Der Ungläubige

Waren das Finger oder doch Zehen? Eine Schulter oder ein Ellenbogen? Eine krankhafte Faszination hatte mich gepackt, während ich durch den scheußlichen Haufen wühlte. Allein der Gestank verriet mir, dass es hier nichts Lebendiges zu finden gab. Einzig den Tod.

Die Implikation wurde mir erst Momente später bewusst. Ob ein ungutes Omen oder dergleichen, hier gab es nichts zu finden außer das fleischliche Ende. Die Kälte erreichte mein Innerstes, füllte mich aus und reinigte meinen Verstand. Es war, als würde die Seele selbst frieren. Ich wurde nicht hysterisch oder aufgeregt, stattdessen verschaffte mir jenes klare Zeichen die nötige Ernsthaftigkeit.

Mein Atem beschleunigte sich und ich konnte schwören ihn in der Luft vor mir zu sehen, obwohl es stockfinster war. Angst durchflutete meinen Körper, doch anders als es sonst der Fall war. Diesmal ließ mich die Illusion von Kontrolle bei Sinnen bleiben. Womöglich war es mein Körper, der in einem Instinkt meinen Verstand anregte. Mich beruhigte.

Jemand hatte diese Kadaver ausgegraben. Sie stammen von hier, aus dem Boden in den sie verdammt worden waren. Wer wusste schon, ob sich neue Tote darunter verbargen oder nur jene, welche im Wald ihre letzte Ruhe fanden. Ein kranker Geist musste es gewesen sein, der es gewagt hatte, ihnen diese Ehre zu verwehren. Einzig der Läufer kam hierfür in Frage. Was er mit den Leichen tat, erlaubte ich mir nicht vorzustellen. Zu angeregt war meine Fantasie und Kreativität, wenn es um derartige Grauen ging.

So sehr sie mir einen Schauer über den Rücken jagten, der Läufer war die lebhafte Gefahr. Ich musste hier weg, und zwar so schnell wie möglich. Nachdem ich dies gefunden hatte, was immer es war, gab es für ihn keinen Grund mehr, mich nicht ebenso zur Strecke zu bringen und in meine Einzelteile zu zerlegen.

Schnellen Schrittes hastete ich weiter. Ab und an kollidierte ich mit etwas, worauf ein Beben durch meinen Körper ging, doch galt es, nicht anzuhalten. Mehrere Häufchen waren durch die Höhle verteilt. Manche säumten den Boden, andere stützten die Decke, allesamt moderten sie und bestanden lediglich aus Haut und Knochen.

Es waren so viele, dass ich an der Wirklichkeit zu zweifeln begann. Dies musste ein Tor zum Abgrund sein, dem Gefängnis der Seelen, aus dem niemand jemals entkommen konnte. Die Niederwelt, das ewige Vergessen, die Domäne des Leichenkönigs. Ich biss mir auf die Lippe. Nein, das war nicht möglich. Eben noch war ich unter den Lebenden gewandelt. Wenn ich nur lange genug voranschritt, müsste ein Ausgang kommen. Von irgendwoher hatte man die Toten hergeschleppt und der Haupteingang wäre zu überblickbar. Ein Risiko, doch keines, was ich diesem weißen Phantom nicht zutraute.

Etwas Hartes brachte mich wieder zur Vernunft. Blut lief über meine Nase herab, auf die Oberlippe. Die Höhlendecke war abgesunken und ich damit kollidiert. Mich duckend und vorsichtig die Hände vor mich haltend, stolperte ich vorwärts. Der Boden verlief nach oben und traf sich beinah mit seinem Gegenstück. Den Abstand stellte ein Spalt dar, durch welchen ich gerade so hindurch gepasst hätte.

Weiter kam ich nicht. Dies war das Ende meines Weges. Ich versuchte zwar, Kiesel in das Loch zu werfen, um zu hören, ob sich eine Öffnung auftat, doch dies war erfolglos. Sie knallten gegen einen nahen Stein und gaben keinerlei Auskunft über die Breite oder Länge des Spalts. Würde ich versuchen, hier hindurchzuklettern, gäbe es kein Zurück mehr. Ob ich feststecken und anschließend verhungern, vorher vom Läufer gefunden und zu Suppe verarbeitet wurde, oder mich derartig verletzte, dass der Blutverlust mein Ende einleitete, alles versprach ein grausames Ableben.

Selbst unter der Möglichkeit, dass ich hindurchpasste, gab es keine Sicherheit, einen Ausgang zu finden. Ermüdet und aufgezehrt wendete ich mich in Richtung Eingang. Im Moment als ich mich entschlossen hatte, den gesamten Weg zurückzugehen, stieß ich gegen etwas mit dem Fuß. Ein Knarzen ertönte.

