Kapitel 58 - Die Katastrophe 4


Eine Woche nach dem Unfall begann Felix mit der Reha, er musste wieder laufen lernen, Muskeln in den Beinen aufbauen. Er hatte starke Schmerzen, biss sich aber durch.
Er hatte eine Physiotherapeutin engagiert, die sich um Maja kümmerte, ihre Beine und Arme bewegte, damit ihre Muskeln nicht verkümmerten.

Der Tubus konnte entfernt werden, ihre Atmung war stabil, ihr EKG zeigte einen kräftigen Herzschlag, aber sie wachte nicht auf.
Felix gab nicht auf. Mehrere Stunden am Tag redete er auf sie ein, küsste sie, streichelte ihr Gesicht, wusch sie vorsichtig, wechselte die Windeln mit tränenüberströmtem Gesicht, weil er wusste, dass sie vor Scham sterben würde, wenn sie das merkte.
Aber es machte ihm nichts aus, es war ihm lieber, er tat es als ein Fremder.

„Also, Bienchen! Wenn du heute aufwachst, darfst du einen Tag lang singen, und ich werde nicht einmal das Gesicht verziehen!" Sie lächelte ganz deutlich.

„Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass wir pleite sind? Du musst dringend ein neues Buch schreiben und nicht nur faul im Bett rumliegen!" Sie krauste die Stirne.

„Mensch, Bienchen! Heute hatte ich eine heiße Therapeutin!" Ihre Lider flatterten.
Er versuchte alles, wandte alle Tricks an, zog alle Register. Er wusste, sie würde wieder aufwachen, er war sicher, sie würde wieder zu ihm zurückkommen.

Sie sah entzückend aus, er verliebte sich jeden Tag neu in sie. Die Blutergüsse waren verschwunden, ihr schönes Gesicht hatte wieder Farbe, war nicht mehr so bleich. Der Kopfverband war abgenommen worden, die Wunde war verheilt. Sie hatten ihr zwar die lange Mähne abschneiden müssen, niemand konnte solche Haare bei einer Komapatientin pflegen. Aber die struppeligen Haare sahen einfach süß aus!
Sie lag vor ihm wie ein goldiger Kobold, aber eben ein Kobold, der partout nicht aufwachen wollte!

Nach vier Wochen konnte er wieder schmerzfrei gehen, seine Therapie war eigentlich zu Ende. Aber niemand wollte die beiden trennen.
„Ich kann selbst bezahlen für meinen Aufenthalt hier!" erklärte er den Ärzten.
„Das wissen wir schon, aber Sie gehören zum Behandlungsplan von Frau von Calsow!" erhielt er als Antwort.
Nach fünf Wochen verlor er fast den Mut und auch ein bisschen die Geduld.
„Maja! Mach doch die Augen auf! Schau mich an! Drück meine Hand! Du schläfst jetzt seit fünf Wochen! Es ist Sommer! Da macht man doch keinen Winterschlaf!"

Sein barscher Ton schien sie zu erreichen.

Fünf Wochen? dachte Maja. Der spinnt doch, mein hübscher Felix! Ich schlafe doch nicht seit fünf Wochen! So lange schläft doch kein Mensch!

„Maja, hörst du nicht? Du musst aufwachen! Ich will mit dir leben! Ich will nicht nur an deinem Bett sitzen und dich vollquatschen! Ich will in deine blauen Augen sehen! Ich will mit dir sprechen, durchs Leben tanzen, dich küssen, dich in den Arm nehmen! Ich will dich lieben, dich spüren! Ich will deine Lippen fühlen, deine Haut! Ich will dich zurück, Bienchen! Ganz und gar zurück!"

Und seine flehenden Worte durchdrangen das Grau, in dem sie lebte. In dem sie hörte und fühlte. In dem sie glücklich und zufrieden war, gewesen war! Bis jetzt!
Aber ihr geliebter Felix war traurig, wenn sie in dem Grau blieb! Er wollte das nicht! Und sie wollte es jetzt auch nicht mehr.
Da war doch etwas anderes gewesen, früher, etwas, das sie glücklich gemacht hatte, etwas außerhalb des Graus?

Sie musste nur die Augen aufmachen, dann würde sie sehen, was das war! Dann würde sie sich erinnern! Dann würde Felix wieder glücklich sein!
Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und versuchte, die Augen zu öffnen.
Mein Gott! Wie lächerlich schwer das war!
Schließlich gelang es ihr bei einem.
Doch das genügte, ihren hübschen Felix zu sehen, richtig zu sehen, nicht nur in ihrem Kopf!

Er sah sie fassungslos an. „Bienchen!" rief er. „Bist du endlich aufgewacht!" Er bedeckte ihr Gesicht mit tausend Küssen.
Das gefiel ihr so gut, dass sie auch das zweite Auge aufbekam.
Die ganze Station kam angelaufen und applaudierte.
Ja, wenn ich das gewusst hätte, dass ihr euch alle so freut, hätte ich schon lange die Augen aufgemacht! dachte sie.

