Kapitel 33 - Veränderungen / 1

Maja


Maja hatte schlecht geschlafen. Die Erinnerungen hatten sie lange wachgehalten.
Die Erinnerungen, die immer wieder hochkamen, die den Panzer um ihre Seele durchbrachen.

 In ein paar Wochen würde sie Stefano heiraten. Sie konnte sich jetzt nicht plötzlich wieder an Felix, den Bastard erinnern! Oder sich gar nach ihm sehnen!
Wer war sie denn? Sein Spielball? Seine Leibeigene?
Verdammt, warum kamen ihre Eltern? Warum mischten sie sich plötzlich ein? Was hatten sie für ein Interesse daran, ihre Wunden aufzureißen?

Um zehn Uhr klopfte es an ihrer Türe. Als sie öffnete, standen sie davor. Maja freute sich so sehr, sie endlich wieder in die Arme schließen zu können. Sie hatten telefoniert und geskypt, aber seit fast einem Jahr hatten sie sich nicht mehr umarmt.

Sie sahen müde aus, erschöpft! Maja bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hätte sie mal besuchen sollen. Es war nicht richtig, sich so komplett zurückzuziehen. Aber es war ihr als einzige Möglichkeit erschienen, um überleben zu können!
„Wie geht es euch denn?" fragte sie liebevoll, streichelte ihrer geliebten Mama übers Gesicht.
„Es geht schon!" antwortete die. „Es ist viel passiert!" Tränen standen in ihren Augen.

Majas schlechtes Gewissen verstärkte sich.
„Bei euch? Aber ihr habt nie irgendwas gesagt!"
„Nein, nein, Kleine!" beruhigte sie ihr Vater. „Bei Felix! Er ist im Gefängnis, seit ein paar Monaten!" Er musste ihr das jetzt sagen, bevor sie ihnen wieder verbot, von ihm zu sprechen.

„Was? Warum?" Sie hatte vergessen, dass Felix sie nicht mehr interessierte! Dass sie fertig mit ihm war. Dass sie ihn hasste. Dass sie Stefano heiraten würde. Ihr Herz raste wie verrückt.
„Er hat Larissa zusammengeschlagen!" erzählte ihre Mutter.
„Larissa?" Die Frau, die er aus welchen Gründen auch immer liebte, begehrte, vermisst hatte? Zusammengeschlagen?

Und irgendwo in ihren Gehirnwindungen meldete sich ein ganz kleiner Verdacht, dass sie etwas falsch verstanden haben könnte. Dass irgendetwas sehr, sehr schief gelaufen war.
Durch ihre Schuld?

Ihr Vater gab ihr einen dicken Stapel Briefe. „Lies die! Wir legen uns ein wenig hin." Er schob seine Frau zur Türe hinaus.
Maja blieb allein zurück. Sie sah die Umschläge an. Es mussten weit über hundert sein. 

Sie waren durchnummeriert und auf jedem stand: Für Maja von Felix.
Tränen liefen über ihre Wangen, bevor sie auch nur einen geöffnet hatte.
Warum hatte er ihr so viele Briefe geschrieben?
Warum hatte er Larissa zusammengeschlagen?
Warum waren ihre Eltern so plötzlich gekommen, um ihr diese Briefe zu bringen?

Sie öffnete den Umschlag mit der Nummer eins und begann zu lesen.

Geliebtes Bienchen,
ich habe wenig Hoffnung, dass du diese Zeilen je lesen wirst. Wenn sie dich erreichen sollten, wirst du sie wohl zerreißen, wie du meine flehenden Nachrichten auf deiner Mailbox wahrscheinlich immer gelöscht hast.
Aber die ganz winzige Hoffnung bleibt mir noch immer, dass du mir irgendwann einmal die Chance gibst, alles zu erklären. Vielleicht bald, vielleicht in zehn Jahren!
Zuerst möchte ich dir erzählen, was damals wirklich geschehen ist, wie der verdammte Film entstanden ist.

Larissa hat mich erpresst. Sie wollte öffentlich machen, dass du Anja Kalkov bist, dass der Mann der berühmten Schriftstellerin im Bett einer Prostituierten gestorben ist, dass sie heute mit einem ehemaligen Call-Boy zusammenlebt. Ich sollte mich wieder mit ihr treffen, damit sie schweigt.

Ich war total in Panik, konnte nicht normal denken, wollte dich unbedingt schützen! Deshalb bin ich mit ihr mitgefahren. Doch es ist nichts passiert, ich konnte nicht. Ich hatte dir ja versprochen, dass ich nie wieder mit einer anderen Frau schlafen würde.

Deshalb habe ich ihr klargemacht, dass sie uns nichts anhaben könnte und bin gegangen. Doch sie hatte mein erfolgloses Bemühen gefilmt, so zurecht schneiden lassen, dass es eben so aussah wie es aussah. Zu diesen verdammten Worten hatte sie mich aufgefordert, ich habe sie gesagt, damit sie Ruhe gibt.

