Der Tote

Die Augen verschließend hoffte ich, im Halbdunkeln nicht enttarnt zu werden. Zwei salzige Ströme liefen derweil an meinen Ohren vorbei und zur Kante des Kiefers. Tropfen sammelten sich und hielten an meiner Haut fest. Ließen nicht los, als würden sie den kalten, ungemütlichen Grund nicht berühren wollen.

Es war mir nicht aufgefallen, dass ich weinte. Bis jetzt nicht, doch während mein Gesicht zunehmend taub wurde und mein Körper angespannt wie ein Brett, dämmerte mir, wie sehr mich meine vorigen Gedanken mitgenommen hatten. Nicht jetzt, dachte ich, aber es lag nicht in der Gewalt meines Verstands. Alles wozu ich mich in der Lage sah, war das Zittern zu unterdrücken.

Die in Bandagen gehüllte Gestalt stellte die Laterne ab. Ohne ein Geräusch zu machen, kniete sie nieder. Mein Herz drohte zu zerreißen. Es hatte mich gerochen. Der Angstschweiß musste mich verraten haben. Oder hatte ich einen Laut von mir gegeben, als ich in mein Versteck gekrochen war?

Nur wenige Fußbreit von mir entfernt, kramten zwei Hände in einem Berg aus Beuteln nach etwas. Sie waren dürr und überzogen von verfärbten Verbänden. Nur von weitem hatten sie weiß gewirkt, doch aus der Nähe erkannte ich braune Flecken und sogar rote Muster. Frisches Blut. Es roch nach Eisen und etwas anderem. Fäulnis, jedoch ungleich jener der Leichen im hinteren Teil des Tunnels.

Sie griffen nach einem länglich gefärbten Glasbehältnis und einem spitzen Gegenstand. Es knarzte. Das Gewicht der Kreatur belastete das Bett über mir. Ihre Bewegungen waren geräuschlos, doch sie atmete schwer. Sie war genau über mir. Wie in einem absurden Gedicht hatte es mich auf den Boden verschlagen, wo ich lag, wie ein armer Stallbursche schlief und über mir ein Höhlenbewohner mit krankem Fleisch, auf einem gestützten Bett.

Beine setzten sich vor mir ab. Die Kreatur saß aufrecht. Ihre Füße wurden vom dünnen Licht erhellt. Erst jetzt bemerkte ich, dass es keine Schuhe trug. Selbst mit dem ausgezeichneten Schuhwerk, das man sich als Bote eines spendablen Adligen leisten konnte, waren Blasen vorbestimmt. Ohne sah es vollkommen anders aus. Wie war es einem Hemnan möglich, jene Pein auf Dauer zu ertragen? Was saß dort nur keuchend über mir? Gefiel es dieser absonderlichen Kreatur etwa, sich selbst zu foltern?

Bandagen gingen zu Boden. Wie eine Pergamentrolle, die aufgewickelt wurde, fielen sie herab und türmten sich vor meinen Augen auf. Als die Füße dran waren, konnte ich nicht anders, als hinzusehen. Schicht für Schicht schälten sich die Verbände wie die Schale einer Möhre. Was drunter zurückbliebt, wurde zunehmend weniger. Die oberen Schichten waren weiß, bis auf ein einzelnes, purpurnes Band. Dann zeigten sich Abdrücke, Flecken und Reste von verkrustetem Blut.

Wann hörte es auf, begann ich mich zu fragen, als sich erstmals das Fleisch zeigte. Nachdem ich die Auswirkungen der Mondsiech erblickt hatte, war ich davon ausgegangen, dass mich keine Krankheit mehr erschrecken konnte – bis zu jenem Moment. Ein schmatzendes Geräusch und ein Reißen, wie wenn man ein herabgefallenes Blatt im Herbst mit den Händen zerdrückt, begleiteten das Abziehen der letzten Schicht. Ein spuckeähnlicher Faden spannte sich zwischen dem Stoff und dem darunter. Dann zerriss er.

Tänzelnde Flammen hauchten dem scheußlichen Anblick den letzten Schrecken ein, den es gebraucht hatte. Dort war keine Haut oder gar Fett unter dem Weiß. Die Hülle hatte Eiter, Wundbrand und Muskeln verdeckt. Der Läufer atmete aus und wimmerte dabei. Zu meiner Furcht war Mitleid gekommen. Da musste ich wieder an die Verstorbenen denken oder eher deren Körperteile. Dieses Wesen hatte mit ihnen zu tun. Ob es sie tötete oder die Totenruhe störte, machte zwar einen Unterschied, allerdings ließ beides auf keinen gesunden Geisteszustand schließen. Was stellte der Läufer nur damit an?

