Kapitel 3

Standhaft versuche ich die nächsten Tage die Kinderzeichnung, die einen prominenten Platz auf meiner Kühlschranktür erhalten hat, zu ignorieren. Oder zumindest nicht an die Nummer auf der Rückseite und die Person, zu der die Nummer gehört, zu denken.

Zwei Tage lang stehe ich tapfer durch und widerstehe der Versuchung, jedoch am dritten Tag halte ich es nicht mehr aus und ich tippe die Nummer in mein Smartphone. Mein Herz hebt schon zum Stakkato an in meiner Brust, während mein Zeigefinger über dem Display schwebt. Vielleicht sollte ich ihn doch nicht anrufen. Oder ich könnte ihm eine Nachricht schicken? Nein, das ist auch keine gute Idee. Was, wenn seine Frau sein Handy in die Finger kriegt und dann meinen Namen bei seinen Chats sieht? Aber das wäre ja bei einem Anruf das Gleiche. Ich sollte einfach nicht so viel drüber nachdenken, und ihn einfach anrufen. Er wollte ja nur reden hat er gesagt, nichts weiter. Wieso habe ich dann solche Hemmungen und fühle mich jetzt schon schuldig seiner Frau gegenüber, obwohl genau nichts zwischen uns passiert ist?

Die Gedanken in meinem Kopf machen mich wahnsinnig und ich hasse mich selber für meine Unentschlossenheit. Entnervt lege ich mein Handy zur Seite und gehe zum Fenster. Vielleicht sollte ich eine Runde laufen gehen und mir alles nochmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Ja, das mache ich. Es stand zwar heute nicht auf meinem Plan, aber ich brauche Bewegung, um meine Gedanken sortieren zu können.

Ich starre hinaus auf die Straße, die im tief hängenden Sonnenlicht des späten Nachmittags golden glänzt. Ein paar lärmende Kinder fahren mit ihren Fahrrädern hin und her und eine ältere Dame führt ihren Hund im Handtaschenformat Gassi. Na hoffentlich räumt sie auch das große Geschäft weg. Zu oft bin ich schon versehentlich beim Laufen in einen ekelhaft stinkenden braunen Haufen getreten.

Doch dann erregt eine andere Person meine Aufmerksamkeit. Ein einzelner Läufer mit schwarzen Haaren im grau-gelben Laufoutfit, groß und gut gebaut, kommt die Straße entlang gelaufen und je näher er kommt, desto weniger Zweifel habe ich an seiner Identität.

Paul läuft hier in meiner Straße und bald wird er an meinem Haus vorbeikommen. Ich werde plötzlich unruhig und bekomme zum Herzklopfen auch noch schwitzige Hände.

Jetzt mach mal halblang, Linda. Der läuft wahrscheinlich nur rein zufällig hier vorbei. Ist ja nicht so weit von seinem Haus, wie er mir bei unserem ersten Treffen erzählt hat. Viele Leute nutzen die verkehrsberuhigte Wohnstraße zum Laufen, Inlineskaten oder für andere sportliche Aktivitäten.

Das muss jetzt nicht unbedingt was mit dir zu tun haben. Du wirst sehen, er wird einfach weiter laufen.

Ich will mich schon vom Fenster zurückziehen, als er plötzlich sein Tempo drosselt, um dann direkt vor meinem Haus stehenzubleiben. Er sieht nach oben und bevor ich mich verstecken kann, hat er mich schon am Fenster entdeckt und hebt seine Hand zum Gruß.

Mist! Was mach ich denn jetzt? Ich kann doch nicht so tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt, das wäre schon ausnehmend kindisch. Aber was soll ich sonst machen? Ihn reinbitten? Nein, das ist komplett ausgeschlossen. Ich könnte dann für nichts mehr garantieren, wenn der erstmal bei mir hier in der Wohnung sitzt. Dazu ist er einfach zu attraktiv und sexy und ich zu ausgehungert nach Liebe und Leidenschaft.

Während ich noch hin und herüberlege, klingelt es plötzlich und ich hätte fast vor Schreck den Vorhang von der Stange gerissen, wenn ich nicht im letzten Moment losgelassen hätte.

