Kapitel 96 - Weihnachten 2010 / 2

Am nächsten Morgen, der erst gegen Mittag begann, saßen sich vier junge Leute mit ganz kleinen Augen gegenüber.
„Schlecht geschlafen?" fragte Stefano süffisant.
„Aber gut geliebt!" antwortete Felix grinsend.
Laura verschluckte sich an einem Schluck Kaffee. So offene Reden war sie noch nicht gewohnt!
Maja grinste sie an. „Er ist frech!" sagte sie nur und deutete auf ihren Traummann.
„Pf!" machte Felix bloß und schmuste sie nieder. Er konnte noch viel frecher sein! Sie sollte ihn nur nicht herausfordern.

Stefano konnte es ihm schon gleichtun, so war es ja auch wieder nicht! Wer war denn da der heißblütige Italiener? Er schnappte sich seine schöne Frau, die sich nur ein bisschen zierte. So öffentlich Rumschmusen war sie nicht gewohnt, aber sie fügte sich schnell. Er küsste aber auch so gut, ihr Stefano. Wobei sie natürlich nicht wusste, dass er das von der blonden Deutschen gelernt hatte! Musste sie ja auch nicht wissen!

Schweratmend trennten sich die Paare und frühstückten weiter. Felix hatte wieder einmal einen gesegneten Appetit, was nach dieser Nacht auch kein Wunder war. Sie hatten ordentlich Weihnachten gefeiert, sein blonder Engel und er. Oh! Oh! Das war eine wilde und teilweise sehr unheilige Nacht gewesen!

Sie hatte ganz schön Gas gegeben, die Süße! Hatte ihn fast an die Grenzen des Erträglichen gebracht mit ihrem Muskelspiel, ihren Händen, ihren Lippen!
Aber er war auch nicht sparsam mit dem Aufheizen gewesen, war ihr nichts schuldig geblieben!

Er wurde schon wieder hart bei den Gedanken an die Lust, die sich bereitet hatten. Es schien keine natürliche Grenze für ihn als Mann zu geben bei ihr.
Das war früher schon anders gewesen! Bei den Frauen, die bezahlt hatten, musste er beim dritten Mal im Laufe einer langen Nacht schon oft sehr schmutzige Gedanken aus seinem Gedächtnis kramen!

Und wenn er freiwillig eine Nacht mit einem Mädchen verbracht hatte, war dreimal schon eher die Ausnahme! Mehr erwartete auch selten eine, wenn es gut war, hatte das gereicht.
Wie war er denn jetzt auf diese Gedanken gekommen? Er schüttelte den Kopf! Ach ja! Obergrenze!

„Warum schmunzelst du denn so vor dich hin?" fragte ihn Maja. Er hatte zu essen aufgehört, sah ins Nichts.
Er grinste sie an, antwortete auf Deutsch: „Das sage ich dir später! Da fällt unsere Laura in Ohnmacht!"

Maja lachte leise vor sich hin. Was er wohl schon wieder für schmutzige Gedanken hatte?

Nach dem Frühstück gingen sie ein wenig spazieren. Laura und Stefano wollten durch den Schnee laufen. Sie bauten einen Schneemann, den ersten für die Italiener. Dann machten sie eine Schneeballschlacht, lachten sich kringelig, wenn sie einen Treffer landeten, rieben sich mit Schnee ein, tobten wie die Kinder.
Mit hochroten Gesichtern saßen sie bei Kaffee und Plätzchen, glücklich und zufrieden und mittlerweile auch ganz wach.

Felix erzählte von ihren Plänen von der zweiten Sozialstation, die Gäste brachten den Mund kaum zu. Sie hatten keine Ahnung, was für gute Menschen die beiden waren. Von den Schulen auf der Insel hatten sie gehört, aber was sie hier alles auf die Beine stellten, das war ja der Wahnsinn!

