisch vor, dass er visionsähnliche Träume vom Weltuntergang hat?"

"Schon. Aber ist ja nicht mein Problem! Kommt öfter vor bei Menschen mit nem psychischen Knacks" Er zuckte mit den Schultern, während ich aus allen Wolken fiel.

What! Nicht SEIN Problem?
Alter, DU bist der fucking Sandmann!

Und Ju hat ganz bestimmt kein psychisches Problem!

Er brachte die Leute zum Lachen. ER war der Psychologe, der seine Zuschauer einen kurzen Moment von ihren Sorgen befreite!

Klar, im Moment ging es ihm nicht so gut, weil er sich tierische Sorgen um seinem besten Freund machte.

Aber ganz ehrlich: Wer nicht, an seiner Stelle?

Ich holte schon Luft, doch da redete der selbsternannte Herrscher der Träume wie ein Wasserfall einfach weiter.
"Er stürzte sich in noch mehr Arbeit, schlief fast gar nicht mehr. Stützte sich auf den Ehrgeiz und Perfektionismus, qualitativ noch hochwertigeren Kontent zu produzieren. Stetig den eigenen Maßstab höher setzend. All dies als Vorwand zu nutzen, nicht mehr schlafen zu gehen, um dem Land der Träume entgehen zu können."

Ju hatte die letzten Jahre kaum geschlafen?!
Auf Dauer war das doch total ungesund. Ein Mensch musste schlafen, um die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten. Die Batterie wieder aufzuladen.

Es war reiner Selbstschutz gewesen! Weil er keinen anderen Ausweg gesehen hatte.

Ju tat mir so unfassbar leid.

"Die Träume waren anders, als Andere. Sie einzogen sich meinen Einflüssen."

Moment, der Meister der Träume konnte alle kontrollieren, ausser jene von Ju?

Hatte er das nie hinterfragt?

"Eines Tages hatte Santa einen Brief von Julien erhalten, in dem er über eine kommende Bedrohung berichtete." Fuhr der Sandmann fort.
Er sagte das so beiläufige, als sei es nichts Weltbewegendes.

Das hörte sich für mich fast wie ein Hilferuf an.
Ju war offenbar so verzweifelt gewesen, dass er sogar eine fiktive Sagengestallt um Hilfe bat.

"Also haben wir ein bisschen nachgeholfen... zumindest ICH"

Bitte WAS?

"Am Anfang ging es noch gut, aber irgendwann war seine mentale Gesundheit komplett am Arsch. Ohne es zu merken. Gefangen in der eigenen Bubble.
Hätten wir nicht eingegriffen... tja, wer weiß was..."

Wollte er mir damit Sagen, dass Ju sich...
NEIN

"Was hast du gemacht?" fragte ich, um auf andere Gedanken zu kommen.

"Das Ganze genau zu Erklären wäre viel zu kompliziert und unnötige" winkte der Sandmann ab. "Es ist ein spezielles Prozedere. Sehr schwierig und für mich äußerst gefährlich, da ich direkt in den Traum der Person eindringen musste."

Entgeistert starrte ich den Sandmann an.

"Ihr habt ihm die Phantasie genommen!" flüsterte ich.

Sie hatten in die Persönlichkeit eines Unschuldigen eingegriffen.
Hatten dafür gesorgt, dass sein Leben aus den Fugen gerät.

Das erklärte so einiges. Warum es im Jahr 2019 kein "Hey Ju" mehr gab!
Zufall? Ich glaube nicht!

Ihm zu dieser Zeit alles zu Kopf gestiegen war. Warum er seinen Upload Rhythmus geändert und von jede Woche auf nur noch alle 14 Tage geändert hatte. Mehrheitlich Serien, anstatt einzelne in sich geschlossene Videos produzierte.

Weil er keine Ideen für Geschichten und neue Konzepte mehr hatte. Die kreative Ader ausgetrocknet war. Der YouTuber in einem sich viel zu schnell drehenden Hamsterrad gefangen war.

