{K1} Wir chillen am See...

Sicht Julien

„Joon, du bist echt so eine Pussi! Wir drehen uns im Kreis!"

Genervt schaute ich zu meinem Freund hinüber, während ich versuchte, das Paddel noch kräftiger durchs Wasser zu ziehen. Meine Arme schmerzen schon. Langsam ging mir die Kraft aus.

"Ey, versuch du doch mal mit so einem verfickten Skelet voranzukommen."
Ruckartig drehte sich der Angesprochene zu mir um, sodass der wackelige Untergrund bedrohlich schwankte und funkelte mich genervt an.
Er atmete so schwer, als würde er jeden Augenblick einen Kolaps erleiden.

Demonstrativ wurde mir der Stab vor die Nase gehalten. Vereinzelt waren noch Sehnen und Bänder zu erkennen.
Wasser tropfte von den knorbelhaltigen Fingern.
Warum musste die Zahnfee ausgerechnet ein Zepter aus Knochen haben?

Angewidert schlug ich es energisch weg.
„Wir müssen uns beeilen! Nicht, dass der Osterhase uns findet." Zischte ich und umklammerte die Stange von meinem eigenen Paddel noch fester.

Mit Schauer musste ich daran denken, was vor 15 Minuten passiert war. Oder waren es 20? Oder vielleicht schon eine Stunde oder mehr? Die Zeit schien an diesem Ort stillzustehen.

„Wie den? Hier ist die reinste Wüste!" rief Joon mit einer ausladenden Geste. Ich drehte mich um die eigene Achse, um selber einen Überblick zu bekommen.

Er hatte Recht.
So weit das Auge reichte nur Wasser.
Einöde.
Nichts... Einfach nichts.

Das einzige, was sich vom blauen Spiegel abhob, war unsere kleine schwimmende Insel.

„Sind wir wenigstens noch auf Kurs?" Ich bückte mich schon leicht, damit mein Freund meine Jacke und Shirt hochkrempeln konnte.

Ich säufzte.
Was nützt ein Kompass, wenn man nicht selber draufschauen konnte? Hätte mir Rezo das Tattoo nicht wenigstens auf den Bauch stechen können?
Rezo...
Mein Magen krampfte sich zusammen.

Der einzige Mensch, der über die ganze Geschichte mehr zu wissen schien.
Ich hatte so viele Fragen, je weiter dieses Abenteuer voranschritt...
Doch alle Antworten waren mit ihm fort.

Und wieder einmal stellte ich mir die Frage: Warum ich?
So viele waren meinetwegen gestorben. Curly, Rezo, der Osterhast... und Joon.

Warum hatte es damals nicht mich treffen können?
Nichts Anderes hätte ich verdient. Alles nur weil ich so egoistisch gewesen war. Fuck, wie sehr ich mich dafür hasste.
Jetzt drohte die Welt unterzugehen.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Versuchte, ihn herunterzuschlucken und ruhig zu atmen. Bemühte mich, das Zittern zu verbergen, welches wie Elektrostösse durch meinen Körper fuhr. Den kalten Wind auf meinem entblösten Rücken spürte ich kaum.

„Bisschen weiter links würde ich sagen", erschrocken fuhr ich hoch, als mich die nachdenkliche Stimme meines besten Freundes aus den Gedanken riss.
Ich drehte mich um und blickte geradewegs in sein rundliches Gesicht. Jenes Gesicht, wo ich geglaubt hatte, es nie mehr wiederzusehen. Welches ich hasste und liebte zugleich.

Der Moment, als er von mir gegangen war...
Die Leere und Taubheit, die ich verspürt hatte.
Ganz deutlich konnte ich die Träne vor meinem geistigen Auge sehen, welche Joon die Wange heruntergelaufen war, als ich durch die magischen Bohnen die Zeit vorübergehend anhalten und alle von der fliegenden Insel retten konnte. Alle, außer den Menschen, der mir am wichtigsten gewesen war...

Als hätte ich Airpots in den Ohren, erklang wieder der Song in meinem Kopf. Zu wehnig Zeit!
Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus.
Wieviel Zeit blieb uns überhaupt noch zusammen?

„Hast du wieder einen kosmischen Schlaganfall oder was?" Verwundert schüttelte ich den Kopf. Erst jetzt begriff ich, dass ich meinen Freund die ganze Zeit über angestarrt hatte.

Mein bester Bro, der eigentlich tot sein müsste, und doch stand er leibhaftig in Fleisch und Blut vor mir.

Vom Mond höchstpersönlich ermordet und von selbigem wiederbelebt.
„Ein Geschenk für ein Geschen." hatte er damals gesagt.
Und ich war seiner Gegenleistung nicht nachgekommen.

