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Jamies Hand lag auf dem Abzug der Waffe - der entsicherten Waffe. Ich zuckte stark zusammen; erst jetzt fiel mir auf, dass er überhaupt eine dabei hatte. Er meinte das alles also wirklich ernst. Jetzt konnte ich mich auch nicht mehr zurückziehen, schließlich hatte ich es ihm unter Einfluss von reichlich Alkohol an jenem Abend versprochen. Und ich hielt mein Wort auch, selbst wenn es, wie ich jetzt weiß, unser beider Untergang war.

Er legte die Waffe auf meinen Schreibtisch und kam anschließend zu mir zurück. Der Lauf zeigte auf die Außenwand, an der der Schreibtisch stand. Somit stellte die Pistole keine Gefahr für uns dar - jedenfalls solange sie einfach da liegen blieb und niemand sie anfasste. Natürlich wusste ich, dass das so nicht ablaufen würde, also machte ich mir gar keine Hoffnungen mehr.

"Was meinst du?", fragte ich, den Blick nur schwer von der Waffe lösend, um ihn ansehen zu können. Seine Hand ging auf Wanderschaft und erkundete meinen Körper, aber seine Augen hielten meine fest. Es war gruselig, irgendwie, aber ich war sowieso immer und immer wieder von seiner atemberaubenden Schönheit überrascht.

"Den Mord. Wir müssen ihn heute Nacht durchziehen, sonst kommt man uns zuvor", wisperte Jamie kaum hörbar, in einer undefinierbaren Tonlage. Dann wurde er aber wieder fröhlicher und fragte: "Wie geht es dir jetzt?" Irgendwie kam es mir damals komisch vor, dass er mich in einem Atemzug mit der Ankündigung eines Mordes nach meinem Befinden fragte, aber ich kommentierte es natürlich nicht. Warum auch?

"Bin etwas erschöpft von der Aufgabe und dem Tag heute", erwiderte ich also lahm und spürte Jamies forschenden Blick erneut auf mir. Aber unwohl war mir dabei nicht zumute, das weiß ich noch genau. Ich fühlte mich beschützt, auch wenn ich nicht wirklich wusste, wieso. Schließlich hatte er bis eben noch mit einer Waffe hantiert, aus der sich bei ein bisschen mehr Rumgefuchtel seinerseits wahrscheinlich ein Schuss gelöst hätte.

"Wenn du willst, können wir deinen Lehrer auch umlegen", grinste er, was mich erschrocken die Augen aufreißen ließ. Er jedoch hob lachend beide Hände in die Höhe. "Das war nur ein Scherz, bleib ganz ruhig. Wir sind beide Neulinge auf diesem Gebiet, aber wenn du dir jetzt schon in die Hose scheißt, können wir das eh vergessen. Wie soll das dann beim Verhör werden? Also, jetzt frage ich dich nochmal: Wie geht es dir?" Diesmal legte er mehr Nachdruck in seine Worte.

"Ehrlich? Ich hab' eine Heidenangst, dass sie uns schnappen. Ansonsten kann ich nicht anders, als uns beide mit Bonnie und Clyde zu assoziieren und mich dabei dann irgendwie verrückt zu fühlen." Ich zuckte mit den Schultern und seine Hand, die mittlerweile meine Haare erreicht hatte, strich einmal durch diese hindurch, was mich einen kurzen Moment entspannte.

"Meinst du nicht, dass wir eher wie Clyde und Ken sind?" Er grinste mich an, aber im ersten Moment verstand ich nicht, was er meinte. Was hatten Ken und Clyde bitte miteinander zu tun?

"Weil wir nicht zusammenpassen? Oder hast du einfach nach zwei Männern gesucht, von denen einer zufällig ein gefühlter Heiliger und der andere ein Bösewicht ist? Oder einer von uns beiden existiert nicht wirklich oder nur als Puppe und der andere ist inzwischen schon tot, ist es das, was du mir damit sagen willst?" Ich grinste wie blöd, Jamie schien das aber nicht so witzig zu finden.

"Na ja, eigentlich trifft es das ganz gut. Du bist der Gute – Ken. Du lebst dein Leben, dein perfektes Leben wie eine Puppe. Ich bin der Böse – Clyde. Ich bin ein Verbrecher und ich ziehe dich, meine männliche Bonnie, da mit rein. Und dann bin ich tot, nach dem letzten großen Verbrechen." Ich schluckte, er durfte nicht sterben. Das durfte er nicht. In diesem Moment hätte ich es ihm so gern verboten, aber jetzt ist es vielleicht besser, dass er der Meinung war, dass er sterben würde.

Eine lange Zeit schwiegen wir und in dem Moment, als er dann aufstehen und loslegen wollte - obwohl ich keine Ahnung von seinem Plan hatte -, hielt ich seine Hand fest und hinderte ihn daran. "Warum willst du dein Opfer töten? Es muss doch irgendeinen Grund geben, oder etwa nicht?" Vielleicht tat er es ja auch einfach aus Spaß an der Freude, wer wusste das schon so genau?

"Er hat einige Frauen bedrängt, eine sogar getötet. Eine andere ist schwanger geworden und hat sich daraufhin umgebracht. Ich kannte sie zwar nicht, aber es hat mich trotzdem irgendwie mitgenommen. Und bevor du mich als einen helfenden Rächer ansiehst: Es geht mir nur darum, dieses miese Arschloch bluten zu sehen." Jamies Blick verfinsterte sich und in diesem Moment hätte ich ihm gern gesagt, was ich für ihn empfand. Ich tat es nicht, hätte es jedoch tun sollen. Jedenfalls im Hinblick auf das, was dieser Tag noch nach sich ziehen sollte.

Aber vielleicht hätte er auch lieber die Waffe auf mich richten und abdrücken sollen. Wäre besser gewesen, dann wäre ich in alles, was danach geschehen ist, nicht mehr hineingeraten. Und nicht nur ich. Wir alle wären davongekommen, größtenteils sogar mit unserem Leben, was in der Realität, wie sie wirklich abgelaufen ist, ja nicht der Fall war. Aber jetzt ist es eh zu spät. Jetzt kann ich es nicht mehr ändern. Und vielleicht würde ich es auch gar nicht ändern. Es war schließlich perfekt, wie es war.

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