Vielleicht hört das Klingeln auf, wenn ich es ignoriere? Nein, da ist es schon wieder. Mann, dieser Typ ist echt hartnäckig.

Ich gebe es auf und schlurfe zur Gegensprechanlage.

„Hallo?", hauche ich in den Hörer.

„Linda, bist das du?" Seine Stimme klingt zwar durch die Sprechanlage etwas verzerrt, aber sie ist genauso warm und rau und leicht außer Atem wie bei unserer ersten Begegnung.

Wieso klopft mein Herz nur wie verrückt?

„Ja, das bin ich. Wie — wieso bist du hier?", entfährt es mir. Irgendwie hat sich mein Gehirn gerade ausgeschaltet.

„Ich ...", er zögert und ich beiße mir vor Nervosität auf die Unterlippe. „Ich wollte dich nur fragen, ob du vielleicht mit mir laufen gehen willst. Ich war gerade in der Gegend und da dachte ich, ich probiere mal mein Glück. Vielleicht bist du ja zu Hause und ... und hast grade Zeit."

Ich sage erstmal nichts, denn damit habe ich nun nicht gerechnet, und starre auf die weiße Wand vor mir. Soll ich? Darf ich das? Mit ihm laufen gehen? Das wäre ja eigentlich nichts Verfängliches. Wir würden da ja nichts Verbotenes tun.

„Also, wenn du nicht willst, dann tut es mir leid, dass ich dich gestört habe, ich —"

„Nein, nein!", unterbreche ich ihn, bevor mich der Mut wieder verlässt. „Ich will. Ja, ich will mit dir laufen gehen, sehr gerne sogar."

„Das freut mich", sagt er und obwohl ich ihn nicht sehen kann, bin ich mir sicher, dass er grade lächelt.

„Ich brauch nur ein paar Minuten Zeit, um mich umzuziehen. Wird aber nicht lange dauern."

„Kein Problem. Ich warte so lange hier unten auf dich."

„Okay, bis gleich", sage ich und lege auf.

Mit einem Affenzahn hole ich mein neues aprikosenfarbenes Laufoutfit raus, binde meine Haare zu einem Pferdeschwanz, schnüre meine Schuhe und schnappe mir dann noch meinen Oberarmgürtel fürs Handy und meinen Schlüssel und dann bin ich abmarschbereit. Ich hole tief Luft und versuche mir selbst Mut zuzusprechen.

Komm schon Linda, bleib ganz ruhig. Das ist jetzt kein Date, ihr geht nur zusammen laufen, weiter nichts. Du musst dich nicht schon wieder schuldig fühlen. Ich fahre nochmal kurz prüfend über meinen Sport-BH und das enganliegende Oberteil, um sicherzugehen, dass auch alles richtig sitzt, und werfe im Spiegel einen prüfenden Blick auf meinen Hintern. Ja, sieht gut aus, die neue Leggings macht einen Bombenarsch, stelle ich zufrieden fest. 

Dann laufe ich federnden Schrittes die Stiegen hinunter und unten angekommen empfängt mich Paul mit offenem Mund und einem anerkennenden Blick.

„Wow, sehr tolles Outfit", entfährt es ihm und prompt spüre ich, wie mein Gesicht knallrot wird. Linda, du benimmst dich ja schon wieder wie ein Teenager. Du tust ja geradezu so, als ob es das erste Mal ist, dass dir jemand ein Kompliment macht.

„Danke", sage ich und reibe mir verlegen über den Nacken. „Hab ich mir vor kurzem neu gekauft. Manchmal brauch ich etwas Abwechslung in meiner Garderobe und für irgendwas muss ich mein Geld ja ausgeben."

„Da hast du recht. Geld zu horten und sich nie was zu gönnen ist auch nicht mein Ding."

Ich starte die GPS-App auf meinem Handy. „Sollen wir loslegen?"

„Ja, ich bin bereit. Ich dachte mir, wir können um den See herumlaufen und dann noch eine Runde durch den Park."

