Kapitel 25

Das Laufen im Winter ist eine besondere Herausforderung, besonders bei spiegelglatt gefrorenen Gehsteigen. Trotzdem liebe ich es, an einem eiskalten Wintermorgen meinen Tag mit einer Laufrunde zu starten.

Jetzt wo ich für den Halbmarathon im Frühling trainiere, bin ich mit meinen Workouts noch disziplinierter geworden. Ich hab mir mittlerweile eine ganze Reihe neuer Laufstrecken zugelegt, und erst im letzten Monat habe ich mich mal wieder an meine angestammte Route um den See gewagt. Um ganz auf Nummer sicher zu gehen, habe ich meine Laufzeiten auf früh morgens gelegt, und glücklicherweise ist mir Paul auch kein einziges Mal über den Weg gelaufen. Anfangs habe ich noch jeden groß gebauten dunkelhaarigen Läufer mit Misstrauen beäugt, immer in der Angst — oder Freude, das weiß ich nicht so genau — es könnte Paul sein, aber nach so vielen Monaten, acht um genau zu sein, habe ich es endlich geschafft, dass sich nicht mehr jeder einzelne meiner Gedanken um ihm dreht. Es ist mir zwar immer noch nicht gelungen, ihn ganz aus meinem Kopf und meinem Herzen zu verbannen — möglicherweise werde ich das auch niemals zustande bringen —, aber ich kann jetzt wieder mein tägliches Leben soweit normal führen, dass ich mich nicht wie eine ferngesteuerte Zombiemarionette fühle.

Ich blicke in den strahlend blauen Himmel über mir und sauge die klirrend kalte Winterluft ein. Mein Atem kräuselt sich vor meinem Mund wie kleine dampfende Wölkchen und zufrieden blicke ich auf mein Handy — die Smartwatch habe ich, seitdem ich sie abgenommen habe, nicht wieder benutzt. Ein kurzer aber schneller Lauf mit einer neuen Bestzeit. Da nehme ich die schmerzenden Muskeln gerne in Kauf. Als ich heftig atmend vor meiner Haustür stehe, trudelt eine Nachricht von Valentin auf meinem Handy ein.

Freu mich schon auf heute Abend. Ich hol dich um halb acht ab :)

Ich gehe erstmal hoch in meine Wohnung und wärme meine Finger auf bevor ich antworte.

Passt, freu mich auch schon :)

Ich mixe mir schnell einen Proteinsmoothie und dann nichts wie ab unter die entspannende Dusche. Während ich mir das heiße Wasser über meinen Körper rinnen lasse, wandern meine Gedanken zu meiner Verabredung. Ja, ich gebs zu, ein Teil von mir freut sich darauf, während sich ein anderer schuldig fühlt, dass ich mich mit einem Mann treffe, für den ich nicht das geringste empfinde, außer eine Art kollegialer Freundschaft. Und das wäre ja nicht mal das Schlimmste, wenn ich nicht genau wüsste, dass Valentin sich wahrscheinlich mehr von unserem Date verspricht, auch wenn ich ihm schon oft unmissverständlich klargemacht habe, dass zwischen uns nichts ist und niemals sein wird.

Ich kreise langsam mit den Händen über meinen Oberkörper, verteile großzügig das nach Mandelöl duftende Duschgel auf meiner sich vom heißen Wasser rötenden Haut. Ein längst verloren gegangenes, pochendes Gefühl meldet sich zwischen meinen Schenkeln zurück. Nicht, dass meine Lust komplett abwesend gewesen wäre in den letzten Monaten. Es gab schon Momente in denen ich sogar zu Hektor und Astor gegriffen hatte, jedoch auf halben Wege zum Höhepunkt abbrechen musste, weil mir Pauls Schatten stets einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Aber nicht heute. Heute gehört dieser Moment nur mir allein.

