Der Wettkämpfer

Als zum Start in fünf Hörner zu jeder der Seiten geblasen wurde, schnellten meine Gegner vor, als wären sie Raubtiere auf der Jagd. Ein haariger Mann zur Linken versuchte mich, mit seinem muskulösen Arm davon abzuhalten ihn zu überholen, doch ich stoppte ab und überholte ihn stattdessen von seiner Linken, geschmeidig wie eine Katze. Als ich das tat, erkannte ich zum ersten Mal in dem Turnier das Phantom vor mir. Es überholte gerade eine Frau, die zwei Köpfe größer war als ich und eine Söldnerin sein musste.

Dabei schwang es die Gliedmaßen, als würde es versuchen, sich diese auszukugeln. Mit langen, geschwungenen Bewegungen entfernte es sich vom Rest der Teilnehmer, als wären sie blutige Anfänger. Ich bildete mir ein, dass das Phantom bald schon langsamer werden würde, doch diese Theorie verlor mit jedem weiteren Schritt an Glaubwürdigkeit, den jene rastlose Kreatur hinter sich ließ.

Was, wenn es zu Beginn jedes Rennes so weit vor mir gelaufen war, dass ich es nicht einmal gesehen hätte? Das schien mir unmöglich, war aber die einzige Erklärung. Ich fühlte mich zudem in meiner kürzlich gewonnenen Überlegenheit beraubt und wollte mich aus irgend einem Grund dafür rächen. Es war mir unerklärlich, doch es gab nichts, was ich in diesem Moment mehr wünschte, als jene Bestie von Läufer einzuholen.

Der Wind lag mir im Rücken und es begann erneut zu regnen. Ich kramte etwas in mir heraus. Während die vereinzelten Tropfen häufiger auf dem Erdboden aufschlugen, öffnete ich die Schatulle, die ich tief in meinem Herzen begraben hatte. Sie barg all die schlimmsten Ängste, welche ich schon längst verbannt hatte. Mit einem Mal war ich wieder der Gejagte. Ich wusste nicht, wer die Jäger waren, aber ich ließ sie weit hinter mir. Der Hochofen wurde abermals geschürt.

Eiseskälte ummantelte meine Haut, als der Gegenwind darüber hinweg peitschte und die Regentropfen von mir abglitten, statt auf dem Körper oder der Kleidung haften zu bleiben. Die Regel sorgte dafür, dass ich fokussiert geradeaus guckte, wo das Phantom sich den Weg durch den Regen bahnte, ohne dass mir auffiel, ab welchem Punkt ich die anderen hinter mir gelassen hatte.

Ich hörte sie nicht, aber das musste nichts heißen. Meine Wahrnehmung war taub, nicht anfällig für jede Art von Sinneseindrücken. Es gab nur das Ziel, in der Ferne und die Schrecken hinter mir, wie sie gierig meine Stiefel leckten. Der Rückenwind wurde zum Geisterheer, das mich durchs Unwetter trieb und der Regen zu den Trommeln außerweltlicher Musikanten, welche verstörende Symphonien unhörbaren Grauens spielten.

Dann nahm ich doch etwas Weltliches wahr. Es war ein seltsamer Geruch. Nicht nach Niederschlag, durchnässter Erde oder Schweiß. Ich konnte nicht beschreiben, was es war, doch es wühlte meinen Geist auf und hinderte mich daran alles zu geben. Als würde sich etwas Unsichtbares in meiner Nase festbeißen und diese nicht mehr loslassen.

Es schauderte mich, als ich verstand, wovon der Gestank ausging. Es war das Phantom, das mittlerweile nur wenige dutzende Schritte vor mir über die Strecke preschte, wie ein wild gewordener Gaul.

Mehrere der weißen Bänder hatten sich gelöst und flatterten durch die stürmische Luft. Sie gaben nichts frei, außer noch mehr Stoff, der mittlerweile durchsichtig sein musste, durch die Wassermassen, welche sich über uns ergossen. Zwischen den zahllosen Schichten blitze ein rotes Band auf, doch verlor ich es wieder aus der Sicht.

Ein Donnern in der Ferne kündigte an, wie ich drauf und dran war, es zu überholen. Selbst von Nahem war nichts zu erkennen, außer den Bandagen. Dies löste ein Unbehagen aus, welches mir den Bauch zusammenziehen ließ. Meine Vorstellungskraft wurde angeregt, durch das, was ich nicht sah, was sich vor den Augen verbarg.