„Klingt perfekt."

Mit einem Lächeln auf den Lippen laufe ich los und irgendwo ganz tief in mir drin, weiß ich, dass er ebenso froh ist mich zu sehen, wie ich ihn.

Die Minuten vergehen wie im Flug und die Meter schmelzen nur so dahin, als wir einträchtig nebeneinander herlaufen. Zuerst unterhalten wir uns noch über belanglose Dinge wie die besten Laufschuhe oder welche GPS-App am übersichtlichsten aufgebaut ist und zu welcher Musik wir am liebsten laufen, doch ich spüre förmlich, wie er darauf brennt, das Gespräch auf eine persönlichere Ebene zu lenken. Doch obwohl ich gut in Form bin, kommt dann auch bei mir der Punkt, wo mir das Reden während dem Laufen nicht mehr wirklich so leicht fällt. Als mein Blick auf eine Bank fällt, die etwas abseits des Weges steht, der rund um den See führt, hat Paul anscheinend dieselbe Idee wie ich.

„Wie wärs, wenn wir eine kurze Pause machen?", schlägt er vor, ebenso schon ein wenig außer Atem.

„Gut Idee", sage ich. Die Bank ist von ein paar niedrigen Bäumen umgeben und vom Weg nicht direkt einsehbar, außer man weiß, dass sie dasteht. Da ich hier oft unterwegs bin, kenne ich den Bereich rund um den See schon ganz gut. Paul offensichtlich auch.

Ich lasse mich auf die Bank sinken und bewege meine Füße im Kreis, um sie ein wenig aufzulockern.

„Ist dein Knöchel wieder ganz okay?", fragt er mich, als er sich neben mir niederlässt. Er ist mir so nahe, dass sich unsere Oberschenkel fast berühren.

„Ja, fühlt sich wieder fast ganz normal an. Nur wenn ich sehr lange laufe, dann zieht's ein wenig. Aber mit reichlich Tape geht es ganz gut."

Er nickt und fährt sich durch seine leicht verschwitzten Haare, dann dreht er sich zu mir und ich fühle seinen Blick auf mir ruhen, meinem Gesicht, meiner Brust, die sich mit jedem Atemzug hebt und senkt. Ich muss mich zurückhalten, um nicht instinktiv meine Schenkel zusammenzupressen. Sein Blick allein tut Dinge mit mir, die noch kein Mann zuvor in mir wachgerufen hat.

„Linda, ich wollte gerne mit dir unter vier Augen reden, deshalb habe ich auch gehofft, dass du mich anrufst. Ich wollte unsere letzte Begegnung nicht einfach so stehen lassen."

„Wie meinst du das?" Ich weiß zwar, dass unser Zusammentreffen im Kindergarten nicht wirklich angenehm war und zumindest für mich peinlich, aber er hat sich ja nichts zuschulden kommen lassen.

Ich drehe meinen Kopf zu ihm und seine grauen Augen fixieren mich in einer Art und Weise, wie ich es mir oft, zu oft, in meinen Fantasien vorgestellt habe. Hungrig. Wild. Das könnte gefährlich werden. Für uns beide.

„Das, was ich dort über unser erstes zufälliges Treffen gesagt habe, war so nicht richtig und das wollte ich gerne klären. Mit dir allein." Er legt seinen Arm auf die Rückenlehne und seine Hand ist jetzt so nahe an meiner Schulter, dass er mich fast mit seinen Fingerspitzen berührt.

„Okay", sage ich und schlucke. Da bildet sich plötzlich ein komischer Kloß in meinem Hals und ich kann meinen Blick nicht von seinem Mund abwenden, seinen sinnlichen Lippen. Was, wenn sie so weich sind, wie sie aussehen?

„Unsere erste Begegnung mag vielleicht rein zufällig gewesen sein, aber sie war, zumindest für mich, alles andere als unwichtig." Er rückt ein wenig näher und ich kann die Wärme seines Körpers spüren. Sein Geruch umhüllt mich wie ein verführerischer Duft, der versucht mein Gehirn zu vernebeln.