Meine Finger gleiten zielstrebig zu der bereits feuchten Spalte zwischen meinen Beinen. Ich lehne mich an die Duschwand hinter mir. Das Wasser rinnt über meine Schultern, die nasse und heiße Wärme hüllt mich ein wie eine sinnliche Wolke. Ein Finger kreist über meinen Kitzler, während ich den Finger meiner anderen Hand in mich hineinschiebe. Die Lust erfasst mich wie ein unwiderstehlicher Sog, und ich gebe mich ihr hin, kompromisslos, lenke meine Gedanken genau dort zwischen meine Beine, wo sich die Wellen des ankündigenden Orgasmus aufbauen. Ich stöhne laut und ungehemmt, schließe meine Augen, während ich mich mit meinen Fingern weiter vorantreibe. Diesmal lasse ich nicht zu, dass ich vor dem Gipfel abstürze. Ich spreize meine Beine weiter, während meine Finger im perfekten Takt tanzen.

Plötzlich gesellen sich geisterhafte Hände dazu, die mich umfassen, zärtlich forschend an meinen Hüften entlanglaufen, dann ein harter, durchtrainierter Körper, der sich gierig an meinen presst. Ich lasse mich nicht beirren, treibe weiter auf der sich steigernden Woge, genieße die unsichtbaren Berührungen, zu denen sich hauchzarte imaginäre Küsse an meinem Nacken dazugesellen, bis sich mein ganzer Körper anspannt und sich die aufgestaute Hitze in meiner Mitte wie ein Vulkanausbruch entlädt. An die Duschwand hinter mir gepresst, falle ich in das ekstatische Meer, das mich für ein paar kostbare Momente aus der Realität entführt. Die Hände, von denen ich weiß, dass sie nicht hier bei mir sind, halten mich fest und tragen uns gemeinsam fort an einen Ort, der nur uns gehört und der jetzt nur mehr in meinem Kopf existiert. Es pulsiert immer noch zwischen meinen Beinen und mein Atem kommt stoßweise, während ich mit geschlossenen Augen noch ein wenig länger meinem Traum nachhänge.

Doch die Wassertemperatur sinkt ebenso stetig wie gnadenlos, also muss ich wohl oder übel wieder zurückkehren aus meinem eingebildeten Paradies. Die Hitze in meinem Körper schlägt rasant in ein Frösteln um und ich hüpfe schnell aus der Dusche und ziehe das wohlig vorgewärmte Handtuch von der Heizung. Meine Gedanken sind noch immer ganz wirr und meine Beine fühlen sich an wie Gelee. Was auch immer das gerade war, das darf so nicht mehr passieren. Paul muss ein für allemal aus meinem Leben verschwinden, bevor er mich noch als ewiges Gespenst bis ins hohe Alter verfolgt. Ich rubble meinen Körper trocken und schlinge ein Turbanhandtuch um meine nassen Haare.

Mein Date mit Valentin heute Abend wird der Beginn eines neuen Lebensabschnitts, in dem Paul keinen Platz mehr hat. Ich greife nach meiner Zahnbürste und mit einem entschlossenen Blick in den Spiegel besiegle ich mein Vorhaben.

Halb acht ist bereits vorbei und ich tigere unruhig im Wohnzimmer auf und ab, werfe den x-ten Blick auf mein Outfit im Spiegel. Ist das knielange bordeauxrote Kleid auch nicht zu sexy? Was, wenn die schwarzen Lackstiefeletten ein falsches Signal aussenden? Ich kämme mit meinen Fingern eine störrische Haarsträhne aus meinem Gesicht. Mist. Bei einem Date mit Paul hätte ich diese Bedenken nie gehabt. Da wusste ich immer, was ich tragen wollte und —

Nein. Halt! Stopp! Ich runzle meine Stirn und rüge mein Spiegelbild, das mir mit einem verführerisch geschminkten roten Mund und mit Kohl umrandeten Augen entgegenblickt.

