Der Diener

Den Moment werde ich nie vergessen, indem ich ihnen Zutritt in mein Heim gewährte und damit rechnete, in einer Zelle zu landen. Oder schlimmer noch, einige Spatenstiche tief begraben, im Henkersforst. Was ich verbrochen haben sollte, war mir zu dieser Zeit unbekannt, nicht aber, was mit denen passierte, die gegen seine Hoheit aufbegehrten. Von dem, was man so hörte, gab es Prozesse, in welchen Mittel eingesetzt wurden, die jedem – unabhängig der Willensstärke – alles entlockten, was der Fürst sich wünschte.

Die Männer betraten weniger Worte mein Speisezimmer und setzten sich auf die ungenutzten Stühle, welche dort verrotteten. Ich bekam niemals Besuch, weshalb ich in manch kalten Wintern mit mir gerungen hatte, das alte Holz zu verlodern. Ohne eine Begrüßung, abseits der Frage, ob sie Platz nehmen durften, kamen sich zugleich zur Sache.

Ihr Herr hatte von meiner Tätigkeit gehört und davon, wie diskret, rasch und zuverlässig ich sie ausführte. Daher bat er mich, in seinen Dienst zu treten. Nachdem sich die Verwunderung gelegt hatte, erkannte ich, welche Chance sich mir bot. In der Gunst des Fürsten zu stehen, zahlte sich aus, wenn man dem Geplapper der einfachen Leute Glauben schenkte. Zudem war ich gescheit genug, zu wissen, dass es sich nicht um eine Bitte im klassischen Sinn handelte. Der Fürst verlangte nach mir, also hatte ich zu erscheinen. Wenn dann würde ich mir einen guten Grund überlegen müssen, um persönlich abzulehnen.

Innerhalb von Wochen wandelte sich mein gesamtes Leben. Ich bekam Schuhe, die mir an die Füße angepasst wurden, eine Tunika aus dickem Nesselgarn, um mich nicht am Gestrüpp zu verletzen und eine hölzerne Rolle mit einem Verschluss, welche meine Briefe vor dem Regen bewahrte. Aufträge nahm ich einzig von der Familie des Fürsten an. Er verbot mir nicht, für andere auszuliefern, doch die Zeit hatte ich schlichtweg nicht mehr.

Für die Fürstin überbrachte ich Einladungen, Verträge, Vereinbarungen und diplomatische Papiere, während ihr Mann Waffen in Auftrag gab und mit dem Ausbilder der Gardisten, anderen Edelleuten, Geschäftsbetreibern und dem Aufseher der Landwirte korrespondierte. Der Prinz schrieb mit Gelehrten des Ordens der Wissenden, um seine Neugier zu befriedigen und mit Dirnen, vermeintlich um Termine für die fleischlichen Gelüste zu vereinbaren. Seine Schwester unterhielt eine Brieffreundschaft oder etwas Derartiges, mit dem Prinzen eines anderen Adelshauses. Ihre Aufträge zwangen mich nicht selten, dreimal die Woche, die Grenze ihres Fürstentums zu überschreiten.

Meine Ausdauer befand sich auf einem Hoch und gleichzeitig schwanden ebenso die Ängste. Albträume hatte ich nie zuvor gehabt, dafür aber Panikattacken am Tage, die damit gänzlich ausblieben. Ich bildete mir ein, schnell genug zu sprinten, dass es keinem Tier, Banditen oder sonstigem weltlichen Übel gelänge mich einzuholen.

In jener Zeit war es, als ich mir das erste Mal wünschte, dies mein Lebtag fortzuführen, bis in den Lebensabend, wenn die Haare grau und die Beine kraftlos wurden. Es war das Gefühl des Windes um meine Arme, der Blick bis zum Horizont, welcher eine endlose Strecke versprach, die Abwechslung und Freiheit, der ich mich hingab.

Kein Reh, Hase oder Vogel war so losgelöst wie ich. Unter dem Himmel, welche Farbe er auch annahm und ob er mir den Weg bereitete oder jeden meiner Schritte verfluchte, war ich die ungehindertste Kreatur weit und breit. Dies war, was mich antrieb. Was für ein Narr ich doch war. Hätte ich den Bogen damals nicht überspannt, wäre mir nie zu Augen gekommen, was ich nie wieder vergessen werde.

