Der Furchtsame

An mir, nur wenige Schritt entfernt, hechtete eine Gestalt vorbei, in großen Sätzen und mit zu Pfeilen geformten Armen. Ich war ihr nur knapp entgangen. Wäre ich enger am See gelaufen, wären unsere Körper zusammengestoßen. Doch sie drehte nicht um für einen erneuten Versuch, sondern verschwand hinter einem Vorhang aus Schilf.

Mein Kopf überschlug sich vor dunklen Vorahnungen. Konnte es sein, nach all dieser Zeit? Warum hier, warum an jenem Ort, in meinem selbst gewählten Exil? Ich hatte die Umgebung des Hauses als Rückzugsort wahrgenommen, trotz des Henkerforsts in unmittelbarer Nähe. Dabei war der schlimmste Schrecken stets nur einen kurzen Marsch entfernt gewesen.

Ich versuchte mir einzureden, dass mein Geist mich betrog. Sowohl mein Seh- als auch mein Hörsinn spielten mir Streiche. Die weiße Gestalt vom Rennen der Königin war ein Teil meiner Vergangenheit. Eine Figur, die sich in den ein oder anderen Albtraum schlich, doch nichts, was mich im wahren Leben konfrontierte. Fast gelang es mir, doch einer meiner Sinne spielte da nicht mit. Es war der Geruch nach faulen Eiern, nach Vergängis, nach Niedergang. Ein Gestank so einmalig wie übel. Keine wohlriechende Blume vermochte ihn zu durchdringen.

Ein Zittern überkam mich, während ich mein bebendes Atmen vernahm. Feuchtigkeit bildete sich in den Augen und meine Zähne schrammten aneinander vorbei, als würden sie etwas Festes dazwischen zermahlen. Er war hier, nicht weit entfernt, der weiße Fremde.

Ich lachte. Es war ein gequälter Laut, näher an einem Weinen als einem freudvollen Ton. Erschrocken von meiner eigenen Reaktion blieb ich stehen. Das musste ein Albtraum sein. Jeden Moment würde mich eine Dienerin aufwecken und mir eine Platte voller Leckereien ans Bett bringen. Ich schlug mir ins Gesicht und der Schmerz drang durch meine Wange. Stille. Dann fegte erneut der Wind durch das Geäst und die Bäume neigen sich in Richtung des Sees. Wolken flogen derweil über diesen hinweg und nahmen mir selbst die Hoffnung auf einen wegweisenden Sonnenstrahl.

Es war alles echt. Der Forst hatte mich gefangen und ließ mich nicht wieder gehen. Leise wimmernd näherte ich mich dem See, mich vom Rand des Pfades zurückziehend. Doch dieser bot nichts als seine undurchdringbaren Wassermassen, die mich nur zu gern empfangen und unter sich begraben hätten.

Mich auf meine Atmung konzentrierend, versuchte ich den Fokus zurückzugewinnen. Was immer jene Gestalt war, welche diesen See für sich beansprucht hatte, sie war auf der Jagd nach mir. Für das in Bandagen gehüllte Wesen, das versuchte einen Hemnan zu imitieren, war dies alles nur ein Spiel. Es brauchte nicht umzudrehen, da ich sowieso nicht entkommen konnte und jeden Moment, den ich weiterhin stehen blieb, würde es sich mir nähern, da der Pfad einen Kreis bildete. Was es mit seinem Verhalten bezweckte, war egal. Ich wollte es nicht darauf anlegen und es herausfinden. In meiner Vorstellung zehrte es von Furcht und wünschte sich nichts lieber, als das ich mich vor Angst gefesselt nicht rührte, bis es wiederkam.

Diese Annahme in den Verstand einmeißelnd, setzte ich meinen Gang fort. Aufmerksam die Umgebung musternd, rannte ich vorwärts. Auf was ich trat oder nicht war mir gleich, alles was zählte, war den Ausweg zu finden. Was immer diese Kreatur war, in den vergangenen Jahren hatte sie nicht nachgelassen, während das Alter an mir nagte. Mit Ausdauer vermochte ich dieses Rennen nicht zu gewinnen, doch dafür mit einem messerscharfen Verstand.

Dem Weg folgend sollte ich eine Abzweigung erkennen, welche in den Wald führt. Und hätte ich diese erst einmal gefunden, wäre es nicht mehr weit bis zum Ausgang des Forsts und zum Anwesen. Der Wind küsste derweil meinen Nacken, als wäre er der Atem des Läufers, der mich eingeholt hatte. Ich durfte mir keine Pause gönnen.

Dies war leichter gedacht als umgesetzt, da die fehlende Übung sich mittlerweile zeigte. Beinahe wäre ich über meine eigenen Beine gestolpert, doch es gelang mir, mich erneut zu fangen. Die Augen wild umherhuschend, sah ich alle paar Herzschläge zurück auf den Weg, doch fand ich nirgends Hinweise auf eine Abzweigung. Ich hatte vollkommen die Orientierung verloren.

Aufzugeben war keine Option. Meine Angestellten benötigten mich, was würden sie ohne Anweisungen tun? Nein, das war eine Lüge. Aus diesem Wald zu entkommen war rein selbstsüchtig, denn eine neue Herrin oder ein neuer Herr hätte sich schnell gefunden. Ich schwor mir selbst, dass ich sie in Zukunft besser entlohnen würde, falls es mir gelänge, dieses Versprechen einzuhalten. Ein gütiger Landesherr hatte es vermutlich eher verdient, aus jener Situation zu entkommen.

Wie als hätte mich der Allsehende erhört, fand mein Blick eine Spur im Gras. Anders als erwartet führte diese nicht zu einem Pfad in die Tiefen des Waldes, sondern zu einer von Gebüschen überwucherten Aushöhlung in einem Felsen. Die Wurzeln eines Baumes verhüllten sie beinahe, doch bei genauem Hinsehen, befand sich dort eine Höhle.

Kurz überlegte ich, ob ich weitergehen sollte, schließlich wäre dies nur ein übergangsweises Versteck. Die Zweifel wurden von der Panik besiegt und ich stürmte in die Öffnung, ohne mich erneut umzudrehen. Kurz innehaltend lauschte ich der Umgebung, doch vernahm nichts als das Knarzen des Baums über mir, der den Winden nachgab.

Vom Weg aus war ich mühelos zu erkennen, weshalb ich mich weiter zurückzog. Während mein Blick dem Weg begegnete, hatte ich zeitgleich eine Eingebung. Der erdige Pfad, welcher sich durch die wilde Natur fraß, war von nur einer Gestalt verursacht worden. Der weiße Läufer rannte hier Runde um Runde und hatte damit alles Gras platt getreten und jegliche Vegetation am Wachsen gehindert. Was, wenn er nichts tat, als zu üben; für das nächste große Rennen?

Ein solch seelenleerer Ort bot sich an, für eine derart unansehnliche Gestalt. Diese Vorstellung vermochte meinen Geist ein wenig zu beruhigen, da ich mir in jenem Fall „die Jagd" nur eingebildet hatte. Mir vornehmend, dass ich hier ausharren würde bis die Wolken sich wieder verzogen hatten und dann im Licht der Mittagssonne den Ausweg zu suchen, ging ich weitere Schritte zurück.

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