Es klingelt und für einen kurzen Moment will ich mich in meinem Schlafzimmer verkriechen. Dieses Date war ein Fehler. Ich starre auf meine schwarz glänzenden Schuhspitzen. Es läutet noch einmal und zeitgleich vibriert das Handy in meiner Abendtasche. Komm schon, Linda. Gib dir einen Ruck. Du hast dir einen entspannenden Abend verdient. Niemand darf dich dafür verurteilen, am wenigsten du selbst.

Bevor Valentin noch denkt, ich würde ihn versetzen, schlüpfe ich schnell in meinen schwarzen Mantel, schlinge meinen Schal um meinen Hals und mache mich auf den Weg nach unten.

Das Restaurant, in dem wir essen, ist ziemlich elegant, aber doch gemütlich, ein noch recht neuer Italiener, den ich schon eine Weile mal ausprobieren wollte, aber nie die richtige Gelegenheit dazu gefunden hatte.

Wir sitzen uns bei zwei wagenradgroßen Pizzen gegenüber und prosten uns mit unseren langstieligen Weißweingläsern zu.

„Auf einen schönen Abend." Valentin lächelt mich an und seine hellen Augen leuchten im Kerzenlicht, das der Kellner in die Mitte unseres Tisches platziert hat. Wohl in der Annahme wir wären ein verliebtes Paar. Wenn der wüsste, dass ich auf immer und ewig der Liebe abgeschworen habe, dann wäre er wohl schnellstens wieder mit seiner Kerze verschwunden.

„Auf einen schönen Abend", wiederhole ich. Ich nehme mir fest vor, mir weder von meinem Kopf noch von meinen Gefühlen die Zeit heute vermiesen zu lassen.

Unsere Konversation plätschert angenehm dahin während unsere Pizzen zunehmend kleiner werden. Seine Imitation von Herbert ist immer noch genauso komisch wie bei unseren früheren gemeinsamen Ausflügen mit den Redaktionskollegen in die Karaokebar und ich hätte mich beinahe an meinem Wein verschluckt, als er sich mit säuerlich verzogener Miene in perfektem „Herbert" über die angebliche Nachlässigkeit unserer Reinigungsdamen beschwert.

„Es ist gut, dich mal wieder lachen zu sehen." Valentin schiebt sich sein letztes Stück Pizza in den Mund und lehnt sich dann entspannt in seinem Stuhl zurück.

Ich tupfe mir meinen Mund mit der Serviette ab und falte sie dann neben meinem Teller. „Es tut gut, mal wieder unbeschwert zu sein. Ich hatte schon fast vergessen, wie sich das anfühlt." So viel Ehrlichkeit hatte ich nicht geplant, aber das ist mir jetzt einfach so rausgerutscht, und es ist bereits zu spät, meine Worte wieder zurückzunehmen, also starre ich leicht betreten auf meinen halbleeren Teller.

Valentin hat sich sein Weinglas geschnappt und sieht mich nachdenklich an, so als würde er seinen nächsten Satz abwägen.

„Linda, ich möchte dir wirklich nicht zu nahe treten, aber wir sind jetzt schon seit vielen Jahren Kollegen und ich kenne dich als eine fröhliche und aufgeschlossene Frau. Ich bin vielleicht nicht der feinfühligste Mensch und auch kein besonderer Menschenkenner, aber trotzdem ist es selbst für mich offensichtlich, dass irgendetwas vorgefallen sein muss, denn du warst in den letzten Monaten einfach nicht du selbst. Ich weiß schon, dein Privatleben geht mich eigentlich nichts an", sagt er hastig, als ich meinen Mund öffne, um ihm genau das zu sagen. „Aber wer auch immer der Verursacher war, ich hoffe, dem Typen geht es so richtig schlecht. Und sollte er das Pech haben, mir je über den Weg zu laufen, dann kriegt er von mir einen gezielten Tritt in seine Eier, den er so schnell nicht wieder vergessen wird." Valentin schiebt sein Kinn vor und zieht seine Augenbrauen zusammen. Der Owen Wilson-Look ist nahezu perfekt. Dann nimmt er einen langen Schluck Wein und sieht mich über den Rand des Glases abwartend an.

