{K11} The ways of the compass

Sicht Yukiko

Der Sessel, auf welchem ich saß, war hart und unbequem. Die auf der Sitzfläche vorhandene schiefe Wölbung verursachte langsam Rückenschmerzen, weil meine Wirbelsäule ständig gegen die Schwerkraft steuern musste, um mich vor einem Fall auf den dreckigen Holzboden zu bewahren.

Wenn hier eine Uhr gewesen wäre, hätte ihr lautes Ticken die Stille wie ein Presslufthammer durchbrochen.

Das Hotel zum Zahn war verlassen. Die Zahnfee war mit Joon aufgebrochen, um Zutaten für die Reparatur des beschädigten Schutzschildes zu besorgen.

Die einzigen lebenden Figuren im Gebäude waren ich und der Kompassträger.

"Goldsynthese herstellung von Alchemistentaler" las mein Gegenüber laut vor. "Pff, was für ein Schwachsinn!" Geräuschvoll wurde das Buch am anderen Ende des Raumes zugeklappt.

Ich blickte von meinem eigenen Buch über das Thema Transmitation auf, um den Mann zu betrachten.

Julien wirkte müde. Sein Kopf hatte er in den Nacken gelegt, während er teilnahmslos zur Decke starrte. Die Hände ruhten entkräftet auf dem Deckel des schwarzen Einbands, welcher auf seinem Schoß lag.
Unter den hohen Regalen wirkte er wie eine kleine Spielfigur.

Die Zahnfee hatte in ihrer Bibliothek eine beachtliche Sammlung an Fachliteratur über Alchemie angesammelt.

Wirklich viel Ahnung von Chemie hatte ich bisher nicht und verstand die ganzen lateinischen Begriffe auch nicht wirklich.
Viele der literarischen Werke waren in eben jener Sprache verfasst worden.

Lange hatten wir suchen müssen, um welche auf Deutsch zu finden.
Der komplexe Satzaufbau dieser altertümlichen Sprache überstieg meist die Kenntnis meines Wortschatzes.

Aber es war eine willkommene Beschäftigung, zur Überbrückung der Wartezeit.

"Ach komm. Es ist auf jeden Fall interessant" - "Wenn du meinst" kam es missmutig aus der Ecke.

Leder knirschte, als ich mein eigenes Buch ebenfalls schloss und auf den Stapel der bereits von mir durchgeblätterten Werke legte.

Ich wollte ein Gespräch anfangen.
Die unangenehme Stille durchbrechen.

Aber irgendwie wusste ich nicht, worüber.
Ich kannte ihn schließlich kaum.

Welche Hobbys hast du?
Was ist dein Lieblingsessen?
Wo würdest du gerne mal hinreisen?
Pff, das waren doch lame Standard Floskeln.

Als Fangirl hätte ich bestimmt leichteres Spiel gehabt, mit dem YouTuber ins Gespräch zu kommen.

Was würden sie ihn wohl fragen?

Angestrengt dachte ich nach, was bei meiner Google-Suche auf dem Floß für Ergebnisse ausgespuckt worden waren.

Warte, etwas hatte ich über ihn erfahren...

"Du machst Breakdance, oder? Wie bist du dazu gekommen?"

Ein Brummen antwortete.

Na, der ist ja gesprächig!

Ich startete einen zweiten Versuch.
"Kannst du mir was zeigen?"

Vielleicht schaffte er es ja, den Funken für diesen Tanzstil in mir zu entfachen.

"Kein Bock!"

Wow, was ist dem denn über die Leber gelaufen?

Ich rückte etwas näher zur Kante des Sessels. Stützte meine Hände ab, um ihn eingehender zu mustern.

"Julien, wa..." - "Herrgott nochmal!" wurde ich scharf unterbrochen.
"Kein Mensch sagt heutzutage noch Julien zu mir"

Die Worte blieben mir im Hals stecken. Hatte ganz vergessen, was ich eigentlich hatte sagen wollen.
Zu sehr warf mich seine plötzlich forsche Art aus dem Konzept.

Der Influencer schnaubte genervt.

"Einfach nur Ju! Kurz und knapp. Trägt sich akustisch von den Vokalen her weit." seine ausladende Gestik, als wöllte er etwas fortwehen lassen, unterstrich seine Aussage.

Ich starrte ihn an.
Verwirrt und irritiert, wie ich mich verhalten soll.