Neben mir befand sich ein Tisch. Eher mehrere spärlich zusammengenagelte Äste, Holzkeile und etwas, das an eine Arbeitsplatte erinnerte. Tiefe Furchen zeichneten das staubtrockene Holz. Verursacht waren diese durch einen metallenen, gezackten Gegenstand. Eine Säge oder Derartiges. Ich musste an die Kadaverhäufen denken und augenblicklich spürte ich die Galle in meinem Hals. Das Gesicht anspannend, schluckte ich sie wieder herunter.

Das zweite Mal, als ich gegen etwas prallte, ertönte ein widerwärtiges Schmatzen. Der zugehörige Geruch entsprang entweder einer vergammelten Speise oder einem soeben entleerten Nachttopf. Wie mir schmerzhaft bewusst wurde, lebte hier jemand und hatte all sein improvisiertes Hab und Gut auf die Seiten des Tunnels verteilt. Wie sich diese Kreatur in der Finsternis orientierte blieb ein Mysterium.

Alles worauf ich hoffte, war, dass der Läufer noch nah genug an einem Hemnan war, dass er über keine übersinnlichen Sinne verfügte, wie eine Nachteule. In diesem Fall wäre ich völlig aufgeschmissen und müsste in seinem Reich nach seinen Regeln spielen, während ich selbst im Nachteil war. Mit all meiner verbliebenen Willensstärke und dem kümmerlichen Überrest an Hoffnung, betete ich, dass er nicht zurückkehrte.

Es war nichts, dass ich oft tat. Ungeübt sagte ich einen Spruch auf, den ich einen Prediger hatte murmeln hören, während ich die Lieder schloss. „Gehüllt in Zweifel bitte ich, öffne deine Tore, Erleuchtung sei mein, leite meinen Willen und lass mich sehen".

Ich öffnete die Augen und blickte hinauf zur Decke. Nichts als Finsternis. Kein neuer Gedanke schlich sich hinein in den verwirrten Geist. Meine Erwartungen waren wohl zu hoch gewesen. Der Allsehende war nicht an diesem Ort und falls sein starrer Blick mich erreichte, dann erbarmte er sich nicht, mir aus der verzwickten Lage zu helfen. Es erschloss sich mir nicht, wie andere aus dem Aufsagen einer simplen Formel Kraft schöpfen konnten.

Dafür benötigte man diesen unabwendbaren Glauben. Nichts war mir fremder. Ich hatte kein Vertrauen in die Hemnan, weder Familie, noch mich selbst, wie sollte ich da mein Schicksal an höhere Mächte weiter tragen? Es war sinnlos. Ich suchte nach einem Sinn in mir selbst und während ich so gedankenverloren vorwärts stolperte, fühlte ich eine schaurige Leere in meinem Herzen. Nichts als pure Furcht und kleine Momente der Lebensfreude trieben mich vorwärts. Da war kein tieferer Sinn, ein Ziel oder eine Bedeutung für mich in dieser Welt.

Trotz meiner ständigen Einsamkeit erkannte ich es erst in dieser dunklen Höhle, abseits von allem Bekannten. Es schmerzte mich. So sehr war ich abgeschottet, dass weder Lust noch Liebe Einzug in meinem Leben hatten führen können. Ein Ziehen löste mich aus unguten Gedanken und zogen mich in die Realität zurück, welche unangenehmer war als jene.

Der Schmerz war von einem Stück Holz ausgelöst worden. Es entpuppe sich als Stütze von einem größeren Gestell, einem Bett. Da gab es keinen Zweifel mehr. Dieses Wesen lebte hier und ich war mitten in dessen Stube geraten. Wie ein wildes Tier in die Falle eines Jägers. Die scharfkantige Wand neben mir empfand ich plötzlich als Käfig. Dies war nicht der Abgrund, doch dafür ein Kerker, aus dem es zu entfliehen galt.

Ein Schrei peitschte durch den Äther. Er knallte wie eine Gerte und wirbelte die Stille sowie meine Überlegungen im Nu auf. Es lag keine Aggression darin. Nochmals ertönte es. Ein schmerzverzerrtes Geräusch und doch eine Warnung. Ohne nachzudenken, ging ich in die Hocke und kroch unter das Bett.

Es war mit Stroh bedeckt und hob sich vom Boden ab. Höchst unüblich für jemand vom einfachen Volk. Die weiße Gestalt konnte unmöglich Mal ein Adliger gewesen sein. Wer verließ freiwillig seine Stellung, um in einer Höhle den Rest des Lebensabends zu fristen? Lag es etwa an diesem Rennen vor einigen Jahren? Oder war es die Gestalt des Läufers, welche ihn dazu veranlasste, sich selbst ins Exil zu schicken?

Weitere Zeit für Geistesausflüchte blieb mir nicht. Ein Licht kroch in der Ferne zu mir. Sanfte, beinah lautlose Schritte wurden begleitet von einem metallischen Kratzen. Es war das Schwanken einer Laterne. Sie brannte nicht all zu hell und hüllte die umgebenden Felsen in ein schummriges Licht. 

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