Kapitel 9
Der Essensraum war herrlich. Die gesamte linke Wand nahm ein langer Tresen ein, der sich unter dem Gewicht des Essens darauf fast bog. Ein wunderschöner Kronleuchter hing von der Decke und glitzerte in dem Licht der Kerzen. Die Wände waren in einem hellen blau angestrichen, das mit Farbklecksen überhäuft waren, als hätte jemand hunderte von Farbeimern wahllos gegen die Tapete geworfen. Das sah eigentlich sehr hübsch aus. Überall in dem Raum waren Holztische aufgestellt, an denen ungefähr zehn Personen Platz hatten. Der Raum schien viel zu klein für die Kindermasse die in einer langen Schlange geduldig am Tresen standen und darauf wartete, dass ihnen die Köche die Teller in ihren Händen mit duftendem Essen füllten. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und ging langsam auf die Schlange zu. Im Heim hatte das Essen immer auf den Tischen bereitgestanden. Ich reihte mich ans Ende ein und betrachtete den dunkelhaarigen Jungen vor mir. Er nahm sich einen der Teller, die aufgestapelt in einem Regal an der Wand standen und ich sah kurz ein Symbol an seinem Handrücken aufflammen. Soweit ich es erkennen konnte, war es ein kleiner Vogel. Wenn ich mich nicht täuschte, ein Eichelhäher. Warum hatte der Junge auch ein Zeichen auf der Hand? Meine Gedanken wurden unterbrochen, als die Schlange aufrückte und ich an dem Regal vorbeikam. Ich nahm mir ebenfalls einen Teller und umklammerte ihn mit beiden Händen, bis sich meine Fingerknöchel weiß färbten. Das war alles so fremd für mich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, als ich endlich bei den Köchen angelangt war. Es waren ausschließlich Kinder. Nicht älter als 18. Außer mir schien das keiner seltsam zu finden. Ein kleines Mädchen griff nach meinem Teller und füllte ihn aus einem Topf mit irgendeiner komischen Pampe, die eine leichte Ähnlichkeit mit Kartoffelpüree hatte. Das Mädchen gab meinen Teller an den Jungen neben sich weiter, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. "Vegetarier?" fragte er. Die Frage überraschte mich so, dass ich erst antwortete, als er sie ungeduldig wiederholte. "Ähm...eigentlich nicht." sagte ich. Der Junge nickte und schüttete auf die Pampe eine weiße Soße mit kleinen Fleischbrocken und Gemüse. Dann reichte auch er meinen Teller an seinen Nachbarn, der ihn mit Gemüsestäbchen füllte und so ging es immer weiter, bis ich an das Ende des Tresens gelangte. Der letzte Junge reichte mir lächelnd ein Tablett mit meinem zum überlaufen gefüllten Teller, einer Schüssel Obstsalat und einer mit köstlich aussehendem Schokopudding, ein Glas das aussah, als enthielte es Apfelsaft, aber roch wie Honig und meinem Besteck. Ich nahm das Tablett dankend entgegen und drehte mich zu den Tischen um. Wo sollte ich sitzen? Ich kannte hier bis auf Nevio niemanden und der war verletzt und nicht hier. Ich ging langsam zwischen den besetzten Tischen umher und sah mich nach einem um, der leer war oder an dem nur wenige saßen. Alle Kinder und Jugendlichen trugen diesen Einheitslook - dunkelblaues T-Shirt mit einer roten Flamme, schwarze Hose, rote Sneakers - , aßen glücklich ihr Essen und unterhielten sich laut. Es war wie ein großes summendes Bienennest. Und ich war die Wespe die sich dorthin verirrt hatte. Zum Glück beachtete mich keiner. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, als mich jemand am Arm packte und mit sich zog. Ich hätte vor Schreck fast das Tablett fallen gelassen und fuhr herum. "Na Neue, findest du keinen Platz?" Ich sah in das lächelnde Gesicht von dem Mädchen, das sich auf dem Flur neben mich gekniet und gesagt hatte, dass Nevio schon schlimmeres als die Auseinandersetzung mit Cassian erlebt hatte. Und die mit der Jaron geredet hatte, als würde ich nicht existieren. Ich wollte wütend auf sie sein, aber ich konnte es nicht. Sie hatte eine viel zu freundliche Ausstrahlung. Ohne auf eine Antwort zu warten, zog sie mich zu einem Tisch, der bis jetzt leer war. Ich hatte ihn noch gar nicht entdeckt. Die Kinder gingen an dem Tisch vorbei, als wäre er gar nicht da. Das Mädchen ließ meinen Arm los und setzte sich auf einen der Stühle. Als ich unschlüssig stehen blieb, lachte sie und sagte:" Na komm schon. Ich tu dir nichts. Setz dich." Ich tat wie mir geheißen und stellte mein Tablett auf dem Tisch ab. "Ich hab mich ja noch gar nicht vorgestellt. Liana." Die Blonde streckte mir ihre Hand entgegen und ich ergriff sie. Ein leichter Wind fuhr durch meine Haare. Als sie ihre Hand zurückzog, erweckte etwas darauf meine Aufmerksamkeit. "Du...bist Luft." murmelte ich und bemerkte, als sie fragend die Stirn runzelte, wie dämlich das klang. Ich deutete auf ihren Handrücken. Liana grinste. "Achso, das meinst du." Sie drehte ihre Hand so, dass man das Symbol besser erkennen konnte. Ein Kringel, wie ein Schneckenhaus, leuchtete silbrig auf und wieder zerzauste ein leichter Windstoß meine Frisur. "Und du bist?" fragte Liana. Ich lächelte. "Thalia, kannst mich aber Thal nennen." "Wasser." fügte ich hinzu. "Oh ein Wassermädchen. Die sind selten. Genau wie Luft. Hauptelemente eben. Aber du darfst bloß nicht denken, dass du besser oder so bist. Das kommt nicht gut." erklärte Liana und begann die Kartoffelpampe in sich reinzuschaufeln. Als sie merkte, wie ich sie beobachtete, schluckte sie ihr Essen hinunter und fragte:" Was ist? Hast du etwa keinen Hunger? Ach klar, sieht berstig aus das Zeug, was?" Sie grinste. "Aber glaub mir, wenn du's probiert hast, denkst du darüber ganz anders. Die Köche hier sind echt die besten. Die meisten jedenfalls." Ich nahm meine Gabel, stocherte in den Kartoffeln herum - jedenfalls glaubte ich, dass es sich darum handelte - und überwand mich dann. Und war total überrascht. Es war "Wahnsinn!". Liana lachte. "Sag ich ja. Und wenn du erst den Schokopudding gegessen hast. Ein Traum!" Es dauerte nicht lange, bis mein Teller leer war und ich mich dem Obstsalat zuwandte. Ich redete kaum, aber merkte schnell, dass Liana eine absolute Labertasche war. Obwohl wir uns gar nicht kannten, textete sie mich mit irgendwelchen neuen Klamotten- und Schminktrends zu und erklärte mir, wie lange sie heute morgen gebraucht hatte, um ihre blonden Haare glatt zu bekommen, denn eigentlich standen die dank ihrem Element ziemlich vom Kopf ab. "Und glaub mir das sieht schrecklich aus." beendete sie ihren Vortrag. Ich nuschelte nur zustimmend und puhlte das letzte Apfelstück aus der Schüssel. Als sie gerade über ihre Schminktipps fortfahren wollte, unterbrach ich sie kurzerhand. "Was ist das hier?" Sie sah mich verwirrt an. "Ähm, das hier? Naja der Essensraum denke ich mal." Ich schüttelte den Kopf. "Ich meine das ganze Gebäude. Das Lichterzimmer, die Gänge mit den Bildern an der Decke, die vielen Türen? Was hat es damit auf sich?" Liana strich sich eine blonde Strähne aus dem schönen Gesicht und begann zu erzählen:" Schau dich um. Siehst du die ganzen Kinder hier? Ja okay, die sind wohl kaum zu übersehen. Aber all diese Kinder sind wie du und ich: anders. Schau dir ihre Haare an. Viele haben blaue, rote, grüne Haare und das liegt nicht daran, dass sie mal ne Typveränderung durchmachen wollten, nein. Genau wie du, denk ich mal, wurden sie so geboren. Und achte auf ihre Hände. Alle haben ein Zeichen darauf. Wie wir beide. Das zeigt an was wir sind. Welche Kräfte wir besitzen, was uns besonders macht. Wie du ja bereits erkannt hast, ist mein Element die Luft. Noch kann ich nur kleine Winde