Kapitel 117 - Der vernichtende Schlag 2
Maja tigerte durch die Wohnung, warf alles, was nicht niet- und nagelfest war durch die Zimmer, brüllte sich die Seele aus dem Leib, weinte Meere an Tränen, gab Gelübde ab, brüllte Gott an, versprach dem Teufel ihre Seele, brüllte den Teufel an, versprach Gott ihre Seele, merkte, dass sie überschnappte, wenn sie nicht mit jemandem sprechen konnte.
Kai!
Nach Felix war er ihr bester Freund!
Zum Glück ging er gleich ran.
„Felix hat Leukämie!" brachte sie gerade noch hervor, bevor das Schluchzen ihr die Stimme nahm.
„Ich komme!" sagte Kai nur.
Eine Viertelstunde später hielt er sie im Arm. Sie weinten beide, klammerten sich aneinander.
Sie erzählte, was der Arzt gesagt hatte, was Tim gesagt hatte.
„Er darf nicht sterben!" schrie sie ihren Schmerz heraus. „Ich brauche ihn doch so sehr!"
„Nein, er wird nicht sterben!" schrie er seinen Schmerz heraus. „Wir alle brauchen ihn doch so sehr! Die Welt braucht ihn!"
Als sie keine Tränen und auch keine Worte mehr hatten, führte er sie nach oben. Engumschlungen legten sie sich ins Bett, schliefen vor Erschöpfung ein. Er hatte die verwüstete Wohnung gesehen, wusste, wie es in ihr aussah.
Susanna war klar, dass Kai bei Maja bleiben musste. Die beiden verband etwas Besonderes, das hatte sie schon in dieser Silvesternacht gespürt, als sie ihren wunderbaren Ehemann kennen gelernt hatte.
Sie empfand nicht den leisesten Hauch von Eifersucht, wusste, dass das nicht Körperliches war, aber ihre Herzen gehörten zusammen.
Felix wurde mit Desinfektionsmittel abgerieben, er schaltete einfach ab bei den Berührungen der fremden Hände, dachte an schöne Tage mit seinem Bienchen und seinen unvergleichlichen, wunderbaren Kindern.
Er zog das sterile Nachthemd und die schreckliche Unterhose an. Dann legte er sich in das sterile Bett in der sterilen Kammer.
Er fühlte sich wie in einem Film, als sähe er sich selbst zu.
Krank? Er konnte doch nicht so krank sein!
Sterben?
Er konnte doch nicht sterben!
Jetzt?
Einfach so?
Mit all dieser Liebe in seinem Herzen?
Der Liebe zu seiner Frau?
Zu seinen Kindern?
Das ging nicht!
Er konnte doch nicht diesen beschissenen Krebs haben!
Sie brauchten ihn doch!
Sie liebten ihn doch!
Nein!
Er würde nicht sterben!
Nicht jetzt!
So aus heiterem Himmel, mitten in der glücklichsten Zeit in seinem Leben.
War er zu glücklich gewesen?
Waren sie zu glücklich gewesen?
Mussten sie nun dafür bezahlen?
War das Schicksal so drauf?
Aber sie hatten doch schon sooft bezahlt für ihr Glück!
Die Trennung, der Unfall, die Verleumdungen!
Sie hatten noch nie jemanden etwas Böses getan!
Wofür also sollten sie jetzt noch immer bezahlen?
Schon wieder?
Hatten sie es sich denn nicht einfach, nicht endlich mal verdient, zu leben, miteinander, mit ihren Kindern, so wie tausend andere auch?
Warum traf es immer sie?
Er sah durch die Glaswand, hoffte darauf, Maja zu sehen.
„Wo ist meine Frau?" fragte er leise. Die Sehnsucht nach ihrem Anblick, nach ein paar Worten von ihr, nach einem aufmunternden Lächeln zerriss ihn fast.
„Die haben wir nach Hause geschickt! Die nächste Zeit wird nicht angenehm für Sie werden, das wollen wir ihr doch ersparen, nicht wahr!" Der geschäftsmäßige Ton der Schwester nervte ihn.
Natürlich wollte er Maja Unangenehmes ersparen, aber er brauchte sie doch auch, wollte sie zumindest sehen!
Was hatten sie zu ihr gesagt? Sie wäre doch nie von ihm weggegangen! Sie hätte ihn nie alleine gelassen! Seine Maja doch nicht!
Doch in den Stunden, die folgten, war er froh, dass sie nicht da war. Er ging durch die Hölle und zurück und wieder durch die Hölle, wo er lange Zeit blieb.