Von da an ging es schnell aufwärts. Ihre Wachphasen wurden immer länger. Sie sah ihn an, ihre Augen waren klar, und ihr Blick war liebevoll. Sie konnte sich nicht sattsehen an dem hübschen Kerl an ihrem Bett.

Langsam lernte sie wieder zu sprechen.
Erst einzelne geflüsterte Worte, dann Sätze, dann wurde ihre Stimme fester. Sechs Wochen nach dem Unfall konnte sie für ein paar Minuten das Bett verlassen.
Die Therapeutin arbeitete täglich zwei Stunden mit ihr.

Bald konnte sie mit Begleitung ins Bad. Sie bemerkte die Windel. Bittere Tränen schossen in ihre Augen.
Aber weder sie noch er verloren je ein Wort darüber.

Als sie sich zum ersten Mal im Spiegel sah, stutzte sie. „Wer hat meine Haare geklaut?" fragte sie entsetzt.

Felix erklärte ihr den Grund, warum man so rabiat hatte vorgehen müssen.
„Aber den Starfigaro haben sie wohl nicht bestellt!" scherzte sie, und er merkte überglücklich, dass sein Bienchen wieder ganz und gar da war.
„Morgen lasse ich ihn von New York einfliegen!" versprach er und lächelte sie mit feuchten Augen an.
Am nächsten Tag kam der Krankenhausfriseur und machte aus dem Nothaarschnitt eine Frisur.
Sie sah zum Anbeißen aus, lächelte glücklich, als er es ihr sagte.

Dann konnte sie die Intensivstation verlassen, bezog mit Felix zusammen ein normales Krankenzimmer.

Langsam konnte sie feste Nahrung zu sich nehmen, stundenweise das Bett verlassen. Felix wich nicht von ihrer Seite, dankte Gott tausend Mal am Tag, dass er sie wieder einmal zurückbekommen hatte.
Fra Sebastiano kam wöchentlich vorbei, er war es auch, der sie über den Tod ihrer Eltern und Sonjas informierte.
Felix hatte Panik, dass sie einen Rückfall erleiden könnte, aber sie war schon sehr gefestigt, weinte lange, brach aber nicht zusammen. An den Unfall hatte sie keine Erinnerung.

„Wer macht denn so etwas, Felix? Warum hat uns jemand das angetan?"
Sie grübelte, sprach mit ihm darüber, immer wieder! Aber er erwähnte Larissa nicht.

Ihren 29. Geburtstag feierten sie in der Cafeteria des Krankenhauses. Die Freunde mit ihren Mädchen waren gekommen, Patienten und Personal brachten Glückwünsche und kleine, liebvolle Geschenke, ununterbrochen trafen Genesungswünsche von der ganzen Insel ein.
Joana und Juan kamen mit einer riesigen Torte. Auch sie hatten viele Tränen vergossen in den letzten Wochen, hatte in der Kirche unzählige Kerzen angezündet.
Zu seinem 31. Geburtstag konnte sie das Krankenhaus verlassen, sie feierten in der Villa ein ruhiges Fest. Joana kochte, überglücklich, dass Maja und Felix wieder gesund waren.
Am Abend saßen sie zu zehnt in der Bucht am Lagerfeuer, Maja war wieder fast die Alte. Sie wurde manchmal ein wenig schnell müde, aber ihre Intelligenz, ihr Humor und ihre positive Grundeinstellung waren unbeschadet.

Immer wieder sah sie die Blicke der Freunde auf sich, die sie ungläubig anstrahlten, und sie wusste, alle hatten sehr große Angst um sie gehabt.
Kai sprach es dann auch aus.
„Maja, du weißt schon, dass es uns das Herz aus dem Leib gerissen hätte, wenn dir etwas noch Schlimmeres passiert wäre?"

Er hatte in der Zeit, als sie im Koma lag, unter schweren Albträumen gelitten. Er liebte dieses zauberhafte Wesen ganz einfach, nicht mehr als Frau, aber als seine innigste Freundin. Nie hatte er gedacht, dass ein Mann und ein schönes Mädchen so befreundet sein könnten, aber sie war in den letzten Jahren einfach ein Teil von ihm geworden.
Susanna verstand das vollkommen, quälte sich mit keinem Hauch von Eifersucht. Sie mochte Maja auch sehr gerne. Jeder Mensch, der sie kennenlernen durfte, liebte sie!
„Aber jetzt reicht es dann mit Verschwinden und Trennung und Schlafen, oder? Jetzt führen wir mal ein paar Jahre lang ein ganz normales Leben, ja?"

„Ja!" versprach Maja und hoffte von ganzem Herzen, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Felix drückte sie an sich. Ja, ab jetzt würden sie versuchen, ein normales Leben zu führen, ohne Schmerzen, ohne Katastrophen, einfach als Liebespaar mit sehr guten Freunden.

In dieser Nacht schmiegte sie sich an Felix.
„Liebe mich! Bitte, ich will mit dir schlafen!" flehte sie.
Er hatte ein umgekehrtes Deja-vus.
„Ja!" flüsterte er. „Ja, natürlich!"
Und er liebte sie vorsichtig und zärtlich. Nie waren sie dem Himmel so nah gewesen.
Sie hatten sich so nacheinander gesehnt in den letzten Tagen, dass es körperlich geschmerzt hatte.
Doch mehr als sich zu küssen und ein wenig zu berühren hatten sie nicht gewagt.

