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Meine Ankunft im Morienwald war nun schon wieder einige Monde her. Ich hatte mich gut eingelebt. Auch wenn es anders war, als ich es mir vorgestellt hatte. So fungiere ich als rechte Hand der kleinen zierlichen Coroline. Den Grafen traf am eher selten an. Vor allem tagsüber wurde man nie mit seiner Anwesenheit beehrt. Selbst bei den Mahlzeiten, blieb sein Platz am Tisch leer. Auf meine Fragen, über das Wegbleiben des Grafen, meinte Coroline lediglich, dass er nachtaktiv sei und tagsüber schläft. Ich ließ es einfach auf sich beruhen.

Der Raum, indem ich schlief, war definitiv der hellste im ganzen Schloss. Die riesigen Fenster waren mit einem schweren Vorhang verdunkelt.

Ich hob meine Hand schützend vor meine Augen als ich ihn beiseite zog, da mehr Sonnenlicht ins Zimmer drang, als ich erwartet hatte. Ich stieg in frische Kleidung und mit einem kurzen Aufenthalt im Badezimmer, versuchte ich zu kaschieren, dass ich die vergangenen Nächte nur wenig geschlafen hatte.

Im Schloss war es unheimlich ruhig. Auf irgendeine Art und Weise beruhigte mich diese Stille. Aber genauso erinnerte sie mich an meine schmerzliche Vergangenheit.

Normalerweise startete ich meinen Tag damit, dass ich mir einen Weg durch die leeren Rumfalschen meines Vaters, in die kleine Küche bahnte. Wir hatten nicht viel. Wir lebten praktisch vom Nichts. Die wenigen Kreuzer die mein Vater hier und da mal verdiente, versoff er ausnahmslos. Weshalb ich mit niederen Diensten, wie die Schuhe der Besserverdienenden zu putzen, für Lebensmittel und Sonstiges sorgen musste. Mein Vater dankte es mir, indem er mich schlug und regelmäßig als seinen Lustknaben missbrauchte. Keine zwei Wochen nach dem Tod meiner Mutter, passierte es das erste mal. Er brauchte einfach nur ein Loch zum ficken und es war ihm herzlich egal, wessen Loch das war. Es war ihm egal, dass ich sein Sohn war. Sein Eigen Fleisch und Blut, dem er schmerzen zufügte.

Jeder meiner Schritte war darauf bedacht, ihm nicht unter die blutunterlaufenen Augen zu treten. Und dennoch beunruhigte es mich jedes Mal aufs neue, wenn ich ihn nicht durch die Gegend poltern, oder Falschen umwerfen hörte. Hatte er sich vielleicht ins Koma gesoffen, oder gar in den Tod? Würde ich in jedem Moment auf seine Leiche treffen, wenn ich um die nächste Ecke trat? Diese Fragen bestimmten mein Leben.

Doch die schlimmste aller Fragen traute ich mir nicht zu stellen und dennoch spürte ich, wie sie tief in meinem Unterbewusstsein loderte. - Wie würde ich auf seinen Verlust reagieren? Wäre ich froh, den Tyrann, der sich mein Vater schimpfte, losgeworden zu sein, oder würde doch die Trauer siegen?

Ich versuchte meine aufkommenden Erinnerungen beiseite zu schieben. Es war Geschichte. Zumindest fürs erste. Ich wusste, er würde mich holen kommen, sobald er raus fand, wo ich mich vor seinem Alkoholatmen und seinen schwieligen Händen versteckt hielt.


Leise und auf Zehenspitzen bewegte ich mich durchs Schloss. Die Räumlichkeiten behielten selbst bei Tageslicht ihre düstere Atmosphäre, da die schönen Fenster meistens abgedunkelt waren.

Von dem unteren Bereich des Schlosses, drangen bereits leise Geräusche zu mir hoch. Ich ließ mich von ihnen leiten.

Sie führten mich in die Küche mit angrenzendem Esszimmer.

Coroline saß an der großen Tafel. Und zu meiner Überraschung war auch Harry anwesend. Ein großer Abstand trennte die beiden.

Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie mich erblickte. Der Teller vor ihr war mit allen erdenkbaren Leckereien gefüllt.

"Hier, ich hab dir auch etwas zurechtgemacht" schmatze sie mit vollem Mund.

"Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht mit vollem Mund sprechen, Coroline?" Mein Kopf folgte der Richtung, aus der die Stimme kam. Harold saß zurückgelehnt in dem großen Stuhl. Der Teller vor ihm war leer und schien unbenutzt zu sein. Sein Blick haftete auf mir, obwohl er offensichtlich zu Coroline gesprochen hatte.

Sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck angenommen. Mein Eindruck, dass es ihm nicht gut ging, wurde noch zusätzlich verstärkt, als er sich mit seinem Daumen und Zeigefinger an den Nasenrücken griff, um mit kreisenden Bewegungen Druck auszuüben.

Coroline zuckte lediglich mit den Schultern, stammelte ein 'Entschuldigung', was sich durch das Essen, das sich nach wie vor in ihrem Mund befand, eher wie ein 'Fulfigung' anhörte. Dabei spuckte sie versehentlich ein paar Essensreste aus. Harry verzog angewidert sein Gesicht, ehe er geräuschlos aufstand und verschwand.

Ich konnte mir kein Lachen verkneifen. Dankend nahm ich den vollen Teller entgegen und begann zu essen. Wir fingen wie jeden Tag ein ausgedehntes Gespräch an. Coroline sprach wohlgemerkt wieder mit vollem Mund, wobei ich es vorzog, mein Essen restlos herunterzuschlucken bevor ich antwortete.

Wir standen uns mittlerweile sehr nahe. Nun ja, sie war ja auch meine einzige Bezugsperson, und ich irgendwie auch ihre. Wir sprachen über vieles. Weshalb nicht im verborgenen blieb, dass sie alle Fragen über Harry gekonnt abwehrte. Nur einmal ließ sie Fragen über ihn zu.

Wie hast du Harry eigentlich kennengerlernt? Also ich meine, wie bist du zu diesem Job hier gekommen?" fragte ich sie so beiläufig wie möglich, als wir zusammen in der Stadt Einkäufe erledigten.

„Harry?" sie sah mich überrascht an. „Du nennst ihn Harry?"

„J-ja er hat es mir angeboten" sagte ich schüchtern.

„Ach so ist das also." Sie setzte ein verschmitztes Lächeln auf und wackelte mit ihren Augenbrauen.

Ich ignorierte es und wiederholte stattdessen meine Frage erneut.

„Nun ja, im Grunde genommen nicht viel anders als du auch. Ich bin bei diesem Schloss vorbei gekommen.." Ihre Erzählen geriet etwas ins Stocken. Es wirkte, als müsste sie sich erst den Rest der Geschichte einfallen lassen. „Ich habe einen Job gebraucht. Ich hatte an alle möglichen Türen geklopft, aber ein jeder hat mich wieder fort geschickt... Ein jeder, außer Harold", fuhr sie fort. „Er hat mich ohne lange zu überlegen, einfach als Hausmädchen eingestellt. Er hat mir vermutlich angesehen, wie dringend ich Hilfe gebraucht hatte." Das Ende ihrer Geschichte klang glaubwürig, über den Beginn war ich mir allerdings nicht so sicher.

„Mhm" gab ich nur als Antwort, da ich etwas von dem Obst naschte, dass wir gerade gekauft hatten. „Und was ist mit deinem Handgelenk passiert?" fragte ich sie, als ich runtergeschluckt hatte.

Coroline blieb plötzlich wie versteinert in der Mitte des Weges stehen. „Ähm nichts, was soll schon passiert sein?" fragte sie mich, als sie sich wieder etwas gefangen hatte. Dabei zuckte sie mit ihren Schultern, als Zeichen der Bagatellisierung. Aber ihr Blick wirkte dabei gedankenverloren.

„Coroline, dass sieht nicht wie ‚Nichts' aus." Ich blieb ebenfalls stehen und sah sie an.

„Louis, ich habe dich echt gerne, aber so gut kennen wir uns auch noch nicht, dass ich dir wirklich alles anvertrauen muss."

„Du hast recht, verzeihe mir, wenn ich dir zu nahe getreten sein sollte" gab ich aufrichtig zurück.

Damals wie auch jetzt, trat das Bild ihres von Narben durchzogenen Handgelenks in den Vordergrund. War es nur diese Stelle oder sah womöglich auch der Rest ihres Körper so aus?

Mein Unterbewusstsein war überzeugt davon, dass Harry der Grund für diese Verletzungen war. Aber mein Bewusstsein leistete gute Arbeit, diesen Gedanken in die dunkelste Ecke zu vertreiben. Doch von Tag zu Tag, schaffte er es immer weiter ins Licht.

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