„Für mich war sie das auch nicht, ich meine, nicht unwichtig." Warum ist meine Stimme bloß so heiser? Und was rede ich da eigentlich für ein Zeugs? Paul ist verheiratet. Er hat zwei kleine Kinder und eine offensichtlich sehr besitzergreifende Frau. Mit der willst du dich nicht anlegen.

Aber seine Augen und seine Stimme, die machen mich schwach und nun spüre ich auch noch ganz zart die Berührung seiner Fingerspitzen auf meiner Schulter.

„Linda, ich wollte dich fragen, ob ich dich küssen darf."

„Was?" Mein Gehirn kommt zum Stillstand und ich starre ihn entgeistert an. „Paul, ich ... ich", stottere ich. Dass er mich so rundheraus um einen Kuss bitten würde, kommt jetzt für mich aus heiterem Himmel. Nicht, dass ich mir nicht genau das schon unzählige Male vorgestellt habe, davon geträumt habe, wie es sich anfühlen würde, seine Lippen auf meinen zu spüren. Aber nun weiß ich nicht, was ich sagen soll.

„Nur wenn du das auch willst, natürlich." Er schluckt und sieht mich etwas unsicher an. „Seit unserer ersten Begegnung kann ich nicht aufhören, an dich zu denken, auch wenn ich versuche, es nicht zu tun. Und als wir uns dann im Kindergarten wieder trafen, da wusste ich, dass ich dich wiedersehen musste." Er nimmt meine Hand und hält sie in seiner.

„Ob ich will oder nicht, ist doch nicht entscheidend. Du bist verheiratet." Ich versuche vernünftig zu sein, ziehe meine Hand aber nicht weg. Zu gut fühlt es sich an, wenn er mich berührt.

„Das weiß ich, aber das hat nichts mit meinen Gefühlen für dich zu tun." Sein Mund wird plötzlich schmal. „Es gibt einfach Dinge, gegen die hat man keine Chance, auch wenn man sich vornimmt, ihnen nicht nachzugeben."

Wie gern würde ich ihm einfach zustimmen, mich fallenlassen, alles rund um uns vergessen. Aber ich darf nicht, nicht wenn ich nicht mein Herz an jemanden verlieren will, der niemals mir gehören kann.

„Paul, ich kann nicht", hauche ich und ich weiß genau, wenn er mich jetzt einfach küssen würde, dann würde ich es geschehen lassen.

„Du kannst nicht oder willst nicht?"

„Das macht doch jetzt keinen Unterschied, ob ich will. Es darf nicht sein, es ist gegen alle Regeln."

„Und wenn es keine Regeln gäbe, würdest du mich dann küssen?" Sein Blick ist forschend und er beugt sich näher zu mir.

„Wenn es keine Regeln gäbe, dann würde ich dich küssen, ja", flüstere ich leicht beschämt, aber ich kann mich nicht mehr länger selbst belügen.

„Dann machen wir uns unsere eigenen Regeln und diese Regeln besagen, dass ich dich heute auf dieser Bank um genau", er pausiert, um sein Handy zu checken, „17:53 Uhr einmal küssen darf. Niemand wird etwas davon erfahren und wir sprechen dann nie wieder darüber. Was sagst du zu dem Angebot?"

Obwohl ich eigentlich nicht sollte, muss ich lächeln über seinen Erfindungsgeist und seine Hartnäckigkeit.

Mein Herz hämmert in meiner Brust und ich kann nicht aufhören auf seine Lippen zu starren. Linda, tu es. Du wärst doch dumm, wenn du diese Chance nicht nützt. Sonst wirst du ihn auf ewig nur in deinen Träumen küssen. So hast du wenigstens einmal die Gelegenheit, es ganz echt zu erleben.

„Okay, Angebot angenommen."

Seine Augen weiten sich und er streicht langsam mit einer Hand über meine Wange. Die zarte Berührung versetzt meinen ganzen Körper in eine lustvolle Schwingung und ich muss mich zurückhalten, nicht leise zu stöhnen. Er legt seine andere Hand in meinen Nacken und zieht mich näher zu sich hin. „Wenn du wüsstest, wie oft ich mir diesen Moment schon vorgestellt habe."