Sie fuhren zur Baustelle der ersten Station, Felix' Vater hatte Dienst, führte sie überall herum, sichtlich stolz auf seinen Sohn und seine Schwiegertochter.
In drei Monaten sollte Einweihung sein. Er hatte schon mit drei Münchner Kollegen Arbeitsverträge geschlossen, die aus dem stressigen Klinikalltag heraus wollten.
Auch ein Therapeut für die Suchtkranken war schon gefunden. Maja übersetzte Tims Ausführungen.

Dann kamen noch Saskia und Tobias, die an den Feiertagen ehrenamtlich mitarbeiteten und sich um Bewohner kümmerten, die keine Angehörigen hatten, was bei den meisten zutraf. Sie hatten gekocht und brachten ein kräftiges Abendessen vorbei.

Felix erzählte von den Weihnachtsfesten, an denen seine Mutter ihn ständig in irgendwelche Obdachlosenunterkünfte oder Bordelle geschleppt hatte, um dort Gutes zu tun oder wenn sie die Wohnung voll hatten mit Gestrandeten.
Tim hörte mit Tränen in den Augen zu. Er hätte diese Sonja gerne gekannt zu dieser Zeit, sie und seinen Sohn! Aber dann gäbe es ja seine anderen drei Kinder nicht!
Alles hatte wohl so kommen müssen, wie es gekommen war.

„Euer Leben war ja wie ein Roman!" stellte Laura fest, die fasziniert zugehört hatte.

Felix nahm sie in den Arm. „Das ist es noch immer!"

Sie aßen zusammen mit denen, die zur Zeit in den Gebäuden der Station untergebracht waren. Später kam auch noch Isabel mit zwei Körben voll mit Geschenken.

Sie war vor der Zeit mit Tim nicht sonderlich sozial eingestellt gewesen, hatte oft auch ein wenig herabgesehen auf die, die es zu nichts gebracht hatten, die sie sooft im Gerichtssaal traf. Aber der Arzt und seine Familie hatten ihr die Augen geöffnet, ließen sie Menschen und Schicksale sehen, wo früher nur Gesetzesbrecher gewesen waren.
Als dann auch noch Patty und Kilian dazu stießen, war die Familie komplett, ohne sich abgesprochen zu haben.

Felix und Maja bummelten noch ein wenig mit dem Besuch durch die weihnachtlich geschmückte, verschneite Stadt. Sie tranken ein Glas Wein in einer Kneipe, fuhren dann nach Hause.
„Könnt ihr eigentlich kniffeln?" fragte Maja.
Sie erklärten den Italienern die Spielregeln und hatten noch eine Menge Spaß.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Sie fuhren in den Bayerischen Wald, ins nähere Umland oder blieben einfach zu Hause.
Laura fotografierte viel, um Motive für Bilder zu sammeln. Winterbilder aus Deutschland kämen bei ihren Landsleuten sicher gut an.

Fast jeden Abend kochte Laura für sie typisch Italienisch. Plötzlich machte es ihr Spaß. Die Anerkennung als Malerin hatte ihr Selbstvertrauen so gestärkt, dass sie auch auf ihre Fähigkeiten als Köchin stolz war, weil sie sich nicht nur auf den Herd reduziert sah.

Bei der ersten selbstgemachten Pasta sah Felix Maja traurig an. „Bienchen, du musst dich leider damit abfinden, dass ich mir eine Zweitfrau zulege!" erklärte er.
Stefano knuffte ihn ordentlich. „Und du glaubst, ich lasse mir noch einen Frau von dir ausspannen?"

Alle lachten herzlich, es war kein Rest von Schmerz mehr vorhanden.

Laura schrieb den beiden ein paar sizilianische Rezepte auf, mit ausreichenden Kusspausen.

An einem Nachmittag fuhr Stefano mit Laura alleine in die Stadt. Maja lieh ihm ihren Flitzer.
In einem Geschäft für Malereibedarf kaufte er seiner Künstlerin Berge von neuen Farben und gute Blöcke. „Willst du nicht mal Öl probieren?" fragte er. „Oder Acryl?"
„Schon, aber die Farben sind teuer!" gab sie zu bedenken.

