18

Die letzten Monate vergingen schnell. Vielleicht, weil die Zeit so schön war oder weil ich da noch nicht wusste, dass es die letzten waren. Er hätte wenigstens ein Wort darüber verlieren können, denn nicht einmal jetzt verstehe ich seine Motive oder kann sie auch nur im Geringsten nachvollziehen.

Ziemlich genau ein Jahr nach der Spendengala, auf der wir uns kennenlernten, lagen Jamie und ich in unserem Bett in der winzigen Wohnung. Jamies Augen waren geschlossen, da er seit geraumer Zeit – ungefähr einer halben Stunde – schlief. Ich weiß noch, was für eine große Angst ich hatte, dass er nie wieder aufwachen würde, aber damals erschien es mir im nächsten Moment wieder wie eine unbegründete Paranoia. Jamie würde doch nicht einfach einschlafen, das passte nicht zu ihm.

Jedoch musste ich feststellen, dass ich trotzdem erleichtert war, als er kaum ein paar Minuten später ruckartig hochfuhr und die Augen weit aufriss, selbst wenn das, was danach passiert ist, nicht mehr erleichternd war. Denn dann nahm er mich fest in den Arm, als könnte er mich jeden Moment verlieren, dabei war ich derjenige, der ihn verlieren würde. "Elian", wisperte Jamie schließlich erstickt und ich schaute ihn entsetzt an. Sein Gesicht war in diesem Augenblick bleich, fast kalkweiß. "Elian, ich liebe dich", flüsterte er bestimmt dreimal hintereinander. Dabei wirkte er jedoch nicht hektisch oder verwirrt, sondern dezidiert, als wüsste er ganz genau, was er wollte – und dem war mit Sicherheit auch so. Ich strich ihm sanft durch die Haare, da ich ja nicht wusste, was an diesem Abend noch passieren würde. "Und es tut mir leid, dass ich das nicht schon früher eingesehen habe", sprach er dann weiter. "Wie du weißt, bin ich ein Sturkopf und ich setze meinen verdammten Willen durch, selbst wenn es dich verletzt und ich fühle mich danach immer schlecht. Ich kann gar nicht oft genug sagen, dass ich dich liebe, ich hoffe, das weißt du, aber Elian, du musst wissen, dass ich das hier tun muss." Seine Worte überschlugen sich in seinem Mund, so hastig sprach er und ich hatte große Mühe, ihm hinterherzukommen. "Es geht nicht um mich oder um dich oder um weiß ich wen. Du musst es nur verstehen. Ich bitte dich, versteh, dass es nicht an dir liegt. Ganz sicher nicht. Ich hätte dir erzählen sollen, was passiert, sobald wir das durchgezogen haben, aber ich hatte Angst, Elian. Ich hatte eine Scheißangst. Weil ich dich nicht verlieren wollte. Und jetzt ist es zu spät. Bitte, Elian, du musst wissen, dass ich dich liebe und bei dir bin, immer. Ob du mich nun sehen kannst, oder nicht, ich bin da, hörst du?" Er umfasste meine Wangen, die von Tränen übersät waren, mit seinen großen, kalten Händen. Ich glaube, ich weinte, weil ich tief in meinem Inneren wusste, was passieren würde. Seine Lippen zitterten so stark, dass es fast aussah, als würde er das absichtlich tun, aber das konnte ich mir nicht vorstellen. "Elian", flüsterte er, seine Stimme nur noch ein raues Kratzen. Ich sah das Glitzern, als das Mondlicht sich auf gehärtetem Stahl nach allen Seiten hin spiegelte, konnte es aber nicht zuordnen. Erst als eine, mir unbekannte Pistole in meinem Sichtfeld erschien, realisierte ich, was heute Abend passieren würde und dass ich das schon geahnt hatte. Nur wusste ich nicht, wem von uns beiden es genau passieren würde.

Im Nachhinein hätte mir damals klar sein müssen, dass er diese Waffe niemals gegen mich hätte einsetzen können. Wegen diesem 'Ich liebe dich'-Kram. Aber jetzt denke ich, dass ich ihm das nicht hätte abkaufen sollen. Er liebte niemanden, sonst wäre er geblieben. Er wäre bei mir geblieben.

"Jamie, du weißt, dass du das nicht tun musst", flüsterte ich zurück, aber Jamie schüttelte sofort den Kopf und zog die Pistole mit seiner freien Hand zwischen uns, der Lauf nach oben in Richtung unserer Gesichter gerichtet. Ich wollte ihn küssen und ihm sagen, dass ich ihn liebte, aber ich war mir nicht sicher, ob er nicht doch abdrücken würde, wenn ich ihm zu nahe käme, und ob es ihm dann nicht doch egal wäre, wen von uns beiden er treffen würde.

"Elian, ich muss dich um etwas bitten, in Ordnung? Wenn ich das gleich tue, sei mir nicht böse. Vertrau mir einfach; irgendwann wird alles besser." Er drehte die Pistole in seiner Hand ein wenig und der Lauf richtete sich weder auf ihn noch auf mich, eher in eine unbestimmte Richtung. Mir hätte auffallen müssen, dass er die Hand nur ein Stück hätte anheben müssen, um die Waffe gegen meine Schläfe zu halten, aber ich war einfach wie paralysiert. Ich hatte in diesem Moment noch nicht einmal Angst um mich selbst, sondern viel mehr um sein Leben. Denn wenn er sterben würde, wäre ich derjenige, der damit weiterleben müsste. Und wenn ich starb, dann hätte ich diese Schmerzen nicht.

"Das darfst du nicht tun, Jamie", murmelte ich tränenerstickt und hatte nicht einmal mehr die Kraft dazu, mir über mein Gesicht zu wischen. Mein Atem ging stoßweise, er dagegen schien fast ruhig zu sein. In ihm muss aber ein Sturm gewütet haben, das konnte ich damals in seinen Augen erkennen. Fast gruselig, ihn so neben der Spur zu sehen.

Als Jamie dann jedoch anfing zu lachen, wusste ich, dass es jetzt endgültig vorbei war. Natürlich war es kein fröhliches Lachen, es war bitter. Und es war auch das letzte, das ich je von ihm hören würde. "Elian, hör mir jetzt bitte ganz genau zu: Schau dir dieses Ende an. Und dann nochmal alles zusammen. Wenn du es dann nicht verstehst, hast du das Ende nicht verstanden, doch wenn du es tust, dann hast du mich verstanden." Mit diesen Worten hob er den Lauf der Waffe an seine Schläfe und drückte ab. Damit beendete er das dritte Leben unter dem Namen James Keanwell. Nur, dass es diesmal sein eigenes Leben war.

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