Der Blinde

Ich erkundete die Höhle, welche von innen größer war, als es von außen schien. Ein kaum merkliches Gefälle lag dabei vor mir. Der gräuliche Stein war wie in sich zusammen gesunken und unter dem eigenen Gewicht, in den Erdboden getaucht. Tiefe bräunliche Rillen rahmten den Gang ein und verliefen über die Wände des Felsens. Ihr Ausgangspunkt lag weiter im Inneren. Ich folgte ihnen und kam nicht umher sie dabei abzutasten.

Es war, als wären sie vom Wasser geformt worden. Der See musste mit der Zeit zurückgegangen sein. Früher einmal hatte er diese Höhle geflutet. Ich schloss daraus, dass der Gang um einiges weiterführte. An seinem Ende war ehemals das kühle Nass ausgedrungen, so nahm ich an.

Die Druiden vom Sternensee glaubten daran, dass das Wasser mehr war als eine Lebensquelle. Es floss nicht nur, sondern leitete. Vom Quell, zum Arm und schließlich ins Meer. Der See hatte einen Zulauf. Irgendwo unter der Erde verband er sich mit einem Flussarm und hier war er ehemals abgeflossen. Demnach schlussfolgerte ich, dass ich auf dieser Route womöglich fliehen könnte. Nicht nur von der Lichtung, sondern aus dem Wald. In meiner Panik erschien mir dies die einzige logische Entscheidung.

Weiter um mich greifend, stolperte ich vorwärts. Der Boden war glitschig und ich tat mir schwer nicht auszurutschen. Wann immer ich versuchte, mich an den Seiten zu halten, schnitt mir der Stein ins Fleisch. Seine Unebenheiten waren wie kleine Mäuler, die nach meinen Fingern schnappten und sofort wieder losließen, wenn ich sie ruckhaft zurückzog.

Während ich mir den Weg bahnte, erschien es mir wie ein Fehler. Doch umkehren war keine Option. Der weiße Läufer könnte zu jedem Augenblick vorbeilaufen. Hier war ich auf mich allein gestellt. Weder Fürst noch Königin würden mich an diesem Ort beschützen. Wenn er mich, wenn es mich, an jenem Ort einholte, gab es nichts, das ich tun konnte. Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, dass jene gebrechliche Kreatur mir körperlich um einiges überlegen war.

Schwärze füllte mein Sichtfeld. Ein Gefühl überkam mich, wie ich es nur aus meiner Kindheit kannte. Damals hatten wir das Dreck-Fänger Spiel im Grausee gespielt. Dabei tauchte man bis zum tiefsten Punkt und holte so viel Schlamm nach oben, wie man in zwei Hände bekam. Dann war man der „Fänger" und im Moment des Auftauchens die anderen, stillstehende „Statuen". Wie solche sollten sie erstarren und man hatte zwei Versuche, einen für jeden Wurf, um sie zu treffen. Gelang einem dies, wurden die Getroffenen ebenso zu Fängern und man selbst zum Gejagten.

Damals war ich bis zum Grund geglitten, völlig furchtlos. Kälte ummantelte einen und dann die Dunkelheit. Man verlor ab einem gewissen Punkt jeden Orientierungssinn. Nur die an den Beinen leckenden Pflanzen verrieten, wo die durch die Finger rinnende Erde versteckt lag.

Ab und an wurde man von einem Fisch gestreift, doch durfte man nicht zu sehr zappeln, denn das hätte den Grund aufgewühlt. Schmerzhafte Erinnerungen krochen tiefer in meinen Verstand. Wie durch eine Wolke aus Dreck wurde ich von ihnen geschützt, doch das trübe Wasser offenbarte allmählich seine Geheimnisse.

Einmal war es kein Kegerfisch gewesen oder eine Grünfeder. Diese Tiere waren glatt und schuppig, doch was mich dort am Fuß kitzelte, war knochig und rau. Es zog an mir. Und als ich die andere Ferse nach unten stieß, hätte ich schwören können auf etwas größeres getreten zu sein. Ich rang nach Luft, wollte fliehen, doch mein Verfolger ließ nicht locker und zog mich in die Tiefe. Erst als ich wieder und wieder auf dieselbe Stelle trat, gelang es mir, dem eisernen Griff zu entkommen.

Die Wassermassen über mir waren so enorm gewesen, dass ich damit rechnete zu ertrinken. Ob die Kreatur mir hinterher tauchte, um mich einzuholen, war völlig hinfällig, als die Todesangst mich glauben ließ, mein Leben wäre bereits ausgehaucht. Meine Lungen fühlten sich an, als hätte sie jemand mit flüssigem Gestein und Feuer gefüllt. Das Auftauchen hatte ich nicht mehr in Erinnerung.