Umso hungriger waren sie heute Nacht gewesen, umso mehr hatten sie es genossen, sich zu fühlen. Und die sanfte Liebe war wunderschön gewesen!

Sie räkelte sich wohlig neben ihm, und nichts auf der Welt hätte ihn glücklicher machen können.

Er hielt sie die ganze Nacht im Arm, schlief kaum, schluckte an seinen Tränen, dankte allen Mächten der Welt.

Am Morgen presste sie sich an ihn, wollte unbedingt mehr Liebe, mehr Zärtlichkeit, doch er zog sich von ihr zurück. Der Arzt hatte zwar grünes Licht für alles gegeben, sie sei vollständig wiederhergestellt, aber Felix hatte immer noch Panik, sie wieder an das Koma zu verlieren.
So sehr er sie auch begehrte, er musste sich zusammenreißen! Er musste genug Beherrschung für beide haben. Er erklärte ihr seine Bedenken, sie verstand, nahm sich vor, ihn nicht zu sehr herauszufordern.
Er sollte sich nicht als Schuft fühlen wegen ihr!

Irgendwann einmal würden sie beide alles vergessen können und wieder einmal von vorne anfangen können.
Sie lebten - das war das Wichtigste!
Sie hatten dieses schreckliche Unglück, von dem ihr Felix erzählt hatte, überstanden, das war ein Wunder.
Ihre Eltern waren tot, das war fürchterlich, sie dachte oft daran.
Wer wohl so etwas Schlimmes gemacht hatte? Und warum? Und warum gerade sie?
Felix wusste nicht, warum er ihr nichts von Larissa erzählt hatte, und warum auch die Freunde diese Tatsache ihr gegenüber verschwiegen hatten.

Zu Hause, ja zu Hause würde er ihr alles sagen, nahm er sich vor.

Zwei Wochen später flogen sie heim.

Larissa

Larissa wusste, sie musste schnell weg. Sie würden ihr bald auf die Spur kommen, sie hatte sehr ungeplant gehandelt!

Sie hob so viel Geld wie möglich bei verschiedenen Banken ab, packte ein Paar Klamotten ein, fuhr mit dem Bus in die Stadt, kaufte sich ein Bahnticket an einem Automaten und fuhr in Richtung Norden. In Dänemark besorgte sie sich ein Prepaid- Smartphone und ein altes Auto auf einem Straßenmarkt gegen cash.

Sie fuhr nach Schweden, kaufte sich ein altes Holzhaus, ein paar Möbel und jede Menge Alkohol, so teuer der da auch war. Sie forschte im Internet, ob etwas über den Unfall berichtet wurde.

Bald stieß sie auf die ersten Meldungen.
Verdammt! Sie hatten überlebt. Der Bastard und seine Hure hatten überlebt!

Dass es die Eltern erwischt hatte, war nicht geplant gewesen, aber unvermeidlich, eben dumm gelaufen!

Dann musste sie eben nochmal ran! Aber erst wollte sie Gras über die Sache wachsen lassen. Sie würden sie suchen, sie würden sie jagen!
Sie! Sie war doch das Opfer, das Opfer der Nutte, die alles hatte!
Die Hure hatte Felix gebucht, und der Trottel war bei ihr geblieben! Sie selbst hatte ihn zehn Jahre lang bezahlt, und nie hatte er es eine Minute länger als nötig bei ihr ausgehalten!

Zehn Jahre lang hatte sie ihn bezahlt, hatte sie von ihm geträumt, war sie ihm nachgelaufen. Doch je mehr Zeit verging, desto lustloser war er zu ihr gekommen. Am Ende hatte er sie behandelt wie ein lästiges Insekt!
Dann war Toni gekommen, der sie Felix vergessen ließ. Doch die Vergangenheit hatte ihr das Leben mit ihm kaputt gemacht!

Sie trank zwei Tage lang durch, versuchte die Bilder der toten älteren Menschen aus dem Kopf zu bekommen, die sie in ihren Träumen heimsuchten.
Am Tag hatte sie tausend Ausreden, dass sie nichts für deren Tod konnte, aber der Schlaf machte sie argumentationslos!

Immer öfter dachte sie an ihre Eltern und ihren Bruder. Sie hatte die drei ihrem Hass auf Felix und Maja geopfert. Aber geliebt hatten die sie sowieso nicht, Mitleid war alles gewesen, was sie in ihrer Familie erlebt hatte.

Oliver hatte sich ihrer geschämt, hatte sie nie mitgenommen, wenn er mit seinen Freunden um die Häuser gezogen war. Sie war nur gut dafür gewesen, seine Hausaufgaben und Seminararbeiten zu schreiben.

Er hatte seinen Abschluss gerade so geschafft, sie hatte Bestnoten gehabt. Er war ein fauler Weiberheld, aber er wurde geliebt!

Sie schleppte sich zu ihrem Wagen, um ein paar Lebensmittel zu besorgen.


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