"Wir können doch nicht tatenlos hier rumsitzen und nichts tun"

Ich setzte zu einer Antwort an, wurde aber durch das Heben des Kopfes meines Gegenübers erneut zum Schweigen gebracht.

Staub wirbelte auf, als das Buch schwungvoll auf den Tisch geworfen wurde.

"Wir müssen zum Sandmann!"
Julien stand entschlossen auf. Nach einigen Schritten krümmte er sich jedoch und hielt sich das Steißbein, als hätte er gerade einen Hexenschuss.

Taumelte schwankend zum nahegelegenen Türrahmen und hielt sich verkrampft daran fest.

"Geht's?" Bestürzt war ich zu ihm geeilt, griff unter seinen Arm, um ihn zu stützen.

Das erklärte seine Stimmungsschwankungen.
Er hatte Schmerzen!

Ich runzelte die Stirn.
Was hatte Zahnfee nur mit ihm gemacht?

"Du kannst in diesem Zustand nicht rausgehen!" Ich wollte ihn zurück zum Stuhl führen, doch Julien sträubte sich.

Er schüttelte energisch den Kopf und atmete nochmals tief durch, ehe er seinen Oberkörper langsam aufrichtete.

"Zahnfee hat gesagt, ich solle auf dich aufpassen!" - "Ich brauch keinen Babysitter!" knurrte er trotzig.

Ich erstarrte, ab der Schärfe in seiner Stimmfarbe.

Erst, nachdem er dies gesagt hatte, schien ihm die Bedeutung seiner Worte bewusst zu werden.
Dass er mich gerade verbal verletzt hatte.

Seine Gesichtsmuskeln entspannten sich, als er mir einen entschuldigenden Blick zu warf. "Sorry, war nicht so gemeint..." murmelte er.

Der 33-Jährige ließ die Luft aus seiner Wange entweichen und fuhr sich durchs Haar.

"Schon okay. Lass es ruhig raus, damit's dir besser geht" flüsterte ich mitfühlend.

Sekunden später bereute ich diesen Ratschlag.

Frustriert schlug der Mann mit der Faust gegen den Türrahmen. Holz splitterte. Ich zuckte erschrocken zusammen.

"Ich möchte auch helfen!" Machte er seinem Ärger Luft. "Nicht einfach nur tatenlos rumsitzen, während alle anderen etwas zur Rettung der Welt beitragen" Julien lehnte sich erschöpft an die Wand und schloss gequält die Augen.

"Ist es zu viel verlangt, einen Fehler rückgängig zu machen? Ich möchte alles daran setzten, die Menschen, die mir wichtig sind, zu beschützen." flüsterte er mehr zu sich selbst.

Ich wusste genau, was er meinte. Ich fühlte mich schon die ganze Zeit unnütz und fehl am Platz.
"Du weißt gar nicht, wie gut ich das nachempfinden kann..."

Überrascht öffnete Julien die Augen. "Was denn?" - "Alles was du gesagt hast." Antwortete ich.

Nachdenklich rückte der YouTuber sein Hamd zurecht.

"Dann verstehst du hoffentlich, dass ich gehen muss!"
Entschieden stieß sich der Mann von der Wand ab.
Schien einen Entschluss gefasst zu haben.

Langsam bückte sich Julien.

"Na los!" forderte er mich auf.

Wie festgefroren blieb ich an Ort und Stelle.

Das meinte er jetzt aber nicht ernst?!

"Worauf wartest du?" ungeduldig warf er einen Blick über seine Schulter mir zu.

"Ich würd ja selber, wenn ich eine Eule wäre..."
Der Joke zündete nicht. Gerade war mir überhaupt nicht nach Scherzen zumute.

Diese Situation war einfach nur sowas von unangenehm.

Ich schluckte.

Oh man!

Mit zwei Fingern hob ich das schwarze Shirt.

Ein leichtes Zittern fuhr durch seinen Körper.
Angespannt hielt ich bei dieser Reaktion inne.

Musste das Navi ausgerechnet an so einer Stelle sein?

"Hast du dieses Tattoo schon dein Leben lang?" fragte ich den Träger, auch um mich selber abzulenken.

"Nein" kam die knappe Antwort.

"Woher hast du es dann?"

Ju schwieg. Hörte stattdessen einen tiefen Atemzug.

"Es ist... kompliziert..." murmelte er schließlich.