Als kleiner Bursch hätte man mir nicht geglaubt. Ich selbst wollte es nicht wahrhaben und erzählte niemandem davon. Bis dahin hatte ich mich angezweifelt, doch dort umgeben vom tiefschwarzen Fels, wusste ich, dass es wahr war. Wie für die feige Flucht geboren. Immerzu verflogt, rastlos, furchtsam. Immer noch unter der Oberfläche, strampelnd und nicht akzeptierend, dass mich die Schrecken einholten.

Es hämmerte unter der Haut. Mit jedem Meißeln, das durch mein Fleisch ging, schritt ich hastiger ins Unbekannte. Der Sog des Abgrunds war unnachgiebig und ich wehrlos. Während mein Herz ohne Pause gegen meinen Brustkorb hüpfte, als versuche es, zu entkommen, stieg mir etwas in die Nase. Ein süßlicher Geruch, gemischt mit dem von morschem Holz, Tierkadavern und Erde. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Höhle zuvor völlig geruchlos gewesen war.

Ein Zucken ging durch meine Glieder. Ekel, doch nicht klar auszumachen was ihn ausgelöst hatte. Nichts von alle dem schien mir vertraut. Die einzige Orientierung, die ich neben dem Berühren der Wände hatte, war dieser intensive Dunst. Jener war nur schwer, in Worte zu fassen, und fast schon unbeschreiblich. Es war weder ein Riechen noch ein Schmecken. Ob ich halluzinierte, da mein Geist mit der völligen Schwärze und Stille nicht umzugehen vermochte, ist mir bis heute unklar, doch das Folgende ist nichts als die pure Wahrheit, von dem, was ich glaubte erlebt zu haben.

Ich begann zu sehen.

Keine klar erkennbaren Schemen, nicht einmal vage Schatten oder derartiges, eher eine Art Rauch, der sich wandte und unablässig seine Form änderte. Der wabernde, farblose Punkt war unsichtbar in der Finsternis und dennoch weniger dunkel als der Raum um ihn herum. Allmählich kamen weitere hinzu. Sie ordneten sich hinter diesem an.

Was mein Verstand mir versuchte zu sagen, war mehr ein einzelner Ton, als eine Melodie. Mehrere Geräusche, die keinerlei Rhythmus oder dergleichen besaßen. Als zöge jemand leise einzelne Saiten einer Laute. Durch meine Hände vervollständigte sich dieses zerbröselnde Bild. Sie fühlten die Umgebung und verliehen jenem zerbrechlichen Gedankenkonstrukt, was es benötigte.

Meine Finger weit von mir gestreckt, trafen auf etwas Weiches. Ich begann zu spielen. Die Lautstärke stieg an und wurde simpler zu erkennen. Wiederholungen und Muster prägten ein Gebilde, welches wiederum zu einem Lied wurde. Ich verstand. Es war ein schrecklicher Gedanke, den ich mir in die albtraumhafte Vorstellung musiziert hatte. Nicht wahrzuhaben, doch zu deutlich, um keine Akzeptanz zu finden.

Ich konnte nicht leugnen, dass ich eine Wange berührte. Sie war trocken, erdig und übersäht mit unförmigen Löchern, sowie winzigen Steinen, die ins Fleisch eingesunken waren. Darunter, hinter einer hauchzarten Schicht, mehr Leinen als Haut, lag eine Reihe Zähne. Die Kälte der Höhle war zu einem Grad angeschwollen, der mich meinen eigenen Körper wahrnehmen ließ, als wäre dieser selbst ein Teil von jener. Unbeweglich, gesteuert von einer fremden Macht.

Obwohl meine Kehle schreien, mein Arm wegziehen und meine Füße zum Eingang sprinten wollten, passierte nichts davon. Wie ein Vater, der behutsam über die Wunden seines Kindes fährt, ertastete ich die entstellte Fratze. Etwas in mir wusste, dass sie sich nicht bewegen würde.

Während meine Finger über die pergamentartigen Züge kreisten, löste sich ein Fetzen des ehemaligen Gesichts und blieb am rechten Daumen kleben. Das Geräusch, welches dabei entstand, hätte mich beinahe übergeben lassen. Ich riss mich zusammen.

Vor mir stand eine Leiche, mitten im Raum. Sie war leicht verwest, doch durch die Kälte der Höhle recht gut konserviert. Außerdem war sie vollständig ausgetrocknet, als hätte der Boden ihr alles Wasser ausgesaugt. Indem ich mich weiter tastete, verstand ich, warum es schien, als würde sie stehen. Es war nichts als ein Schädel, auf einem Berg von Körperteilen. 

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