Mein unverzeihlicher Fehler war, dass ich nicht mit dir darüber gesprochen habe. Heute weiß ich das, damals war es mir nicht wichtig genug, um dich zu beunruhigen. Für mich war das Thema ein für alle Mal ausgestanden!

Als du dann weg warst, habe ich dich den ganzen Tag in der Stadt gesucht. Als ich am absoluten Ende meiner Kraft war, bin ich zu ihr und habe ihr zwei Faustschläge versetzt.
Dafür wurde ich zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. An unserem Jahrestag, welche Ironie des Schicksals, dem 13. Juni, habe ich meine Haft angetreten.
Heute habe ich mir mein erstes blaues Auge eingefangen, nachdem ich mich eine Woche nur in der Zelle gewaschen hatte, mich aber der Wärter nun gezwungen hat, in die Duschräume zu gehen.

Doch ich hoffe, es war mein letztes Veilchen, weil ein Riese mir seinen Schutz angeboten hat für die Zahlung von 2000 Euro im Monat.

Ich arbeite in der Küche, ein todlangweiliger Job, aber da kann ich wenigstens in Ruhe an dich denken. Jeden Tag erinnere ich mich an einen Tag mit dir, so kann ich die Zeit einigermaßen aushalten.

Heute war ich mit dir in Malcesine, es war wunderbar! Ich bin so froh, dass ich wenigstens diese Erinnerungen habe.
Ich liebe dich unsäglich, Bienchen! Aber ich weiß, ich habe es vergeigt! Ich habe dich verloren, weil ich nicht so offen zu dir war, wie ich es hätte sein müssen. Weil ich überheblich und leichtsinnig mein Glück aufs Spiel gesetzt habe. Weil ich dieses Spiel verloren habe und, anders als beim Kniffeln, keine Revanche von dir bekomme.
Ich liebe dich, Bienchen, und daran wird sich nie etwas ändern!
Felix.

Maja war in Tränen aufgelöst, als sie den Brief gelesen hatte. Wellige Flecken auf dem Papier zeigten, dass auch er geweint hatte, als er ihn schrieb, vor vier Monaten!
Sie öffnete den nächsten Umschlag, wischte sich die Augen trocken, damit sie überhaupt etwas lesen konnte.

Sie las den ganzen Tag. Jeder Brief begann mit „Geliebtes Bienchen" und endete mit „Ich liebe dich, Bienchen, und daran wird sich nie etwas ändern!"
Ihre Mutter brachte ihr ein paar belegte Brote und eine Flasche Wasser. Sie sah die in Tränen aufgelöste Tochter eine Weile an.
„Verstehst du jetzt, warum wir kommen mussten?" fragte sie leise.

Maja nickte nur, konnte nicht sprechen, konnte die Lektüre nicht unterbrechen.
Seine Stimmung besserte sich, er wurde zuversichtlicher, nachdem der Computerraum so gut angenommen wurde. Er erzählte von seinen Erinnerungen an die wunderschönen Tage, wie sie ihm über die langen Nächte hinweghalfen.

Er berichtete von seinen Ängsten, dass sie sich neu verliebt haben könnte, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben geben könnte.
Er erklärte aber auch, dass er es verstehen könnte, dass er es sogar vergessen könnte, wenn sie wieder zu ihm zurückkäme. Dass er immer noch ein wenig hoffte, dass sie verstand, dass es eine Liebe wie die von ihnen beiden nur einmal im Leben geben konnte. Bei diesem Satz war es um sie geschehen, sie konnte nicht mehr.

Die Hälfte der Briefe war noch ungelesen, doch plötzlich bekam sie Panik. Sie hatte Angst, sie würde gegen Ende lesen, dass er über sie weggekommen sei, dass er die Liebe überwunden hatte, dass er ohne sie weiter leben konnte.

Sie musste zu ihm, so schnell, wie sie damals weg von ihm gemusst hatte. Damals, als sie ihm keine Chance gelassen hatte, damals, als sie zutiefst verletzt war und nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet hatte, es könnte alles ganz anders sein. 

Damals, als sie eigensinnig ihr Glück zerschlagen hatte.
Ihre Eltern hatten versucht, Andeutungen zu machen, sie hatte alle ignoriert.
Sie hätte nur einmal mit ihm sprechen müssen, ein einziges Mal, und alles wäre gut geworden.
Sie packte die Briefe ein, nahm ihre Handtasche, alles andere ließ sie zurück.
An Stefano dachte sie nicht ein einziges Mal.

Stefano

Stefano war etwas verwundert, als sie die Verabredung abgesagt hatte. Sie hätte Kopfschmerzen, aber sie hatte nie Kopfschmerzen! Sie hatte verwirrt geklungen, traurig!
Doch er hatte sie nicht bedrängt.