Obwohl es mich eigentlich brennend interessierte, was geschehen war, fragte ich nicht weiter.

Es war deutlich zu spüren, dass Ju nicht darüber reden wollte.
Die Narben schienen noch immer präsent zu sein, genau wie der feine blaue Schimmer des magischen Tattoos.

Warte mal...

"Hey Ju, die Farbe ist glaub verblasst!" rief ich geschockt und versuchte krampfhaft etwas zu erkennen.

Mist!
Wenn jetzt der Kompass einfach verschwindet...

"Spuck mal drauf"

Entgeistert zog ich die Luft ein.

Wie bitte?!

WTF!

Oh Gott, das wurde ja immer schlimmer.

"Langsam krieg ich nen Krampf." Beschwerte sich der Bückende. "Mach mal hinne!"

Ich überlegte gar nicht mehr lange.
Kaum zu glauben, aber langsam gewöhnte ich mich an den abgedrehten Shit dieses Cinematic Universe.

Vielleicht stand er ja drauf.
So ein kinki Fetisch.

Igitt!
War das widerlich!

Kaum hatte sich der Speichel auf der Haut verteilt, wurden die Farben tatsächlich wieder intensiver.

Wow!
Je länger ich es betrachtete, umso mehr verwandelte sich mein Schamgefühl in Faszination.

Das geschwungene, runenartige Muster, welches die inneren, sich selbständig drehenden Kreise umrahmte und die vier Zeiger in unterschiedliche Richtungen weisten auf dessen Spitzen jeweils das Symbol der Wächter prangte.

Wer auch immer das Aussehen dieses besonderen Kompasses entworfen hatte, der hatte auf jeden Fall einen Sinn für Ästhetik gehabt.

"Ähm und welches Symbol ist das vom Sandmann?" Etwas überfordert blickte ich auf die unterschiedlichen Zeichen.

"So eine aufgestellte Fliege, glaube ich" antwortete Julien.

Eine aufgestellte Fliege?

Ich sah hier nur eine gespiegelte Mensch Ärger dich nicht Figur, ein etwas verbeulter Ball und eine Rakete oder was auch immer das sein sollte.

Auch so, Ju meinte das Kleidungsstücke Fliege!
Nicht das Tier.

Am liebsten hätte ich mir an die Stirn geklatscht.

Es kam nicht oft vor, dass ich eine lange Leitung hatte.
Aber wenn es mal passierte, dauerte es lange, bis der Strom wieder durch die Synapsen meines Hirns flossen.

"Hm, ich glaub nach Nord-Westen" versuchte ich die Himmelsrichtung zu eruieren.

"Na dann mal los!"
Ju erhob sich und griff sich die braune Tasche mit dem Gesicht vom Mann im Mond.

Schockiert schaute ich auf den Beutel, welchen sich der Mann wie selbstverständlich umhängte.
Als würde sich darin nichts weiter als die üblichen Dinge befinden, anstatt dem absolut Bösen, was alles und jeden vernichten konnte.

"Meinst du nicht, es ist nicht besser, das Gesicht hier zu lassen?"

Mir war nicht wohl dabei, es in meiner und seiner Nähe zu wissen.

War ich froh, wenn es bald in die Sonne geworfen werden konnte.

Hoffe, die Aliens würden uns tatsächlich helfen, das Ding endlich loszuwerden.

Aber das wäre bestimmt zu einfach, für den Plot dieser Geschichte.

"Und was, wenn jemand kommt und es klaut?" widersprach der Paketempfänger.

Stimmt, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.
Die schützende Hülle, welche das Hotel zum Zahn umgab, war beschädigt.

Jeder konnte problemlos hineinspazieren.
Wir waren ja auch easy durchgekommen.

Nachdenklich betrachtete Ju die Umhängetasche, welche an seinem Körper baumelte.
"Nenn mich jetzt bescheuert, aber ich habe das Gefühl, dass es bei mir am sichersten ist."

Ich nickte verständnisvoll.

Ju fühlte sich verantwortlich für das Gesicht. Es immer bei sich tragen wollte, um sicher gehen zu können, dass nichts damit geschieht.
Auf das Objekt aufpassen musste, welches über das Schicksal der Welt entscheidet.

Als sei er der Hüter des heiligen Grals. Dazu verdammt, es mit seinem Leben zu beschützen.