Doch so weit sind wir nicht. Diese Geschichte zeugt bis jetzt lediglich vom Aufstieg, doch die Krone des Ganzen erwartete mich noch. Der Höhepunkt meines Lebens, kam so plötzlich wie das vierfache Klopfen der Gardisten.

Es war an einem Tag, der keine weiten Strecken bot und mich über matschige Wege und durch trübe Käffer führte. Eine leicht bekleidete Frau, an der Ecke zum Roten Baron, erwartete eine Notiz, der es nicht meinem Brief-Rohr bedurft hatte. Die wütend dreinblickenden Wolken ergossen sich in gräulichen Bächen, während die ebenso mies gelaunte Dame die Mundwinkel nach oben zog, zwecks der hohen Belohnung, die sie erwartete. Um ihre Freude kundzutun, gab sie mir einen widerwärtigen Schmatzer auf die Wange, mit Lippen, von denen ich nicht wissen wollte, wovon diese zuletzt gekostet hatten.

Als ich mich von ihr abwandte, im Wissen, die Burg zu erreichen, bevor das wahre Unwetter begann, trafen meine wachsamen Augen auf einen Aushang, den ich bislang übersehen hatte. Er triefte vor Nässe und war an der Wand der Spelunke mit einem Klebstoff auf Harzbasis angebracht worden. Mit einigem an Fantasie konnte man darauf die Einladung zu einem sportlichen Wettstreit erkennen.

Zurück in den Mauern meines Fürsten befragte ich eine Dienerin nach dem, was ich gesehen hatte. Sie bestätigte die Vermutung und erzählte sogleich von den Festspielen der Königin, welche im nächsten Monat stattfinden sollten. Dort würden Wettkämpfer in allerlei Kategorien gegen einander antreten. Darunter ebenso Läufer bei einem Wettrennen.

Während ich dem Prinzen von der Antwort der Hure vom Roten Baron berichtete, erwähnte ich die Veranstaltung und kam mit diesem ins Gespräch. Er überredete daraufhin seinen Vater, dass ich in dessen Namen antrat. Die fürstliche Schneiderin fertigte mir im Anschluss ein Gewand an, welches das Wappen meines Hauses trug. Eine in Plattenrüstung gekleidete Frau auf einem Pferd mit einer Lanze, umklammert von Ranken, deren rote Blüten um ihr Antlitz entlang erblühten. Das emotionslose Gesicht vermochte zugleich bildhübsch, wie grausam auszusehen, mit langen Haaren, die ruhmreich dahinter im Wind wehten.

Ob sie sich auf ihrem Ross so frei fühlte, wie ich, wann immer ich lief? Ihr Gesicht zeigte keinen Anflug von Freude, doch ich wusste, dass sie es genoss.

In Nebelstadt errichtete man Zelte, baute die Tribünen auf und bereitete alles für die Festspiele vor. Am dritten Tag des Spektakels gab es keinen Auftrag für mich und es war mir gestattet am ersten Rennen teilzunehmen. Ich wurde sogar auf einem Pferd zum Veranstaltungsort geritten, um meine Beine zu schonen.

Da ich bis zu diesem Tag beschäftigt gewesen war, hatte ich keine Zeit gehabt, um zu trainieren. Daher setzte ich alle Hoffnungen in meine Ausdauer und betete, dass es nicht um die Beschleunigung auf kurzer Strecke ging. Der Wettstreit war eine Mischung aus beidem, wie sich mir eröffnete.

Man trat auf einer längeren Strecke gegen zahlreiche andere Läufer an und wenn man zu den ersten hundert gehörte, durfte man weitermachen. Es gab zwei solcher Qualifikationen und zusätzlich vier kürzere Rennen, bei denen die Teilnehmeranzahl jeweils halbiert wurde. Etwa ein Dutzend Läufer würden sich somit in der Finalrunde gegenüberstehen.

Ich verkroch mich in der Nähe der Bediensteten meiner Auftraggeber, um die Blicke der zahlreichen Leute zu meiden, die antreten würden. Die Menge bestand aus Frauen und Männern, alten, wie jungen. Manche waren bloßes Fußvolk – Soldaten, die sich miteinander messen wollten, überschwängliche Jugendbälger und angeberische Unruhestifter – andere waren gekleidet wie ich, mit tadellos sitzenden Schuhen und einem Stück Stoff, auf dem das Symbol ihrer Unterstützer zu erkennen war.