Sie schlossen eine Infusion an, drehten am Regler und fast augenblicklich lief das Gift in seinen Körper, das die Krebszellen töten sollte.
Er schrie auf, solche Schmerzen hatte er noch nie empfunden! Wimmernd lag er zusammengekrümmt in diesem schrecklichen Bett, er glühte und fror abwechselnd, ihm wurde schwarz vor Augen, dann blitzen grelle Lichter, dann kam der nächste Schmerzschub.
Er hörte auf zu denken, hoffte, dass er dann auch aufhören konnte zu weinen. Sein Kissen war schon völlig durchnässt, unglaublich, dass ein Mensch so viel Tränen in sich haben konnte!
Dann war die erste Infusion durch, die Schmerzen hörten auf. Er war zufrieden, es geschafft zu haben!
Doch nun begann die Übelkeit. Ihm war so schlecht, wie in seinem Leben noch nicht.
Er übergab sich, die Schwester hielt ihm die Schale hin. Er wollte sich schämen, hatte aber nicht die Kraft dazu, weil der nächste Schwall hochkam.
Er brach zwei Stunden lang ununterbrochen, dann fiel er in einen Schlaf der totalen Erschöpfung.
Seine Träume waren wirr, marternd, wunderschön, entsetzlich. Er sah Maja, wie sie am Anfang der Schwangerschaften über der Toilettenschüssel hing, er sah sich, als er die Nabelschnur von Moritz durchschnitt, er erlebte den Unfall noch einmal, sah sein Bienchen mit Blutergüssen und blutverschmiertem Haar im Bett liegen, sah Annika, sauber gewaschen und angezogen, wie sie das erste Mal an Majas Brust lag.
Als er aufwachte, fühlte er sich wie durch den Fleischwolf gedreht, aber ein kleines bisschen auch glücklich darüber, es geschafft zu haben.
„Dann starten wir mal die zweite Runde!" Die korpulente Schwester hängte einen neuen Beutel an den Infusionsständer.
„Nein!" rief Felix. „Noch einmal das Ganze?"
Die Schwester sah ihn mitleidig an. „Ja, so zehn bis zwölf Mal! Wenn Sie leben wollen! Wenn nicht, hören wir auf und schicken Sie nach Hause!"
Ihre Worte waren deutlich, mussten es auch sein. Die Patienten, die hier auf ihrer Station lagen, hatten die Wahl zwischen Elend und Tod. Die meisten entschieden sich für das Elend, und hin und wieder geschah auch das Wunder, dass sich diese Entscheidung lohnte.
Felix ertrug schluchzend das ganze Prozedere, schalt sich eine Memme, konnte aber nicht anders. Die Hölle war ein Frühlingsspaziergang gegen das, was er aushalten musste.
Kai war die ganze Nacht über bei ihr geblieben, hatte sie im Arm gehalten, hatte sie getröstet, wenn sie schreiend aus Albträumen aufgewacht war, hatte ihr ein Glas Wein gebracht, damit sie schlafen konnte, war mit ihr aufgestanden, als sie rauchen wollte, hatte ihr ein Brot gemacht, als er ihren Magen knurren hörte, hatte ihr Taschentücher gebracht, als die erste Packung verbraucht war, hatte ihr zugehört, wenn sie ihr Leid loswerden musste, hatte ihren Kopf gestreichelt, damit sie wieder schlafen konnte.
Am Morgen telefonierte sie mit Saskia, bat sie, die Kinder in den nächsten Tagen zu behalten. Die beiden waren öfter Mal bei ihr, wenn sie und Felix alleine wegfuhren oder auf die Insel wollten.
Moritz bekam mit, dass seine Mama am Telefon war, wollte unbedingt mit ihr sprechen.
„Hallo, mein Schatz!" sagte Maja.
„Hallo, Mama! Seid ihr auf der Insel?" fragte ihr Sohn vollkommen ruhig.
„Ja, sind wir!" log sie ihn an.
„Weil Papa so geblutet hat?"
Mein Gott! Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass ihr Sohn das alles gesehen hatte.
„Ja, Moritz! Und hier wird der Papa wieder gesund!" Sie kämpfte mit den Tränen.
„Gut, dann bleibt da, bis es Papa wieder gut geht! Ich erkläre es Annika schon!" versprach er.
Maja schluckte und schluckte. „Danke, Moritz! Ich hab dich ganz fest lieb! Und Papa auch!"
„Ich weiß! Also dann! Ich muss jetzt frühstücken!" Damit legte der Kleine auf. Maja schickte noch ein paar Küsse durch das Telefon, die aber bei niemandem mehr ankamen.