Ein Ploppen ertönte, wie von einem Korken.

„Ahhhhhhhh. Ahahaaaa."

Fast wie ein Hemnan klang es. Doch kein solcher würde mit derartigen Wunden in der Lage sein, zu stehen.

Eine Flüssigkeit ergoss sich über den Körper des Wesens. Dann scharrte etwas.

„Hmmmm. Hmmmmmmmmm."

Es biss sich auf die Zunge und stöhnte durch die Lippen, falls solche vorhanden waren. Blut tropfte hinab, dann folgte etwas Größeres. Ein Stück Schorf. Das Wesen hatte es herausgeschnitten.

Mit flachem Atem starrte ich weiter auf das Geschehen, versuchte mir einzubilden, dass nichts davon real war. Albträume eines Heilers. Unnatürliche Vorgänge, fern von den Regelungen der bekannten Welt. Nachtmahre aus den Tiefen des Inneren.

Ohne die leiseste Vorwarnung bohrte sich ein Schmerz in meine Hände. Etwas war durchs Stroh getropft und in die Schürfwunden gekommen. Nur ein harmloser Schock, kein Grund, sich zu bewegen. Dies schien meinen Arm nicht zu interessieren, welcher vorzuckte und unter dem Bett herausblickte.

Da lag sie. Eine verräterische Gliedmaße, leicht zu erblicken für das Wesen über mir. Es war still. So erdrückend ruhig, als wäre all die Schwere des Tunnels an einem Punkt konzentriert worden. Das Leben selbst war an jenem Ort erstarrt. Keine Pflanze wuchs zwischen den Felsspalten, weder Ratten noch Käfer huschten durch die Schatten und dazu umgab uns diese frostige Kälte, welche alles betäubte. Nicht nur den Körper, sondern ebenso den Geist.

Wie am Boden festgefroren, gelang es mir nicht, meinen Arm zu bewegen. Es drückte auf mich herunter, die Decke mit ihren unzähligen Fuß Erde bis zur Oberfläche. Dünne Luft drang in meine Lungen und ich spürte nicht, dass ich überhaupt atmete. Der Schock hielt mich umklammert wie die Hand, welche mich einst in die Tiefe gerissen hatte.

Dort war es genau so dunkel gewesen und so tot. Wassermassen begruben meinen Geist und trieben ihn in die Tiefe. Ich war umgeben von nichts als Leere, egal wie weit ich meine geistigen Fühler nach einer Rettung suchen ließ. Zwecklos, die Verzweiflung hatte mich vollkommen umfangen und drang in mich ein. Die Schwärze sickerte in meine Seele und ich konnte wahrnehmen, wie mein Körper von innen heraus dagegen strebte. Ich wollte zucken, schreien, irgendetwas tun, doch nichts rührte sich. Der vollständige Kontrollverlust.

Das Bett knarzte und so geruhsam und beständig wie die Strömung des Wassers, reckte sich eine vermoderte Hand nach meinem Arm. Als sie zugriff, spürte ich am eigenen Leib, wie viel Kraft in einem derart verkümmerten Körper steckte. Woher stammte sie?

Die rote Hand verschwand im Schatten und ich wurde in das Licht gezogen. Dann verschlossen sich meine Lieder, wie eine letzte Hoffnung darauf, dass ich mir jenen Schrecken nur einbildete.

Ich träumte und in jenem Traum wurde mein lebloser Körper von einem des Daseins entrückten Etwas durch einen endlosen Gang gezogen. Es gab keine Farben in dieser Welt, sondern nur die Unebenheiten des Untergrunds. Das zerklüftete Fundament bohrte sich in das weiche Fleisch des frisch verstorbenen Kadavers, der steif wie ein Brett darüber schrammte. Erst rissen die Kleider und dann die Haut. Wie ein Stück Holz, dessen ungleichmäßige Oberfläche glattgehobelt wurde, trug der Stein Teile davon ab.

Am Ankerpunkt des Gelenks zog der Griff an Hand und Arm. Die Schulter ertrug das Gewicht, welches der schwere Leib barg. Sie hielt alles zusammen. Das Ziehen wanderte hinab und wurde nur von der Belastung des Rückens übertroffen. Es war kein Schmerz, denn nur die Lebenden fühlten dies. Edwig war tot und wie es sich für einen Verstorbenen gehörte, wurde er alsbald zu den anderen gelegt. 

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