Der Grund, warum er seinen Kanal Ende des Jahres stillgelegt hatte.

Psychisch bereits durch den Stress und Leistungsdruck geschlaucht, hatten die Boten alles nur noch schlimmer gemacht.

Die Stillegung des Hauptkanals gehört ebenfalls zum prophezeiten Sturm!
Ein Sturm zieht auf

Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich an die Worte dachte.
Das Unheil braute sich am Himmel zusammen... genau in diesem Augenblick.

Die Boten hatten auf diese Art und Weise versucht Julien zum Schweigen zu bringen!

"Ihr habt einen unschuldigen Menschen gebrochen. Seine Seele zerstört!" Wie ein rasendes Feuer breitete sich die Wut in mir aus.

Julien hatte niemandem etwas getan! Im Gegenteil. Er tat alles Menschen mögliche, seinen Fehler wieder gut zu machen!

"Unschuldig?" Der Sandmann schnappte entrüstet nach Luft "Der Mann im Mond hat ihn beeinflusst. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er Julien auf seine Seite gezogen hätte."

"Aber er hat es in seinen Videos stets als Warnung dargestellt..." wannte ich ein.

Die Szenen mit dem sprechenden Haus und der fliegenden Null hatten der Sketch-Show #Hey Ju einen mystischen Flair verleit.

Es war das Format gewesen, was von seinen Zuschauern am beliebtesten war.

Ju war schlau!

Natürlich hatte er die Hinweise und Warnsignale dort hinein gepackt, wo er am meisten Leute erreichen konnte.
In der Hoffnung, sie vor der drohenden Katastrophe, dessen Ausmaß da noch keiner richtig erahnen konnte, zu beschützen!

"Warnung? Eher kryptische Andeutungen, weil er die Zeichen selber nicht verstanden hat." Mein Gegenüber verdrehte die Augen.

Anscheinend war das Ju's Art gewesen, mit den Träumen umzugehen. Andere Künstler malten Bilder, machten Songs oder schrieben Gedichte, um ein Trauma, undefinierbare Gefühle oder Verlust zu verarbeiten. Der YouTuber hatte es, versteckt, in seinen Videos getan.

Der Julien, den ich heute kannte, den ich mochte - sogar sehr - war nicht der echte Julien. Es war eine Face version seiner selbst. Eine ruhige, ausgeglichene, erwachsene Version, die das ware Wesen des fantasievollen Kindes in Schach hielt.
Ohne es zu wollen war er erwachsen geworden.

Als ich im Kopf die letzten Veröffentlichungen Videos nochmals durchging, wurde mir ein weiteres Indiz seiner Veränderung mit Schrecken bewusst: Ju tanzte nicht mehr!

Die letzten veröffentlichten Projekte waren Serien und Kurzfilme gewesen, in denen gerappt wurde... aber ohne Breakdance.

Der Beboy, womit die YouTube Reise einst begonnen hatte, war ebenfalls verschwunden.

Neben dem Filmen und Storys erzählen, war das stets seine größte Leidenschaft gewesen. Der Moment, wo er so richtig aufblüht. Gefühle ohne Worte aussprach, wie im 4 Millionen Abo Spezial.

In solchen Augenblicken hatte Ju so richtig glücklich gewirkt.

"Er wird nie wieder Breakdance tanzen können" riess mich der Sandmann aus den Gedanken. Woher wusste er das?

"Zahnfee hat ein bisschen an seinem Fuß rumhantiert..."

Entsetzt starrte ich den Wächter an. Die Art und Weise, wie er die Worte sprach. Als erzähle er mir von einem Buch, welches er kürzlich gelesen hatte.

Keine Reue spiegelte sich in seiner Klangfarbe wider. Als sei es ihm völlig gleichgültig, die Energie, Leidenschaft und kreative Ader einer gutherzigen Person, die nichts anderes wollte als ihre Passion auszuleben und mit der Welt zu teilen, durchbrochen zu haben.