Einerseits sehr verantwortungsbewusst, aber andererseits total unverantwortlich.

Schließlich war Julien nur ein gewöhnlicher Mensch!

Eine leichte Beute für alles Übernatürliche.

Wer weiß, was sonst noch so alles in diesem übriggebliebenen Märchenwald hauste?

Und das war der Grund, warum nur ich ihn beschützen konnte.

"Okay, suchen wir den Sandmann" sagte ich, während ich ebenfalls nach meiner Tasche angelte, die über der Lehne des Sessels hing.

"Ehrlich?! Du kommst mit?" Ju wirkte sehr überrascht. "Es könnte gefährlich werden..." fügte er ernst hinzu.

"Ach komm! Ich hab ein riesiges Seeungeheuer verjagt, gegen einen tollwütigen Wolf gekämpft - Ich glaube, Gefahr ist mein zweiter Vorname!"

Der Content Creator gab mir lachend recht.

Gemeinsam gingen wir zum großen Eingangstor und verließen gemeinsam das Hotel.

Ein würziger Duft lag in der Luft. Wie wenn im Hochsommer bald ein Gewitter aufzieht.

Oh je!
Diese komische Wahrsagerin hatte mit ihrer Wettervorhersage anscheinend doch recht gehabt.

Hoffentlich wartete Petrus mit dem Öffnen der Himmelsschleuse, bis wir zurück waren.

Kaum war das Scharnier wieder eingerastet, blieb Ju stehen.
"Hm... hab so random das Gefühl, was vergessen zu haben..."

"Also Tasche mit Gesicht hab ich, ne Bohne für den Notfall auch..." überlegte er laut.
Es klimperte, als er in eine der zahlreichen Taschen seiner olivgrünen Hose griff. "Hausschlüssel, Geldbörse..."

Seine Hand tauchte wieder auf. Darin hielt er die eine Hälfte des schlichten, hellgrün geknüpften Armbands, welches durch die Säure dieser blauen Flüssigkeit in Zwei geteilt worden war.

Seine Hand begann leicht zu zittern, wärend er das Band durch die Finger gleiten ließ.

"Warte kurz hier!" sagte er so beiläufig zu mir, als sei ihm nur noch halb bewusst, dass ich neben ihm stand.

Ju ging zurück ins Gebäude und ich sah durch den Spalt der Tür, wie er hinter den Empfangstresen trat und etwas auf ein Stück Papier kitzelte.
Das Band wurde auf die Mitte des Briefs abgelegt.

Danach kam er zu mir zurück.
"Naja, wird bestimmt nix wichtiges gewesen sein." Der YouTuber zuckte mit den Schultern und ging die drei Treppenstufen hinunter.

Mein Blick blieb an einem Steinhaufen hängen.
Er war vor kurzem notdürftig zusammengebaut worden.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

"Ruh in Frieden"

Ich hatte das kleine, knuffige Wesen nur wenige Stunden gekannt, dennoch traf mich dieser eigentlich unnötige Verlust ungewöhnlich tief.

Diese süßen Knopfaugen, die putzige Nase und das knuffige Fell.
Unbewusst war meine Hand zur Schulter gewandert, wo es die meiste Zeit der Wanderung gewesen war.

Hach Monsieur Piet, ich werde dich vermissen...

Ju kam ebenso neben mich und betrachtete das Grab. "Sorry hab ich dich vorhin drecks Vieh genannt" murmelte er entschuldigend.

Eine ganze Weile blickten wir stumm auf die sterblichen Überreste.

Wir beide schienen gerade an einen, oder mehrere, Verluste zu denken.

Es war jedes mal so beklemmend, jemanden zu Grabe zu tragen.

Ich glaube, daran gewöhnen würde ich mich nie.

Leider war dies in meiner bisherigen Laufbahn viel zu oft geschehen.

Mit 20 hatte ich meine 4 jährige Ausbildung abgeschlossen gehabt.

Das war nun auch schon wieder 5 Jahre her.

Nie hatte ich gedacht, dass dieses Amt so viele Verluste mit sich brachte.

Aufgrund meiner außergewöhnlichen Situation sehr viel mehr, als üblich.

Meine Vorfahren würden sich im Grab umdrehen, wenn sie das wüssten.

Ein tiefer säufzer war neben mir zu hören.

Mit gesenktem Kopf und überkreuzten Händen stand der Schwarzhaarige an der Begräbnisstätte. Tief in seinen Gedanken versunken.