Meine Hände liegen wie gelähmt in meinem Schoß, während sich eine wild gewordene Horde von Hummeln in meinem Bauch niederlässt.

„Paul", ist alles, was ich sagen kann, während sein Gesicht meinem schon so nahe ist, dass sich unsere Nasen beinahe berühren. Sein Atem ist warm und ich kann seine Lippen schon förmlich auf meinen spüren, obwohl er noch abwartend verharrt. Mir ist ganz schwummrig von seiner Nähe und ich schließe meine Augen. Vielleicht fühle ich mich ja weniger schuldig, wenn ich nicht hinsehe.

Dann, endlich, spüre ich seine warmen und weichen Lippen auf meinen, ganz zart wie die Berührung eines Schmetterlings, so als würde er nur mal kurz kosten wollen. Ich vergesse zu atmen, während ich darauf warte, dass er mich richtig küsst.

„Sieh mich an, Linda", sagt er und ich öffne gehorsam meine Augen. Er zieht seinen Kopf etwas zurück, um mich besser sehen zu können. „Sag mir, dass ich dich küssen soll." Sein Daumen streicht langsam über meine Unterlippe und die Hummeln in meinem Bauch schlagen Radau.

Ich verliere mich in seinen grauen Augen, die so weit und endlos sind wie der stürmische Himmel. „Küss mich, Paul, jetzt sofort", sage ich und werfe meine letzten Hemmungen über Bord. Wenn das der einzige Kuss ist, den ich von ihm habe, dann will ich ihn auch auskosten.

Er sagt nichts, sondern presst seine Lippen auf meine, heiß, wild und ungeduldig, so als hätte er schon immer auf diesen Moment gewartet. Sein Mund bewegt sich ungestüm und er raubt mir fast den Atem, während er mit seiner Zunge gegen den Saum meiner Lippen streift. Er zieht mich noch näher an sich ran und ich gebe mich der Leidenschaft hin, nehme alles, was er mir gibt, öffne meinen Mund für seine fordernde Zunge.

Ein tiefes Stöhnen entfährt ihm und mein Körper zerfließt beinahe vor Verlangen. Meine Busen sind gegen seine harte Brust gepresst, meine Hände immer noch gefangen zwischen unseren Körpern. Gierig erforscht seine Zunge meinen Mund und ich wage es nun auch, es ihm gleichzutun, schiebe ihm meine Zunge in seinen Mund. Ich koste sein Aroma, lasse es auf meiner Zungenspitze zergehen. Paul schmeckt zugleich süß und herb, ein wenig wie Pfefferminze, aber auch wie frischer Regen und etwas, das meine Sinne wie verrückt tanzen lässt.

Nun kann auch ich ein Stöhnen nicht unterdrücken und wie betrunken lasse ich mich vom Rausch seines Kusses dahintreiben. Mein ganzes Sein reduziert sich auf den Punkt, an dem unsere Körper eins geworden sind, unsere Lippen, die nicht voneinander lassen können. Ich schiebe den Gedanken, dass dieser Moment bald enden wird — bald enden muss — weit weg von mir, denn ich will ertrinken in dieser himmlischen Welle, will nie wieder auftauchen, verloren sein für die Welt, auf immer und ewig.

„Linda", schwer atmend flüstert er meinen Namen, seine Lippen über meinen schwebend, als er nach einer Zeit, die eine kleine Ewigkeit war, aber doch viel zu kurz, seinen Mund von meinem löst. „Das war einzigartig." Seine Stimme ist leicht heiser und als ich endlich meine Augen aufmache, wandert sein Blick über mein Gesicht, als würde er versuchen wollen, sich jeden meiner Gesichtszüge einzuprägen. Er fährt mit seinem Zeigefinger über meine Wangenknochen, zu meiner Nasenspitze, dann nach unten über meine Lippen und mein Kinn bis hinunter zu meinem Hals und erst als er an den hochgeschlossenen Ausschnitt meines Laufshirts stößt, macht sein Finger halt. „So wunderschön", murmelt er und irgendwas in meiner Brust zieht sich schmerzhaft zusammen.