machen und ungefähr zehn Zentimeter über dem Boden schweben, aber wenn ich erst mal älter bin. In vier, fünf Jahren, haha, das wird was. Dann kann ich für mindestens eine Stunde fliegen und Stürme entfesseln, die ganze Häuser wegblasen! Stell dir das mal vor! Naja, damit ich aber keine Dörfer vom Angesicht der Erde puste, wurde ich hier reingesteckt. So wie alle anderen. Und du. Damit wir mit unseren Kräften niemandem schaden. Wir lernen sie hier zu kontrollieren, bis wir alt genug sind und niemanden unbewusst verletzten könnten. Es kann ein paar Monate dauern, bis du dein Element richtig beherrschst, dann bist du aber echt krass. Die meisten sind hier schon seid Jahren und haben nicht mal ne Ahnung darüber, was sie überhaupt alles können." "Wie lange bist du schon hier?" fragte ich zögernd. Liana zog eine Grimasse. "Fast fünf Jahre." Ich verschluckte mich an meinem Saft - der wirklich wie flüssiger Honig schmeckte - und hustete. "Fünf Jahre?!" fragte ich, nachdem ich mich wieder eingekriegt hatte. "Jip. Ist aber gar nicht so übel hier. Man gewöhnt sich an die Leute, das Essen, an alles eben." antwortete Liana und führte ihren Löffel mit Pudding zum Mund. Ich sah mich um. "Aber warum gibt es hier nur Kinder unter 18? Warum müssen Kinder kochen und verarzten? Und was ist hinter den ganzen Türen auf den Gängen?" Liana lächelte und beantwortete meine Fragen geduldig:" Es gibt eine Altersgrenze. Wenn du deinen achtzehnten Geburtstag feierst, bist du automatisch fertig mit dem Schuppen hier. Egal wie weit du dann mit deinen Kräften bist, du bist raus. Das dient dazu, dass es nicht überfüllt wird. Wenn alle hierbleiben würden, die noch nicht weit genug sind, würde das Haus aus allen Nähten platzen. Aber normalerweise wissen die Achtzehnjährigen wie sie ihre Kräfte kontrollieren können. Wenn nicht, bekommen sie einen der Wächter. Das sind speziell ausgebildete Jungen und Mädchen, die eigentlich aufpassen, dass hier alles seinen gewohnten Gang geht und die das Gebäude bewachen. Aber wenn es so einen Ausnahmefall gibt, der selbst mit achtzehn noch nicht weiß, wie der Hase läuft, bekommt der einen Wächter an seine Seite, der ihn im Auge behält und eingreift, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Zu deiner nächsten Frage, warum die Köche und Ärzte Kinder sind: Wir sollen lernen, so gut wie möglich alleine auszukommen. Damit wir nicht aufgeschmissen sind, wenn wir volljährig werden. Stell dir vor, du wirst auf die Straße gesetzt, sollst dich durchschlagen und weißt nicht mal, wie man einen Herd betätigt, geschweige denn etwas kocht." Das klang für mich einleuchtend. "Hinter den vielen Türen" fuhr Liana fort. "sind Räume, Unterrichtsräume. Räume für's Trainieren, lernen, kämpfen." Ich horchte erschrocken auf. "Kämpfen?" wiederholte ich. "Ja, kämpfen. Wir müssen schließlich auf alles vorbereitet sein, wenn wir achtzehn werden. Deshalb üben wir, wie wir uns da draußen verteidigen." Meint sie mit da draußen die Welt, in der ich aufwachsen bin? Und lernt man hier allen ernstes kämpfen? Wo bist du hier bloß gelandet, Thalia? fragte ich mich. "Ja, ich weiß das ist alles ganz schön viel, aber du lebst dich bestimmt schnell ein. Eigentlich führt Nevio die Neuankömmlinge herum, aber da er ja momentan... ähm verhindert ist, könnte ich Jaron fragen, ob ich das übernehmen kann." Sie lächelte mich so zuversichtlich an, dass ich nur lachend nicken konnte. "Super. Es freut mich wirklich sehr, dass ich dich kennengelernt habe, Thal." sagte sie und ich erwiderte glücklich, dass ich dankbar für ihre Hilfe und ihre Erklärungen war, und da umarmte mich Liana und murmelte:" Du bist so eine tolle Freundin."
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