An wen Ju wohl gerade dachte?

Er hatte schon so viel durchgemacht!
Mehr als andere Menschen.

Mit einem Kloß im Hals löste ich meinen Blick von ihm.
Ich konnte es einfach nicht ertragen ihn so traurig zu sehen.

Meine Selbstsicherheit geriet ins Wanken.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm etwas zustieß, war sehr hoch.

Eigentlich durfte ich nicht so fühlen!
Es sollte mir gleichgültig sein, was mit ihm geschah.

Doch das tat es nicht!

Alleine schon beim Gedanken, ich könnte ihn verlieren, wurde mein Herz so schwer wie ein Felsbrocken.

Ju löste irgendwas in mir aus, was ich nicht in Worte fassen konnte.

Liebe?
Nein, er war für meinen Geschmack definitiv zu alt für mich!

Es war etwas anderes.

Irgend eine Faszination, die ich noch nicht richtig greifen konnte.

In seiner Gegenwart war ich anders. Nicht so distanziert und verschlossen, wie sonst...

Nachdenklich wartete ich, bis sich der Singapurer aus seinen Erinnerungen befreit hatte und schlug den Weg nach Nord-Westen ein.

Das dichte Blattwerk der Bäume verschluckte gierig alles Sonnenlicht. Aufgelockerte Wolkenschlieren schoben sich, wie eine lange Decke aus Watte, davor.

Im Schatten erschien es mir deutlich frischer. Leicht fröstelnd zog ich meine Jacke enger.

Lange hatte sich dieses Jahr der Sommer bis in den September hinein gezogen.
Umso intensiver war der Temperaturabfall zu spüren.

Ju schien die Kälte hingegen nichts auszumachen.
Und dies, obwohl er nur ein kurzarm Hemd trug.

Seine gelbe Jacke war, nach dem Chemieunfall, nicht mehr zu gebrauchen gewesen.
Sie lag vermutlich im Hotel in irgendeiner Ecke.

Wir liefen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her, bis unser Weg jeh gestoppt wurde.

Vor uns lag ein Baum quer auf dem Boden. Zumindest halb, denn er wurde vom gegenüberliegenden Hang in senkrechter Position gehalten.

Die noch intakten Äste der Baumkrone verhinderten, dass man unter der Lücke hindurchkriechen konnte.

Ich versuchte es, doch verhedderte mich heillos in diesem Mikado aus Geäst.

Uns blieb nichts anderes übrig, als oben drüber.

Ich kletterte auf einen Ast und zog mich hoch auf den Stamm. Als ich sicher saß, reichte ich meinem Begleiter die Hand.

Julien folgte mir etwas unbeholfen. Mehrmals blieb seine Tasche an den Astgabeln hängen, was den Kletterer sichtbar behinderte und zurückhielt.

Ich hatte schon den Satz "Gib mir die Tasche!" auf der Zunge, schluckte ihn aber im letzten Moment hinunter.
Stattdessen ergriff ich seinen Arm.

Ich hörte seinen angestrengten Atem, als er sich ächzend hochzog. Spürte die arbeitenden Muskeln unter seinem Shirt.

Schwerfällig ließ er sich neben mir auf dem Stamm nieder.

"Danke, dass du an meiner Seite bist" sagte er zwischen zwei Atemzügen.

"Einer muss ja den Kompass lesen" erwiderte ich mit einem schiefen Grinsen.

Ein amüsiertes Lachen entfuhr ihm.

"Du bist schwer okay, Kiko" meinte der Tätowierte daraufhin und lächelte mich an.

Dieses Lachen löste einen kleinen Wirbelsturm in mir aus.

Wie schön wäre es jetzt, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen und den Blick einfach über die unendliche Ferne des Waldes schweifen zu lassen.

Nichts anderes existierte, außer jemand an seiner Seite, der einem Halt gab.

Es war ein sehnsüchtiger Gedanke.

Ein Wunsch, der nie in Erfüllung gehen wird.
Es tut mir leid, Ju!

Dumpf schlugen meine Schuhe auf dem Waldboden auf. Trieb unausgesprochen einen Keil zwischen uns, welcher die Kluft weiter auseinander trieb, die kurz davor gewesen war, noch enger zusammen zu rücken.

