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Da Coroline das Essen zubereitet hatte, erklärte ich mich dazu bereit, den Abwasch zu erledigen.
Sie war auf ihr Zimmer gegangen, wodurch ich alleine in der Küche zurückblieb. Ich sammelte gerade die benutzten Teller und das Besteck ein, als ich deutlich Schritte hinter mir hören konnte. Hatte Coroline etwas vergessen?
Zum Umdrehen kam ich nicht mehr, da sich plötzlich zwei starke Arme um meine Taille windeten. Harrys Haare kitzelten in meinem Nacken, als er seinen Kopf nach vorne bewegte, um meinen Hals mit federleichten Küssen zu bedecken.
Zum ersten Mal verängstigten mich seine zarten Berührungen.
„Harry?" fragte ich.
„Hm?" nuschelte er gegen die Haut an meinem Hals.
„W-Warum ist d-deine Haut w-warm?" stotterte ich. Ich versuchte mich in seinen Armen umzudrehen.
Tränen verschleierten das schöne Smaragdgrün seiner Augen. Ich befreite mich aus seiner Umarmung und wich einen Schritt zurück. Einer der Stühle quietschte über den Boden, als ich versehentlich dagegen stieß. „Was hast du getan?" Meine Unterlippe zitterte.
Harry machte keinen Anstalt mir zu antworten.
„Ich frage dich nur noch ein letztes Mal. Was.hast.du.getan?" Meine Augen huschten in Windeseile über sein Gesicht.
Harrys Tränen wurde immer mehr, bis es schlussendlich so viele waren, dass sie über seine Wange kullerten. „Ich wollte das nicht. Er...Er hat mich dazu getrieben." Harry sprach so schnell, dass seine Worte sich überschlugen.
„Er? Wo warst du?"
Der Lockenkopf wand seinen Blick ab. Ich sah seinem Kehlkopf dabei zu, wie er sich bewegte, als er schluckte. „Dein Vater..."
Stille.
Er sprach nicht weiter.
Ich öffnete meinen Mund, aber kein Laut wollte ihn verlassen. Seine Worte schienen mich zu lähmen. Nur mit Mühe schaffte ich es, den schweren Stuhl zurückzuziehen, um meinen immer schwerer werdenden Körper darauf niederzulassen, bevor ich fallen würde. Hektisch fuhr ich mir durch die Haare und stützte meine Ellbogen auf der Tischplatte ab. Mein Blick lag weit in der Ferne. „Du hast meinen Vater get..." Ich konnte den Satz nicht beenden.
„Er wollte dich mir wegnehmen!" rief Harry verzweifelt aus. Seine Stimme war laut und bebte vor Verzweiflung, doch sie kam nur wie ein Flüstern bei mir an. In völliger Trance erhob ich mich.
„Wohin willst du?" fragte Harry mich schüchtern und mit tränenerstickter Stimme.
„Weg von hier. Ich muss nachdenken." Ich verließ das Esszimmer und ging auf das Eingangstor zu. Harry hatte mich mittlerweile eingeholt und packte mich am Handgelenk, um mich zu sich umzudrehen. Er wollte mein Gesicht mit seinen Händen umfassen, doch ich entriss mich seiner Berührung. „Bleib du hier. Ich werde gehen" sagte er mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. „Ich möchte dich in Sicherheit wissen."
Ich sah ihn genauso wenig an, wie ich seinen Worten Gehör schenkte. „Coroline braucht dich." Mit diesen Worten griff ich nach meiner Jacke und öffnete das Tor.
„Wirst du wiederkommen?" Harrys Stimme klang mit einem Mal so zerbrechlich.
Es schmerzte mich ihn so zu sehen. Die Augen gerötet, von den Tränen nasse Wangen und eine Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen.
Ich gab ihm ein leichtes nicken als Antwort. „Ich möchte nur kurz alleine sein" hörte ich mich sagen. Ich trat hinaus. Als ich mich umdrehte, um die Türklinge zu erfassen, wand ich mich nochmals an Harry. „Folge mir nicht." Ich wartete keine Antwort ab, sondern schmiss die Tür in die Angeln und ging.
Mein Blick war auf den Boden gerichtet und doch sah ich ihn nicht an. Ich achtete nicht auf die Richtung in die ich ging. Meine Beine bewegten sich ohne mein Zutun. Meine Gedanken kreisten wie ein Adler über seiner Beute.
Ich mochte meinen Vater nicht. Er war ein schrecklicher Mensch. Aber dennoch war er mein Vater. Mein letzter Verwandter der mir noch geblieben war.
Ich lief einige Zeit im Kreis. Bis mich meine Beine zu der Lichtung trugen, in der mich der Kutscher an meinem ersten Tag hier, abgesetzt hatte. In der Mitte der ebenen Fläche ging ich auf die Knie. Das Gras war kühl, aber nicht nass. Mein Gesicht vergrub ich in meinen Händen. Ich ließ die Nachtluft in meine Lungen strömen. Ich beruhigte mich und fand allmählich den Weg zurück aus der Trance.
Meine Hände nahm ich von meinem Gesicht, da erblickte ich eine Schattengestalt, die am Rande der Lichtung stand und mich stumm beobachtete.
Ihre Augen glänzten Scharlachrot.
„Coroline, ich habe gerade wirklich keine Kraft, für irgendwelche Gespräche."
Ich bekam keine Antwort. Die Gestalt stand immer noch unverändert zwischen den Bäumen und sah mich an.
Unbehagen breitete sich in mir aus. Ich richtete meinen Kopf in den Himmel, den Mond suchend. Er hatte noch lange nicht seinen höchsten Punkt erreicht. Es konnte also unmöglich Coroline sein. Sofort sah ich zurück zu der Gestalt.
Sie kam näher.
Die riesige Narbe, die die linke Gesichtshälfte entstellte, erinnert an die einstige Wunde. Auf den Lippen war das verzerrte Lächeln zu sehen.
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