10

Ich erinnere mich heute noch, wie wir kaum einen Tag nach dem Gespräch mit meiner Mutter, aus dem wir glimpflich davon gekommen waren, diesen typischen Du-kennst-mich-doch-gar-nicht-Streit anfingen. Nun, ich habe die Unterhaltung angefangen, auf die der Streit basierte und Jamie sprach dann die legendären Worte aus.

Danach sind wir uns ziemlich genau einundzwanzig Stunden aus dem Weg gegangen, bis ich zu ihm kam. Erst wollte er mir die Tür vor der Nase zuknallen, aber das konnte ich natürlich nicht zulassen, weshalb er mich dann doch rein ließ. Ich weiß noch, wie gequält er ausgesehen hatte, als er mich in den Arm nahm und sich für sein Fehlverhalten entschuldigte. Damals hatte es mein Herz erwärmt, doch heute spüre ich einen Stich an dieser Stelle, wo das Herz, das das Schicksal aus meiner Brust gerissen hatte, hätte sein sollen.

"Ich würde dich gern kennen lernen, Jamie. Alles an dir, egal, wie schlimm oder absurd es ist." Zwar war das so ein Standard-Satz, aber Jamie ging darauf ein und das war es nun mal, was zählte. Er zog mich in sein Schlafzimmer und wir setzten uns aufs Bett, so, wie wir es immer taten, wenn ich hier war. Normalerweise redeten wir kaum miteinander. Warum, weiß ich bis heute nicht, vielleicht hatten wir uns einfach nicht allzu viel zu sagen. Oder zumindest nichts, das nicht offensichtlich war.

"Ich mag deine Mutter", warf Jamie nach kurzer Zeit des Schweigens in den Raum. Ich sah ihn überrascht an, kommentierte das aber nicht, da ich hoffte, er würde einfach weiter reden. "Sie ist eine starke Frau. Und sie kann sich um dich kümmern, wie man sieht." Er atmete aus und zog mich an seine Brust, sodass ich ihn nicht ansehen konnte, ohne meinen Kopf zu drehen. Sein Herz schlug unregelmäßig und ich sah überrascht zu ihm auf, aber sein Blick war ins Nichts gerichtet. "Ich kann von Toten ja aber auch nicht erwarten, dass sie sich um ihre Kinder kümmern." Jamie atmete zittrig aus und die warme Luft streifte mein Ohr. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper in diesem Moment.

"Deine Mutter ist tot?", leitete ich ab. Heute wäre es mir lieber gewesen, ich hätte nicht nachgefragt. Einige Dinge sollte man nicht wissen wollen. Aber Jamies Blick damals zu urteilen, schien ihn das nicht allzu sehr mitzunehmen. Weder das, was mit seiner Mutter passiert war, noch dass ich davon wusste.

"Ich hab dich angelogen", flüsterte Jamie und legte sein Kinn auf meine Schulter. Meine Finger strichen durch sein Haar und bedeuteten ihm, weiter zu reden. "Nun, nicht wirklich angelogen. Aber ich habe dir etwas verschwiegen. Ziemlich viel sogar. Weil ich dachte, dass du das nicht ertragen könntest. Aber wenn du es nicht ertragen kannst, wie soll ich dann nicht daran kaputt gehen?" Er machte eine kurze Pause. "Theodore war nicht der erste, den ich umgebracht habe", wisperte er dann und atmete auf die nackte Haut meiner Schulter aus, die frei lag, weil er mir beiläufig mein T-Shirt ausgezogen hatte.

Leicht legte ich den Kopf zur Seite und seine Lippen küssten die Muskelstränge an meinem Hals. "Wie meinst du das?", keuchte ich kaum hörbar und seine Lippen hielten inne, um seinen Händen Platz zu machen, die über die leicht feuchte Haut strichen und mir ein weiteres Mal eine Gänsehaut bescherten.

"Gut, dann erfährst du jetzt die ganze Wahrheit." Eine kurze Pause entstand, in der Jamie seine Hände mit meinen verschränkte und meinen Kopf zu sich drehte, um mich zu küssen. "Theodore war nicht derjenige, der diese Frauen vergewaltigt hat. Das war mein Vater. Mein richtiger. Die Frau, von der ich dir erzählt habe, dass sie sich umgebracht hat, war meine Mutter. Sie war wahrscheinlich sein erstes Opfer. Und sie bekam mich. Vielleicht habe ich von meinem Vater ja diesen Drang zum Töten. Meine Mutter, damals gerade sechzehn, suchte sich Zuflucht bei einem viel älteren Mann - meinem Stiefvater. Je älter ich wurde, desto häufiger bekam ich mit, wie er sie unanständig anfasste und schlug. Sie schrie in jeder Nacht, dass es aufhören solle. Irgendwann hörten die Schreie dann tatsächlich auf und ich sah sie nie wieder. Aber ich wusste, dass mein Stiefvater sie im Garten begraben hatte, da ich ihn an meinem Fenster hab vorbeilaufen sehen, meine Mutter über seinen Schultern. In der Nacht danach habe ich mir seine Pistole - die Waffe, mit der ich Theo umgebracht habe - genommen und ihn im Schlaf erschossen. Vielleicht dachte ich, das wäre Gerechtigkeit, keine Ahnung. Er hatte das jedenfalls verdient. Theo aber auch. Er hat nämlich auch jemanden umgebracht. Na ja, er hat viele umgebracht. In die Drogensucht getrieben und dafür gesorgt, dass sie eine Überdosis intus haben. Das ist auch mit Wanda passiert."

Fragend sah ich Jamie an, aber er schüttelte nur den Kopf und drehte sich ein wenig von mir weg. Ich konnte sehen, dass seine Augen glasig wurden, aber ich wollte ihn nicht weinen sehen. Das konnte ich gar nicht.

Jedoch überspielte er die Tränen in seinen Augen, indem er weiter redete. "Wanda hatte sowieso schon ein schreckliches Schicksal. Ihr Bruder war blind, ihr Vater tot. Ihre Mutter kaum für irgendetwas zu gebrauchen, nicht mehr. Wanda wurde abhängig, als ihr Bruder sich umgebracht hat, warum er das getan hat, weiß man nicht. Theodore war ihr Dealer und fütterte sie an, gab ihr immer ein bisschen mehr. Und dann war es vorbei mit ihr. Auf diese Art ruinierte er viele Leben. Das konnte ich nicht weiter mit ansehen. Ich hoffe, du verstehst das." Jetzt rann eine Träne über seine Wange und fast hätte ich auch angefangen, zu weinen.

"Natürlich verstehe ich das, Jamie. Du hast das Richtige getan. Vielleicht würde nicht jeder so handeln, aber die anderen sind ja auch Idioten. Und Jamie: Du bist ganz sicher kein Monster, hörst du? Du bist kein Monster."

Wenn ich da nicht Unrecht hatte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top