Alles schien fort, was Julien damals glücklich gemacht hatte.

Es war fast so, als seien der heutige Julien und der aus den alten Videos zwei völlig verschiedene Personen.

Als ob der alte Ju verschwunden war. Gelöscht.
Verschollen im Nichts...

Erneut erinnerte ich mich daran, wie lange ich gebraucht hatte, um zu erkennen, dass der Mann vor mir wirklich Julien Bam gewesen war.

Lediglich die unverkennbaren Tatoos am Arm und der Notenschlüssel mit der Feder hinter dem Ohr hatten ihn verraten.

So eine krasse Typveränderung bedeutet Neuanfang. Das alte Ich in der Vergangenheit zurücklassen, mit all den Gedanken, Vorlieben und Taten.

Es war nicht mehr der Julien von früher. Ohne Emphatie zu der früheren Person seiner selbst.

Tränen der Wut stiegen auf.

Die Wächter, besonders der Typ vor mir, wiederte mich an. Ihnen war alles egal.

Es ging ihnen nur um ihre eigenen Zwecke!

"Von mir aus verreck doch hier!" Schmetterte ich dem Sandmann wütend entgegen.
Abrupt drehte ich mich auf dem Absatz um und stapfte durch den Sand.

Ich schloss die Augen. Versuchte, mich zu beruhigen. Mich auf meinen Körper zu konzentrieren, der sich in Sandmann's Schlafzimmer in der materiellen Welt befand.

Mein Körper wurde federleicht. Fast als würde er schweben. Langsam lösten sich meine Finger in Luft auf. Kurz darauf verschwand meine ganze Hand im Nichts.
Es faszinierte mich jedes Mal...

Bald würde ich aus dieser Traumwelt verschwunden sein...

Ich würde zu Joon zurückgehen. Ihm sagen, dass die Wächter miese Arschlöcher sind und gemeinsam Ju retten. Ohne die Assi Wächter! Ich würde Ju bis ans Ende der Welt suchen...

Eine Hand packte mich an der Schulter. Krallte sich schmerzhaft in den Vertiefungen meines Schlüsselbeins fest. Nur der Stoff des Shirts verhinderte, dass sich die Fingernägel ins Fleisch bohren konnten.

Ich wirbelte herum. Mit wild entschlossenem Gesichtsausdruck stand der Sandmann dicht vor mir. Die schwarze Schutzbrille dicht auf die Augen gepresst. Tief war die Kapuze ins Gesicht gezogen worden.

Bevor ich etwas machen oder sagen konnte, löste sich die Welt um mich herum auf.

Mit wild rasendem Herzen wachte ich auf. Es dauerte kurz bis ich mich orientiert hatte. Noch immer saß ich vor dem Bett des Sandmann's, der mich jetzt triumphierend angrinste

"Guten Morgen liebe Sorgen, seit ihr auch schon alle wach? Habt ihr auch so gut geschlafen? Na dann ist ja alles klar! Hehehe" sange er ein echt alten Meem Song von Jürgen von der Lippe, den die Kids heutzutage höchstwahrscheinlich gar nicht mehr kannten.

Sofort kochte die Wut wieder über.
Er hatte mich als Schlupfloch benutzt, um aus seinem Gefängnis zu entkommen!

"Du elendiger ver..." weiter kam ich nicht.

Unvorbereitet traf mich die großzügige Portion Sand voll ins Gesicht. Verklebte die Augen, setzte sich in den Schleimhäuten und Atemwegen fest.

Innerhalb von Sekunden setzte die Wirkung ein.
Ich hatte keine Chance, gegen die betäubende Narkose anzukämpfen.

Noch während ich den Boden auf mich zu rasen sah, verlor ich das Bewustsein.

Diesmal war ich selber gefangen. Festgehalten im Sog unendlicher Dunkelheit...

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