Blätter federten den Sturz ab. Es war ein geübter Sprung gewesen, den ich schon unzählige Male zuvor auf sehr viel unebenerem Gelände gemacht habe.

Mein Begleiter wollte es mir gleich tun. Allerdings war er eher wie eine Ente, die das erste mal versuchte zu fliegen.

Als er auf dem Boden aufkam, knickte er mit dem linken Fuß um. Fluchend klammerte er sich an der Rinde fest und entlastete das Bein.

"Hast du dich verletzt?" fragte ich erschrocken und eilte zu ihm.

Das würde gerade noch fehlen...

Ju starrte auf seinen Fuß. Seine Augenbrauen verengten sich, was Falten auf seiner Stirn verursachte.

Frust und Hass spiegelten sich in den sonst sanften Augen wider. Als würde er dieses Körperteil abgrundtief verachten.

"Ju?" Erschrocken zuckte er bei meinen Worten zusammen, als sei er durch sie aus einer anderen Welt zurück ins Hier und Jetzt gerissen worden.

"Was?"

Ich wiederholte meine Frage.

"Es ist nichts..." nuschelte er.

Ich legte den Kopf schief. "Du hast aber Schmerzen!" Man musste echt kein Arzt sein, um dies zu erkennen.

Wenn mir diese Zahnfee-Gestalt nicht so suspekt wäre, hätte ich den Wächter des Schutzes schon längst zur Rede gestellt.

"Nur eine alte Ver..." Ju brach ab und schluckte. "Fuck..."

Prüfend betrachtete ich den jungen Mann, der sich verkrampft an einem Ast des eben überwundenen Hindernisses festklammerte.

"Sollen wir eine Pause machen?" fragte ich ihn.
Nicht, dass noch mehr kaputtging.

Zu meinem großen Erstaunen widersprach der Verletzte.
"Gib mir eine Sekunde!"
Ju bückte sich.

Ein grässliches Knacken ertönte, als er sein Fußgelenk mit einer scheinbar geübten Bewegung eigenhändig wieder einrenkte.

Bei diesem Geräusch durchfuhr mich ein unangenemer Schauer. Spürte das Knirschen förmlich in den eigenen Knochen.
Mir lief es kalt den Rücken hinunter.

Man sah es Ju deutlich an, dass diese Prozedur alles andere als angenehm gewesen war.

Prüfend setzte er das Bein auf den Boden auf und belastete es vorsichtig.

"Okay, kann weiter gehen" meinte er erleichtert.

Kopfschüttelnd lief ich hinter ihm her.

"Was machst du eigentlich sonst so, Kiko?" fragte mein Begleiter irgendwann.

Ich stolperte über einen Stein, als ich mich überrascht zu ihm umwandte. "Hä?"

"Na, ich möchte dich etwas kennenlernen. Schließlich weiß ich so gut wie nix über dich. Tja, und über mich kannst du alles googeln! Also..."

"Ich helfe Menschen" antwortete ich stotternd.

Zumindest versuchte ich es...

"Also bist du Ärztin?" fragte er.

"Nicht wirklich. Ich helfe all jenen, die sich nicht selber helfen können" versuchte ich, meinen Job so gut es ging zu umschreiben.

"Ach echt? Also bist du im humanitären Bereich tätig?! Voll cool" rief er, als ich schüchtern nickte.

"Ich war mal in Bangladesch" begann Julien Bam zu erzählen. "Da war eine Insel, die vom steigenden Meeresspiegel langsam versinkt. Jedes Jahr verlieren die Bewohner dort mehr Fläche zum Leben." Er endete mit einem tiefen Atemzug, als würden ihn diese Bilder immer noch beschäftigen.

Die Insel Boha!
Ich hatte schon von ihr gehört.

Diese Insel war nicht die einzige auf der Welt, die durch den Klimawandel ein ähnliches Schicksal erleidet.

Ich hätte die Kraft, dieses Naturereignis aufzuhalten.

Durch die viel zu schnell voranschreitende Industrialisierung, hatten die Menschen, durch ihre Gier, wertvolle Ressourcen genommen.

Dadurch war der ganze Planet auf die schiefe Bahn geraten.

Das Gleichgewicht war zerstört.

Die Natur begann sich zu rächen!

Und ich musste sie besänftigen.
Alles wieder gerade rücken, was die Menschen verbockt hatten!

Aber es war zu viel!