„Paul, wir .... wir sollten jetzt gehen." Es ist das Letzte, was ich will, diesen kostbaren Moment zu beenden, aber ich muss auf meine warnende Stimme in meinem Hinterkopf hören. Wenn ich jetzt nicht auf die Bremse steige, dann ist die rasende Fahrt in mein Unglück vorprogrammiert.

Wie aus einer Trance erwacht, zieht er plötzlich seinen Finger weg und richtet sich auf. Ich vermisse seine Berührung und seine Nähe jetzt schon.

„Du hast recht. Wir sollten gehen, weiterlaufen bevor es dunkel wird." Er fährt sich mit beiden Händen durch seine Haare und wirft einen Blick auf den Himmel über uns.

Bevor ich es mir noch anders überlegen kann, stehe ich auf und mache mich bereit zum Weiterlaufen. Er tut es mir gleich und als er neben mir steht, sagt er mit ernster Stimme: „Danke für den Kuss."

„Das Vergnügen war ganz meinerseits", gebe ich mit einem kleinen Lächeln zurück.

Er antwortet mir mit seinem schönsten Lächeln und ein neues warmes Gefühl nistet sich in mir ein. Ich weiß, dass ich es nicht zulassen darf, es abweisen müsste von der Tür zu meinem Herzen, aber ich fürchte, dass ich nicht stark genug bin.

Die letzten Kilometer laufen wir wortlos nebeneinander, aber es ist kein unangenehmes Schweigen, sondern eine Art stilles Einverständnis, das uns verbindet auch ohne Worte. Ein süßes Geheimnis, das nur uns gehört und niemandem sonst, das uns niemand nehmen kann. Ich nehme mir vor, es für immer zu hüten wie einen wertvollen Schatz.

Als er sich vor meinem Haus von mir verabschiedet, hege ich für einen klitzekleinen Moment die Hoffnung, dass er mich noch einmal küssen wird, aber das wäre natürlich komplett unangebracht, hier wo uns jeder sehen könnte. Es fühlt sich etwas eigenartig an, als wir unsere Hände schütteln, nachdem ich ihm vor nicht allzu langer Zeit so nahe war, aber ich lächle trotzdem tapfer.

„Melde dich bei mir", sagt er mir zum Abschied. „Ich würde dich gerne wiedersehen."

Entgegen meines Bedürfnisses, ihn berühren zu wollen, ziehe ich meine Hand zurück. „Ich ... ich kann nichts versprechen." Ich fürchte, dass es nächstes Mal nicht beim Kuss bleiben könnte. Nein, nicht fürchte, sondern ich weiß es, denn ich wünsche mir nichts mehr, als seinen ganzen Körper nackt auf mir zu fühlen, zu spüren, wie er in mich eindringt und sich in mir verliert, mir unanständige Dinge ins Ohr flüstert, wie ich vor Lust unter ihm vergehe und wir uns gegenseitig zum Höhepunkt bringen.

„Überleg es dir, bitte." Sein Blick ist eindringlich und ich nicke kurz, während ich nach meinem Schlüssel suche.

„Werde ich machen." Mit einem kurzen Lächeln und bevor ich mich noch selbst vergesse und ihn einfach küsse, verschwinde ich durch die Haustür.

Diesmal gehe ich nicht zum Fenster, denn ich fürchte, dass ich ihm sonst einfach anbieten würde, raufzukommen. Ich lasse mich auf mein Sofa sinken und ziehe mein Handy raus. Bevor ich meinen nächsten Schritt bereuen kann, tippe ich eine Nachricht und drücke auf Senden.

Ich werde unseren Kuss nie vergessen, Linda

Es dauert nicht mal dreißig Sekunden, da kommt Pauls Antwort.

Das werde ich auch nicht, Paul

Ich grinse mein Display an, während ich seinen Kontakt speichere. Von nun an gibt es wohl kein zurück mehr.

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