„Wir nehmen mal ein paar mit, und du versuchst, ob dir das Spaß macht!" schlug er vor.

Laura war überglücklich, dass er sie so ernst nahm. Sie hatte sich ihm schon immer ein wenig unterlegen gefühlt, hatte das Gefühl gehabt, dankbar für seine Liebe sein zu müssen. Doch seit Maja und Felix bei ihnen gewesen waren, hatte sie sich total verändert, und sie merkte, dass ihm das gefiel.

Sie hatte so viele Bilder verkauft in diesen Tagen, dass die Kosten für die Flüge locker hereingekommen waren. Sie müssten nicht mehr so auf jeden Cent achten, das war ihr Verdienst, und es gefiel ihr unheimlich.

Silvester wollten die jungen Leute alle zusammen in der Stadt verbringen. Sie trafen sich um acht in der Wohnung, die nun Tims war. Er und Isabel wollten zu Hause bleiben.

Sie gingen erst zum Essen, Felix hatte einen Tisch bestellt in dem Nobelschuppen, in den er mittlerweile mit seinem Bienchen ganz unbeschwert gehen konnte, ohne Altlasten.
Danach schauten sie im Club vorbei, aber es war nichts los, alle waren auf den Straßen unterwegs.

Also blieben sie auch bei den Feiernden draußen. Laura und Stefano hatten sie mit dicken Jacken ausgestattet, die Sizilianer froren leicht im winterlichen Deutschland. Sie tanzten zu Musik, die aus irgendwelchen Anlagen auf allen Plätzen kam, sie tranken Glühwein, aßen sich durch alle Imbissbuden, kauften sich in den Lokalen Wein und Sekt, aber in Maßen.

Um Mitternacht bewunderten sie das Feuerwerk, danach trugen Maja und Felix ihre Füße automatisch zur kleinen Bar. Es gab ein großes Hallo, sie waren immer wieder unterm Jahr hier gewesen. Das Preisgeld hatte Maja im März der Barfrau gegeben, sie sollte es verteilen, sie wusste am ehesten, wer es am dringendsten nötig hatte.

Sie hatten nie darüber gesprochen, doch dankbare Blicke hatten ihnen beim nächsten Besuch gesagt, dass die Geste angekommen war.
„So viele hübsche Männer hast du uns heute mitgebracht, Engelchen!" freute sich die Barfrau.

„Ja, ihr sollt auch mal was fürs Auge haben! Aber nur ansehen!" scherzte Maja. Sie passten gerade mal so in das kleine Lokal, es war eine liebevolle Stimmung unter allen. Es wurde viel gelacht, die Herren flirteten gentlemanlike mit den Mädchen, die Damen himmelten die Jungs an.

Zwei Stunden und zwei Cocktails später zogen die Freunde noch einmal zum Club weiter. Mittlerweile hatte sich das Partyvolk eingefunden. Alle wurden herzlich begrüßt, Laura fühlte sich wunderbar, sie war noch nicht oft in so einer Diskothek gewesen.
Maja sah, wie sie strahlte und dachte an den Abend damals im Sommer, als sie sich mit den vier Freunden verabredet hatte, um ihr neues Leben zu beginnen, als sie zum ersten Mal hier gewesen war, als sie bewundernde Blicke auf sich gespürt hatte, aber auch eine solche Trauer in ihrem Herzen, bis Felix sie von hinten in den Arm nahm. Da war sie angekommen! Zumindest für ein paar Monate.

Auch Felix erinnerte sich, wie er zuerst flüchten wollte, als er die vier Jungs entdeckt hatte, dann aber beschloss zu kämpfen. Dabei hatte es gar keinen Kampf gebraucht, nur eine Umarmung, und sein Herz war heil gewesen! Für eine gewisse Zeit wenigstens! Bevor es fast ganz zerbrochen wäre!

Sie feierten bis vier Uhr, dann ließen sie sich mit Taxis nach Hause fahren.


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