Leider konnte ich mich nicht aufteilen, um überall für alle da zu sein.

Auszuwählen, wer meine Unterstützung am Nötigsten hatte, war meist noch schlimmer, als die humanitäre Katastrophe vor Ort wirklich zu sehen.

Kriegsopfer und jene aus unterdrückten Ländern erschienen mir im Moment am dringendsten.
Sie konnten sich nicht so leicht gegen den Zorn der Natur schützen.

Die größten Leidtragenden waren stets die ärmsten Menschen, die sowieso nichts hatten.

Sie sollten eine funktionierende Infrastruktur haben und nicht mehr in Todesangst leben müssen.

Die Kids von morgen sollten auch noch einen Platz zum Spielen haben!

Solange es am Ende dieser Story überhaupt noch eine Welt gab...

"Was wird eigentlich aus dir, wenn alles hier vorbei ist?" fragte ich den YouTuber.

Dieser überlegte kurz, ehe er mit einem Grinsen antwortete: "Wenn die letzten Hauptvideos durch sind, werd ich Mönch im Kloster oder so"

Obwohl er versuchte, es mit seinem Humor zu überspielen, erkannte ich aber einen Hauch Traurigkeit in seinen Augen aufblitzen, als er über das Ende seines Kanals sprach.

"Aber warum legst du ihn überhaupt still?" Wenn dir offensichtlich so viel an diesem Kanal liegt.
Den letzten Teil dachte ich nur.

Julien's Blick senkte sich. Mit matter Stimme antwortete er: "Weil ich es versprochen habe..."

Das Selbe hatte er zu mir vor dem Zelt der Wahrsagerin auch gesagt.
Obwohl ich es stark bezweifelte, dass er in meinem Fall irgendwas ausrichten konnte.

Ihm schien viel daran zu liegen versprochenes einzuhalten. Selbst wenn das bedeutete alles aufzugeben!

Ob ich meines halten konnte?

Ein Versprechen einzuhalten, konnte manchmal echt schwer sein.

Mochte mir gar nicht ausmahlen, wie es für ihn sein musste, sein eigenes Karriereende zu planen.

Das durchzuziehen, obwohl es eigentlich aus Zuschauersicht gar keinen offensichtlichen Grund gab, war bestimmt hart.

So eine Entscheidung wurde nicht leichtfertig gefällt.
Irgendetwas musste passiert sein!

Ich schluckte. "Und deine anderen Kanäle?"

Ju's Gesichtsausdruck hellte sich wieder auf. "Die übernimmt mein Zwillingscousin Bulien Jam"

Verwirrt hob ich eine Braue. "Aber die Zuschauer..." - "Werden keinen Unterschied merken" Zwinkerte Julien und winkte ab.

"Auf JUcktmichnicht wechseln wir uns dauernd ab und keiner checkts." Ju's Augen funkelten verschmitzt.

Ich blieb stehen.
"Woher weiß ich, dass du wirklich Julien Bam bist?" Einen Moment wirkte mein Gegenüber irritiert.

Hatte ich ihn erwischt?

Der junge Mann dachte einen Moment nach.

"Bulien trägt immer Kapuze" Er drehte sich wieder um. "Und ich..." Der YouTuber zog beide Hosenbeine hoch.

Erst verstand ich nicht, worauf er hinaus wollte. Dann musste ich ab diesem kuriosen Bild laut lachen.

Zwei verschiedene Socken!

Blätter, Äste und Steine stoben in alle Richtungen zur Seite.

Der Boden erzitterte beim harten Aufprall des Sprunges.

Erschrocken stolperten wir zwei Schritte zurück.

"Awww Hasi!" Rief ich entzückt.

Oh Gott, war das ein süßes Flauschi. Es war ja noch niedlicher als Monsieur Piet. Ich wollte es so gern knuddeln.

Julien starrte mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Die Farbe wich aus dem Gesicht meines Begleiters.

"Er ist hinter dem Gesicht her!" Mit blankem Entsetzen in den Augen packte Ju seine Tasche und drückte sie fest an die Brust.

Der Hase zog etwas aus seinem mit kunstvoll goldenen Eiern verzierten Gürtel.

Ein Dolch!

Er leuchtete in einem gefährlichen Rot. Als würde die Klinge in Flammen stehen!

Okay, anscheinend war Hasi doch nicht so sweet, wie ich anfangs dachte.

"Ju Lauf!"

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