Kai hatte begonnen, die Wohnung aufzuräumen, hatte sie gezwungen, etwas zu essen, hatte sie zum Krankenhaus gefahren.
„Ich soll erst morgen wieder kommen, hat die Schwester gesagt, aber ich fühle, dass er mich braucht!" sagte sie zu ihrem besten Freund.
Kai sorgte sich zwar sehr um die Vertraute seines Herzens, aber er wusste, dass sie zu ihrem Mann musste. Dass sie auch keine Schwester, kein Arzt davon abhalten konnte, wenn sie der Meinung war, dass Felix sie brauchte.
Als er ein paar Minuten bei klarer Besinnung war, sah Felix Maja hinter der Glasscheibe stehen. Tränen liefen über ihr schönes Gesicht, aber sie versuchte, tapfer zu lächeln. Sie hob die Hand, winkte ihm zu, schickte ihm einen Luftkuss. Er hatte nicht einmal die Kraft, darauf zu reagieren. Aber sein Herz freute sich unendlich darüber, sie zu sehen.
Die Schwester kam angelaufen, schimpfte mit ihr. „Ich habe doch gesagt, Sie sollen erst morgen kommen! Lassen Sie ihm doch ein bisschen an Würde!"
Maja schämte sich. Die Schwester hatte Recht, sie kannte den Verlauf der Behandlung. Es war egoistisch von ihr gewesen, hier herzukommen!
Aber er brauchte sie doch auch, so wie sie ihn!
Sie war hin- und hergerissen. Was war besser für ihn? Was brauchte Felix? Sollte sie sich den Anweisungen der Schwester folgen oder ihrem Herzen?
Wollte ihr geliebter Mann, dass sie bei ihm war, wenn auch getrennt durch einen Scheibe.
Oder wollte er nicht, dass sie ihn so elend sah?
So wie sie ihn bei der Geburt von Annika nicht dabei haben wollte?
Aber das war etwas anderes! Oder doch nicht?
Würde sie seinen Stolz verletzen, und er konnte sich nicht dagegen wehren?
In ihrer Not fuhr sie zu Mischa und Uli, die auch am Boden zerstört waren. Uli erklärte ihr, dass Felix diese schrecklichen Behandlungen über sich ergehen lassen musste, dass es aber besser werden würde von Mal zu Mal.
„Lass dich von dem Drachen nicht vergraulen!" riet er ihr. „Die wollen sich nur unentbehrlich machen für die Patienten, aber Felix gibt es bestimmt Kraft, dich zu sehen! Du musst ja nicht den ganzen Tag vor der Scheibe sitzen, aber du musst ihm Hoffnung geben, dass du manchmal da bist, wenn er aus dem Taumel von Schmerzen und Übelkeit aufwacht!"
Endlich hatte jemand ihr den richtigen Weg gezeigt!
Ja, natürlich! Er brauchte etwas, an das er sich klammern konnte!
Sie raste nach Hause, holte zwei Fotos ihrer Kinder, eines von sich, einen Block, einen dicken, schwarzen Filzstift und eine Rolle Tesafilm, raste zur Klinik zurück.
„Sind Sie schon wieder da!" fauchte die Krankenschwester sie an. Die Kleine war aber sehr beratungsresistent!
„Shut up!" fauchte Maja zurück. „Kein Mensch auf der Welt wird mir vorschreiben, wann ich meinen Mann sehe, und wann er mich sehen will!"
Sie zog sich einen Stuhl vor die Scheibe, klebte die Fotos von ihr, von Annika und Moritz so ans Glas, dass er sie sehen konnte.
Dann schrieb sie auf ein Blockblatt: Du bist die Liebe meines Lebens! Kämpfe für uns! und klebte das Papier neben die Bilder.
Die Schwester war entrüstet zum Chef gelaufen, um sich über die Frechheit der Puppe zu beschweren. Doch der war ein Freund von Tim, bat sie, sich zu setzen.
Dann erzählte er ihr auszugsweise von Maja und Felix, dem Liebespaar Nummer eins der Stadt und ihrem Leben, von dem, was sie schon alles durchgemacht hatten, aber auch davon, was sie für die Menschen dieser Stadt getan hatten.
Die Schwester bekam ein schlechtes Gewissen, dass sie Maja so angefahren hatte, ging zurück zu ihrem Patienten und lächelte seiner Frau zu. Dann sah sie die Fotos, den Text, sah Felix' Augen, die daran festhingen, das mühsame, aber glückliche Lächeln, das seine Lippen umspielte.
Sie wischte ihm den Schweiß von der Stirne, drückte seine Hand.
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