Wenn die Kreatur so schon dürr war wie ein Krautsüchtiger, wie mochte es dann erst unter dem Stoff aussehen und wie dick musste dieser sein, wenn nicht die leiseste Ahnung von Fleisch auszumachen war? Gegen was trat ich da an und war es überhaupt ein Hemnan?

Ein Blitz schlug am Horizont in einen Hügel ein. Ich stand neben der seltsamen Gestalt und wagte es nicht zur Seite zu sehen. Mein Kontrahent tat es mir gleich. Die Furcht wurde allmählich zu Mitleid. Womöglich handelte es sich um einen Leprakranken, dessen einziger Lebensinhalt es war, für dieses Rennen zu trainieren und sich vom Preisgeld zu ernähren.

Wäre es überhaupt möglich, mit einer solchen Krankheit Sport zu betreiben? Ich verwarf den Gedanken und konzentrierte mich aufs Vorankommen. Egal was diese Person plagte, es gab nichts, was mich davon abhalten sollte, vor ihr ins Ziel zu sprinten. Alles, was mir wichtig war, war ich selbst. Als wäre jede Selbstlosigkeit aus meinem Sein gefegt worden. Etwas kroch mein Rückgrat nach oben. Es war ein Gedanke, den ich versuchte abzuschütteln. Was war ich bereit für den Sieg zu tun? Wie weit würde ich gehen, falls der Sieg zeitgleich ein Opfer erforderte. Es schüttelte mich.

So plötzlich wie ein Blitzeinschlag kehrte die Furcht zurück, als sich das Phantom hinter mir befand. Es verfolgte mich. Diese weiße Schreckensgestalt war nah, hauchte mir in den Nacken, verzog das Gesicht zu einer verwunschenen Fratze und murmelt unheilige Phrasen, während es Luft einzog, mit einem ekelhaften Geräusch, das nicht von einem Hemnan stammen konnte. Mein Geist spielte mit mir und obwohl mir dies bewusst war, änderte es nichts.

In diesem Augenblick spürte ich etwas, vergleichbar mit Todesangst. Nie zuvor war ich so schnell gerannt und nicht meiner Lebtage würde ich es wieder. Das war mir schon damals bewusst. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich Schmerz in meiner Lunge und meine Beine signalisierten mir aufzuhören. Doch mein Herz schlug schneller, als der Regen prasselte und so schritt ich durchs Ziel, ohne mich umzusehen und direkt in eine Traube aus Schaulustigen, bei denen ich Sicherheit suchte. Mit einem Mal waren mir andere Leute lieb und ich war nicht scheu, ihnen körperlich nah zu kommen.

Die zahllosen Fragen, mit denen ich überhäuft wurde, beantwortete ich abwesend und mit dem Kopf geradeaus. Es fiel mir erst gar nicht auf, wer da seinen Blick auf mich gerichtet hatte, bis ich die behandschuhte Hand eines Soldaten auf meiner Schulter spürte.

Es war ein in die Jahre gekommener und dennoch muskulös gebauter Mann, in Ketten und Wams, der mir deutete zu einer Sänfte zu gehen, die auf dem Weg stand. Eigentlich unübersehbar und dennoch war sie mir bei der Ankunft im Ziel nicht aufgefallen. Mein Herz beruhigte sich und das Stechen verging. Ich hatte gewonnen. Ich, Edwig, ein junger Mann aus einem Kaff, das man nicht einmal vier Orte weiter beim Namen kannte.

Freudig und all die albtraumhaften Hirngespinste verdrängend, schritt ich auf den verzierten Tragstuhl zu, welcher die Ausmaße einer gewöhnlichen Kutsche übertraf. Zwei Frauen mit rot-schwarzen Schleiern, Gewändern in der Farbe der Abendsonne und zahlreichen Goldarmreifen, über den behandschuhten Armen hielten die Vorhänge des Eingangs für mich offen. Drinnen erwartete mich im Licht einer schummrigen Laterne, im extravagantesten Kleid, das ich je zu Gesicht bekommen hatte, eine Frau, mit Haut weiß wie Milch und Zügen, die zeitlos waren, in einem Körper, der aber eher auf ein höheres Alter schließen ließ.

Ich verneigte mich vor der Königin von Cercil.

Dies war die Körnung von allem, was mir jemals passieren sollte. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top