Der Gefangene
Stofffetzen, Knochen und das wenige Fleisch darauf dämpften den Aufprall, als ich auf den Berg an Körperteilen gestoßen wurde. Wie Abfall. Ich erwartete, dass sie mich mit ihren zahlreichen Fingern ergriffen und in die Tiefe ziehen würden, zum Leichenkönig, doch dem war nicht so. Ich lag einfach nur da und rührte mich nicht. Selbst als erneut Gefühl in meinen Körper zurückkehrte, wagte ich es nicht.
Es hatte mich nicht attackiert. Zuerst war dies meine Annahme gewesen, doch in Wahrheit hielt es mich für einen Toten. Der Verstand des Wesens unterlag Einschränkungen und zog gar nicht erst in Betracht, dass sich ein Lebender unter dessen Schlafgemach befand. Der Läufer war nicht arglos, sondern simpel gestrickt. Er lief, behandelte seine Wunden und schlief. Ich würde sein Verhalten nicht als dümmlich verstehen, es war geordnet, einem klaren Ablauf folgend, den ich nicht durchschaute.
Eine Gänsehaut breitete sich auf mir aus. Das Gefühl beruhigte mich, da es mir bewies, dass weiterhin Leben in mir steckte, doch nichtsdestotrotz schwoll die Angst im Angesicht der Erkenntnis an. Die Leichen, oder eher deren Überreste, erfüllten keinen anderen Zweck als Nahrung. In dieser Höhle regenerierte sich die Gestalt, und der Berg unter mir, genau wie ich, waren das Futter. Die gequälte Kreatur war ein Aasfresser.
Weder ein närrischer Verrückter, mit einer bedauernswerten Hautkrankheit, noch ein durchtriebener Mörder, der mir nach dem Leben trachtete. Es war eine Bestie, ein wildes Tier. Gesteuert von Instinkten. Und das konnte ich gegen es verwenden. Zum ersten Mal, seit das Wesen hinter mir aufgetaucht war, spürte ich einen Anflug von Hoffnung, nein, eher erkannte ich eine Chance.
Ich musste diese neu gewonnene Erkenntnis nutzen und einen Plan schmieden; dem war ich mir damals sicher. Es bot sich mir eine Möglichkeit jenen Ort lebend und in einem Stück zu verlassen. So unbändig mich meine Panik zuvor gelähmt hatte, in gleichem Maße beflügelte mich das neu gewonnene Gefühl von – was war es eigentlich?
Nicht mein wacher Verstand suchte nach einem Lösungsweg. Es handelte sich rückblickend um meinen Überlebenswillen, der den Funken in mir neu entfachte. Mein Wille, gegen den Instinkt des Leichenfressers. Ich sah nicht mehr als diesen Konflikt und meine Ambitionen als Sieger hervorzugehen. So dachte ich weiterhin, selbst all die Jahre nach dem Bestreiten des letzten Rennens, an dem ich teilgenommen hatte. Ein Duell stand mir bevor.
Ich zog mir die lädierten Kleider vom Leib und bediente mich bei den Überresten der Verstorbenen. Das meiste war zerrissen, von Leichensäften durchtränkt oder Motten zerfressen, doch es gab wenige Ausnahmen. Eine Tunika aus einem festen Stoff war eine davon. Mit dem Gürtel eines anderen fixierte ich sie. Die Kleidung war durchtränkt mit dem Gestank des Verfalls, doch das kümmerte mich nicht mehr. Meine Würde hatte ich zusammen mit meinen alten Sachen auf dem Berg aus Toten zurückgelassen. Ich schritt in Richtung Ausgang und dachte angestrengt über eine Ablenkungsmöglichkeit nach.
Eine lange Zeit ging ich leisen Schrittes dahin und hielt mich dabei an der Wand zu meiner rechten. Mit den Armen tastete ich nach diesen und die Füße benutze ich, um Hindernisse anzutippen, damit ich nicht mit ihnen zusammenprallte. Um jeden Preis vermied ich es, die seelenlose Stille des Tunnels zu durchbrechen.