Beim Lauschen der Gespräche erfuhr ich von den Favoriten der Menge. Die neueren Besucher tippten auf einen drahtigen Knappen mit einer roten Sonne und einer Krähe auf dem Oberkörper. Unter den Alteingesessenen war man sich einig: Das weiße Phantom würde gewinnen, wie die Jahre zuvor.

Wer diese mysteriöse Gestalt war, wusste man nicht, doch es wurde so einiges gemunkelt. Er solle ein Spion aus einem anderen Königreich, der Geist des verstorbenen Ritters Felagrim oder ein Priester des Allsehenden, den der Wahnsinn gepackt hatte, sein. Was davon stimmte, lag genauso im Geheimen wie dessen Gestalt.

Was ihm seinen Namen verlieh, war ebendiese absonderliche Erscheinung. Sie lag verborgen, unter einem schneeweißen Stoff, der aussah wie Leinen, welche eng um den dürren Körper gewickelt waren. Irgendwann am Mittag dachte ich, etwas in der Menge erspäht zu haben, fand ihn aber nicht mehr wieder.

Das erste Rennen war ein Klacks. Ich hetzte mich nicht einmal und schaffte es unter die zwanzig, welche vor allen anderen die Ziellinie passierten. Vom weißen Phantom sah ich nichts, dafür aber unzählige abgemühte Fratzen, die sich vor Anstrengung verzogen. Die Wettstreiter beugten sich vorn über, mit den Händen in die Schenkel gestemmt, als würden sie jeden Moment zusammenbrechen. Da überkam mich ein Gefühl von Überlegenheit. Ich wurde arrogant und spurtete zu meinem Fürsten zurück, ohne etwas vom Fass zu trinken, was den Teilnehmern das kühle Nass versprach.

Während der zweite Lauf abgehalten wurde, verdüsterte sich der Himmel. Ich sah von den Bänken der fürstlichen Familie aus zu und versuchte die Wettstreiter nach solchen abzusuchen, die mir vielversprechend vorkamen. Der Knappe mit der roten Sonne war in meiner Runde stets vor mir mitgelaufen aber ab der Hälfte der Strecke stehen geblieben, ohne mich wieder einzuholen.

Als es zu nieseln begann, erspähte ich einen gräulich-bleichen Schatten in der Menge. Es konnte sich nur um das Phantom handeln. Als das Horn zum Start ertönte, stürzte dieses vor, wie vom Wahnsinn geritten und überholte alle anderen. Ich beobachtete das Geschehen fassungslos, während die Gestalt aus meinem Blickfeld verschwand. Welcher Läufer würde denn bereits zum Start ein solches Tempo an den Tag legen? Es musste sich um einen überschätzten Angeber handeln, selbst wenn dies sich mit den Beschreibungen der Zuschauer biss, die ich vernommen hatte.

Am Nachmittag begann das Achtelfinale mit den zweihundert Besten, der beiden Vorrunden. Ich genehmigte mir doch einen Schluck Wasser und behielt mein Tempo von meinem ersten Lauf bei, um es gegen Ende zu beschleunigen. Diese Taktik wendete ich genauso beim Viertel- und Halbfinale an. Ich hatte Glück. Zwar waren die Strecken kürzer geworden, aber dafür wurden die Teilnehmer von Runde zu Runde erschöpfter, während ich meine Ausdauer beibehielt. Bei den eiligsten Botengängen hatte ich zum Teil bis des Nachts mein Tempo nicht gedrosselt, deshalb konnte ich mir dies erlauben.

Das Phantom musste mittlerweile am Ende seiner Kräfte sein, wenn es die Geschwindigkeit der Vorrunde beibehielt. Während den späteren Wettkämpfen hatte ich es vor lauter anderer Kontrahenten und wegen meiner ersten Regel – niemals zurückzublicken – nicht gesehen, aber die Gestalt musste vor mir ins Ziel gekommen sein, denn hinter mir tauchte sie nicht mehr auf.

Dann begann die Finalrunde. Allmählich zeichnete sich die Erschöpfung bei den anderen zehn Teilnehmern ab, was mich in meiner Selbstsicherheit bestätigte. Dies galt für alle, bis auf einen: das Phantom. Die Person unter den bandagenähnlichen Stoffen atmete flach und bewegte sich kaum.

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