Wie auch, wenn die komplette Menschheit und auch Joon durch diesen eingeschlagenen voll assi Deal verrecken würden?

Die Vision, wie Joon leblos in meinen Armen hängt, welche letztendlich ausschlaggebend für meinen Rücktritt im letzten Augenblick gewesen war, kam wieder hoch.

Die letzten Tage und Stunden, nachdem Joon von mir gegangen war, waren die aller schlimmsten meines Lebens gewesen. Nicht einmal, als mein größter Traum der eigenen Tanzschule, in welche ich so viel Zeit, Leidenschaft, Energie und Geld gesteckt hatte, breits nach einem Jahr wieder schließen musste oder als durch einen Hackingangriff mein komplettes Lebenswerk auf einen Schlag vernichtet wurde, war es mir so elend gegangen wie zu diesem Zeitpunkt.
Dasselbe Szenario erneut durchleben zu müssen, würde ich nicht verkraften können.

Und doch zweifelte ich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, den Mann im Mond zu hintergehen.

Dann sind wir also Feinde." Die Stimme vom Gesicht hatte letzte Nacht so enttäuscht und traurig geklungen.
Als wolle er das alles gar nicht...
Doch der Preis für seinen Willen war unbezahlbar hoch.
Das durfte ich nicht zulassen!

Erschrocken zuckte ich zusammen, als ein schnippsender Finger mich aus den Gedanken riss. „Alter, du machst mir voll Angst!" Joon betrachtete mich mit einem sorgevollen Blick.

Mist, wo waren wir stehen geblieben?

„Ne, ne hab nur..." Vieberhaft suchte ich nach einer Antwort. „Ähm... die... die Wolken bewundert", rief ich und zeigte entschlossen gegen Himmel.

Joons Blick folgte meinem Finger hoch in den strahlend blauen Himmel.

Ferflixt!

Mit einem Gesichtsausdruck, der seine geflüsterten Worte „Manachmal biste echt strange" gar nicht gebraucht hätte, wannte er sich kopfschüttelnd von mir ab.

Nachdenklich kratzte ich mich am Kopf.
Ich war so verwirrt. Wusste nicht, wem ich mehr Glauben schenken sollte. Der Geschichte vom Mann im Mond oder meinen Visionen. Unwillkürlich wanderte meine Hand zur hellbraunen Tasche, worin das Gesicht verborgen lag.

Es gab nur noch jemanden, der uns helfen konnte.
„Also dan.... weiter Kurs Richtung Zahnfee!"" rief ich bestimmt.

„Ahoi, Capten Jack Sparrow!", jubelte mein Begleiter mit übertriebener Piratenpose.

Kaum tauchte ich das Paddel wieder ins Wasser ein, bäumte sich das Floß plötzlich auf.

„Wow, shit." Mit einer reflexartigen Bewegung konnte ich mich mit der freien Hand gerade noch so auf den Holzstämmen abstützen und in einen Air Freeze übergehen.

Nach wenigen Sekunden begannen meine vom Paddeln überanstrengten Muskeln zu zittern.

Wellen schwappten auf das Deck. Kaltes Wasser umspülte meine Hand, die mein gesamtes Gewicht tragen musste. Tausende Nadeln schienen sich ins Fleisch zu bohren.

Kaum hatte sich der Boden wieder beruhigt, sprang ich zurück auf die Füße. Mit dem Schwung der aufrichtenden Bewegung drehte ich mich zu Joon um, nur um mit Schrecken feststellen zu müssen, dass er gerade das Gleichgewicht verloren hatte.

Sofort ließ ich alles fallen und stürzte zu ihm. Mehrmals kam ich auf dem wackligen Untergrund ins Straucheln. Schlidderte über das vor Nässe spiegelglatte Holz. Zum Glück hatte ich früher gebreakt, sonst wäre mein Fußgelenk jetzt so am Arsch.

Vermutlich hätten sich für diese Performance bei Masters of Dance die Coaches regelrecht um mich geprügelt.

Obwohl es nur wenige Schritte zur anderen Seite waren, fühlte es sich wie Kilometer an.
Den Blick nur auf den bedrohlich schwankenden Körper meines Gegenübers gerichtet, der sehr bald Opfer der Schwerkraft werden würde.

Endlich war ich beim Vogel angekommen, der nicht in der Lage war, seine wild schlagenden Flügel zu koordinieren.

Nur um wenige Zentimeter verfehlten meine Finger das blau karrierte Hamd.

Ein schrilles Quiken drang aus seiner Kehle, als der Melonenbauch den Kampf gewann.

Wie ein Wal klatschte der Körper auf die Wasseroberfläche und versank augenblicklich in der Schwärze.

"JOOON!"

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