Ein Knistern kam vom Boden. Ich war auf etwas getreten. Meine Hände tasteten danach und in meinem Kopf formte sich das Bild eines Einbandes mit Blättern dazwischen. Ein Buch. Worüber es handelte, konnte ich selbstredend nur mit einer Lichtquelle ausmachen. Ich entschied, es mitzunehmen. An diesem Ort zurückgelassen, musste es eine von den Habseligkeiten des Läufers sein. Die Leichen gehörten dem Waldfriedhof an und er hatte sie ausgegraben. Dies war der Henkersforst und einzig Verbrecher, Ausgestoßene der Gesellschaft, erhielten hier die modrige Gnade eines Begräbnisses. Keiner von solchem Schlag hätte in dieser Gegend ein Buch erwerben, noch es als Grabbeigabe behalten können.
Der Leichenfresser musste ehemals einen höheren Stand gehabt haben. Das Buch hatte ihm gehört und meine Neugier zwang mich dazu, es nicht auf dem Weg liegen zu lassen. Schließlich tat er mir auf eine gewisse Weise leid und falls er Familie oder Freunde hatte, sollten sie von seinem Zustand erfahren. Das war ihm jemand schuldig, egal wer er war. Niemand verdiente solches Leid. Wenn nicht ich, wer dann?
Mein neu gewonnener klarer Blick für die Dinge beflügelte meine Entschlossenheit. Obwohl mir unterbewusst klar war, dass sich mein Geist an einen brüchigen Halm klammerte, der mich vorm Ertrinken hinderte, konzentrierte ich mich auf das Finden eines Auswegs. Es gab einen. Es musste einen geben.
Sicher war der Läufer erschöpft. Er hatte seine Wunden behandelt und sich im Anschluss schlafen gelegt, bevor er erneut aufstehen und von den Toten speisen würde. Ansonsten wäre er dortgeblieben und nicht in Richtung Bett getrottet. Da kam mir der Einfall, dass er das erste Mal, seit ich ihn gesehen hatte, nicht gerannt war. Er musste erschöpft sein. Dies bestätige meine Theorie. Statt mich zu verstecken und abzuwarten, bis er erneut auf den Beinen war, sollte ich mich augenblicklich aus der Höhle herausschleichen.
Eifrig setzte ich meinen Plan fort. Genau wie von allem, rund um das Geschehen am See, habe ich bis heute eine klare Vorstellung davon, wobei der Rest ein wenig verblasst. Es war ein Moment, der für den Rest meines Lebens folgenschwer war. Ich will zurückblicken und die Entscheidungen nicht bereuen, da ich sie nicht rückgängig machen kann, aber dafür fehlt mir die Willenskraft. So wünsche ich mir jetzt noch, dass es anders ausgegangen wäre. Wäre ich nur auf diesem Berg von Toten liegen geblieben.
Ohne die Eingebungen von heute bewegte ich mich folglich in langsamem Tempo voran. Ich weiß nicht, ob es die Hitze meines Körpers ist, aber etwas in mir lässt mich glauben, dass es wärmer um mich herum wird. Ein Gefühl wie beim stetigen Auftauchen aus den Tiefen eines endlosen Gewässers begleitet mich dabei. Während ich mich einerseits auf die Oberfläche freue – die Freiheit, den Ausgang – schnürt es mir die Kehle vor Anspannung zu.
Weit hinter mir in der Finsternis hatte sich eine Schlinge um meinen Hals gelegt. Sie saß zuerst locker und zog sich mit jedem Schritt, den ich weiterging, etwas fester zu. Was vor mir lag, war das Bett der eigenartigen Kreatur. Alles in mir wehrte sich weiterzugehen und es war, als kämpfte ich gegen einen Sturm, dem ich entgegenlief. Mit meinen Gedanken versuchte ich, mir den Gang vorzustellen und dessen Ende.
Dort in weiter Ferne leuchtete das Tageslicht. Ich musste nur fest genug daran denken.