Am nächsten Vormittag hatte er gehofft, sie käme zu ihm in die Schule, wie sie es oft gemacht hatte, um mit den Kindern zu lernen, ein wenig zu spielen, um mit ihm während der Pause eine wenig rumzumachen, um mit ihm nach dem Unterricht zum Mittagessen zu gehen.

Immer wieder sah er durch das Fenster auf den Hof, aber sie tauchte nicht auf.
Am Abend ging er zu ihr ins Hotel.
Hoffentlich war sie nicht krank geworden! dachte er besorgt.
Er klopfte ein paar Mal an die Türe, sie antwortete nicht, er drückte die Klinke, es war offen, er ging hinein, rief nach ihr. Ihre Sachen waren noch alle da, das Bett war ungemacht.

Da kam eine ältere Frau ins Zimmer. „Hallo, ich bin Majas Mutter!" stellte sie sich auf Italienisch vor.
Stefano wunderte sich. Sie hatte gar nicht erzählt, dass ihre Eltern kommen würden. Aber vielleicht blieben sie bis zur Hochzeit gleich hier! Er umarmte seine zukünftige Schwiegermutter strahlend.
„Hallo! Ich bin bald dein Schwiegersohn!" erklärte er lachend.
Sie sah ihn traurig an. „Maja ist weg!" sagte sie leise. „Sie ist nach Hause gefahren! Zu Felix!"

In diesem Augenblick brach Stefanos Welt zusammen. Das Blut rauschte in seinem Kopf, sein Herz raste.
„Aber, aber wir heiraten doch in drei Wochen!" flüsterte er fassungslos.
Marga schüttelte den Kopf. „Nein, mein Junge! Sie musste ihrem Herzen folgen!"

Er hasste diese fremde Frau. Warum war sie gekommen? Um ihm seine Bella wegzunehmen? Warum war sie nicht in Deutschland geblieben?
Maja war sein Mädchen, sie konnte nicht einfach zurück nach Hause zu dem anderen, der sie verletzt und betrogen hatte!

Sie würde seine Frau werden! An seinem Geburtstag würde sie seine Frau werden! Da konnte die Frau erzählen, was sie wollte!

Gut, vielleicht war Maja heimgefahren, um alles klar zu machen, aber sie würde zu ihm zurückkommen, und diese fremde Frau hatte sich nicht einzumischen!
Er saß nur da und schüttelte unentwegt den Kopf. Nein! Nein! Nein! Niemals würde sie zu dem anderen zurückgehen! Niemals! Das würde sie ihm nicht antun! Nicht seine Maja!

Marga hatte Mitleid mit dem Jungen. Aber gegen Liebe war nun mal kein Kraut gewachsen!
„Setz dich!" forderte sie ihn auf. Und dann begann sie die ganze Geschichte, die er von Maja schon kannte, die sie ihm an diesem Tag, als er sie traf, erzählt hatte, aus der Sicht des anderen zu erzählen.
Und je länger sie sprach, desto mehr begriff er, dass Maja wirklich weg war, dass sie nach Hause gefahren war und nicht mehr zurückkommen würde. Und er verstand, warum sie das tun hatte müssen!

Sie hatte sehr gelitten unter dem Verlust ihrer großen Liebe, und ein bisschen Traurigkeit war auch immer in ihren Augen zu lesen gewesen, das sah er jetzt ganz deutlich vor sich.

Und jetzt, da ihr klargeworden war, dass sie sich getäuscht hatte, musste sie natürlich zu ihm, zu dem anderen, zu Felix. Zu dem Mann, der wegen ihr im Gefängnis saß, der ihr monatelang Briefe geschrieben hatte, die sie nun endlich gelesen hatte.
Er konnte ihr nicht einmal böse sein! Sie hatte ihn nicht belogen, sie hatte ihm nichts vorgemacht, sie hatte ihn auch nicht verlassen, weil sie einfach nie wirklich bei ihm gewesen war.

Er lächelte seine nun-doch-nicht-Schwiegermutter an. „Dann sage ich wohl die Hochzeit mal ab!" erklärte er.
Marga nahm ihn in den Arm. Wenn Felix nicht gewesen wäre, hätte Maja sicher glücklich werden können mit diesem hübschen Italiener, dachte sie.
Stefano erklärte allen Freunden und Verwandten Majas Geschichte. „Sie kann doch nichts dafür, dass sie einen Mann so sehr liebt, oder?" nahm er sie immer wieder in Schutz.

Und da Italiener Geschichten von Grande Amore so sehr liebten und verstanden, war im Grunde auch niemand böse auf das schöne deutsche Mädchen. Es war nur schade um das Fest! Doch Stefano würde schon eine andere finden, die Hochzeit würde schon noch stattfinden!


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