Ob es an meiner Anspannung lag oder daran, dass ich ruhigen Schrittes voranging, schon fast schwerfällig, kam es mir so vor, als wäre der Gang zurück länger geworden. An einem Punkt war ich beinahe davon überzeugt. Ein Bild entstand in meinem Kopf, bestehend aus einer Höhle, die kein Ende fand und einfach an ihren Anfang übergangslos anschloss. Der Gedanke ließ mich zittern.
Während ich bereits daran zweifelte in die richtige Richtung zu gehen, obwohl jede Logik dagegensprach, zeigte sich ein Licht vor mir. Durch den Stress und die Nervosität hatte ich nie darauf geachtet, aber jetzt bemerkte ich, dass die Grotte über eine geringe Steigung verfügte, welche das Flackern der Laterne vor mir verborgen hatte.
Nur wenige Schritte von mir entfernt lag er. Hätte ich nicht gewusst, dass er lebte, hätte ich angenommen, dass dort eine Leiche von Bergleuten zurückgelassen worden war. Mit dem Gesicht lag er, zu meiner Erleichterung, zur Wand gerichtet. Ich blickte geradeaus, es nicht wagend den entblößten Hinterkopf anzustarren. Im Augenwinkel stach er jedoch vor dem dünnen, hellbraunen Laken hervor, das den Rest des geschändeten Körpers verbarg. Die rotbraune Farbe erinnerte an Harz. Er war wie ein Baum, der an einer Krankheit litt und dabei die Rinde verloren hatte, während sein Blut an ihm herab sickerte mit dem Ziel, die offenen Stellen zu verschließen.
Die Vergleiche mit dem morschen Holz verursachten eine weitere Eingebung. Schlief er in dieser Höhle als Ausgestoßener oder zum Schutz? Im Wald schlafend würden sich die Käfer, Würmer, Fliegen und Vögel an seinem Fleisch vergreifen. Ich konnte die winzigen Kiefer der Biester in der Stille aneinander mahlen hören, bis mir auffiel, dass ich selbst mit den Zähnen knirschte. Meine Einbildung spielte mir in der völligen Schwärze und Abstinenz aller Sinneswahrnehmung Streiche. Erschrocken tapste ich ungeschickt vorwärts. Mein Herz pochte ungleichmäßig, während ich mich fragte, ob er mich gehört hatte.
Einige Momente stand ich da, wie zur Säule erstarrt und bewegte nicht einen Zeh. Nichts.
Ich ließ den Läufer hinter mir und wusste nicht, ob dies die Situation besser oder umso unerträglicher machte. Mein getriebener Geist veranlasste mich, schon bald zu glauben, dass er mir still und heimlich gefolgt war und das Echo meiner Schritte im Gang als Tarnung benutzte. War da eben ein drittes Echo oder war es er?
In meiner Fantasie kletterte er und hielt sich mit seinen Extremitäten an die Wände gedrückt, dicht unter der Decke. Weder sah, noch hörte ich ihn kommen. Wie ein Insekt, dass einer Spinne ins Netz gegangen war. Im richtigen Moment würde er sich auf mich herabstürzen. Es schauderte mich und mir standen die Nackenhaare zu Berge, bei dieser Vorstellung.
Einen großen Zug einziehend und wieder ausstoßend, versuchte ich meine Anspannung zu lösen. Ich wollte nichts lieber als mich umdrehen und nachsehen, ob ich verfolgt wurde, aber ich widerstand der Verlockung. In der Dunkelheit wäre sowieso nichts zu erkennen gewesen. Der Angst zu trotzen gelang mir, bis ich einen seichten Lichtschein in der Ferne ausmachte.
Ab da begann ich zu rennen. Die letzten Schritte. Gleich konnte ich auftauchen, frische Luft einatmen und die Welt der Nacht hinter mir lassen. Schatten trieben mich voran, bis das Strahlen der Mittagssonne sie aufhielt. Es war gleichzeitig zu viel und zu wenig Zeit vergangen, fiel mir auf. Völlig ohne Anhaltspunkte hatte ich mein Gespür dafür verloren.
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