Meine erste Reaktion ist, mich sofort wieder in mein Schneckenhaus zurückzuziehen und jegliche Einmischung abzuwehren, doch ich bin es ehrlich gesagt leid, ständig meinen Schutzwall aufrechterhalten zu müssen. Also beschließe ich erstmals in die Offensive zu gehen. „Ich hab mich in die falsche Person verliebt und den Preis dafür bezahlt. Jetzt weiß ich es besser und werde den gleichen Fehler nicht noch einmal machen. Niemand ist es wert, dass man aufhört sein eigenes Leben zu leben."

„Dann sollten wir jetzt darauf trinken, dass du wieder dein eigenes Leben lebst." Er prostet mir mit einem verschwörerischen Zwinkern zu.

Mit einem Lächeln nehme ich mein Glas und tue es ihm gleich. „Auf mein eigenes Leben."

Nach dem Essen gehen wir noch in eine Bar in der Altstadt und nach dem zweiten — oder ist es der dritte? —  Cosmo fühlt sich selbst das Tanzen mit Valentin fast unbeschwert an.

Fast. Den kleinen dunklen Fleck in meinem Herzen, wo Pauls Abwesenheit nach wie vor wohnt wie ein unerwünschter Untermieter, kriege ich noch immer nicht ganz ausradiert.

„Linda?" Valentin zieht mich näher zu sich ran und ich bemerke erst jetzt, dass ich keine Ahnung habe, was er gerade gesagt hat.

Die Musik ist dröhnend laut und rund um uns schieben sich schwitzende Pärchen auf der Tanzfläche herum.

„Was?", sage ich und blicke verwirrt zu ihm auf. Der Geruch seines Aftershaves steigt mir in die Nase und seine Hand auf meiner Hüfte ist mir plötzlich unangenehm.

„Du hast mir nicht mal zugehört, stimmts?" Er neigt seinen Kopf näher zu mir, um die Musik zu übertönen, oder ist es, weil er mich küssen will? Ich spüre schon seinen leicht alkoholisierten Atem auf meinem Gesicht.

Panik steigt plötzlich in mir auf.

Zu nah. Ich brauche Abstand, und zwar schleunigst.

„Ich ... die Musik ist zu laut", sage ich und winde mich aus seinem Griff. Zu meiner Erleichterung hält er mich nicht fest.

Wieso ist mir nur so schwindlig? Und viel zu heiß ist es hier auch. Ich bahne mir einen Weg durch die Masse der sich zur Musik wiegenden Körper bis ich die Bar erreicht habe, die etwas abseits liegt und wo die stampfenden Rhythmen weniger ohrenbetäubend sind. Ich sollte nach Hause gehen. Das hier ist nichts für mich. Die nervös blinkenden Lichter sind wie visuelle Nadelstiche auf meiner Netzhaut, aber wenn ich meine Augen schließe, habe ich das Gefühl in einen endlosen Abgrund zu taumeln.

Ein Paar Hände legt sich von hinten auf meine Schultern und ich zucke unwillkürlich zusammen. „Linda, ich wollte dich nur fragen, ob ich dich nach Hause bringen soll. Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen."

Ich drehe mich langsam um und starre auf Valentins schwarzes Hemd. Wieso tanzen die Knöpfe da jetzt auch so wirr herum? Die waren doch vorher noch in einer Linie.

„Achso, das wolltest du", nuschle ich. Mist, Linda, wie viele Cosmos hast du denn intus?

„Was dachtest du denn?"

Ich schaffe es gerade noch mein Kinn so hoch zu heben, dass ich seine zusammengezogenen Augenbrauen erkennen kann. „Ich dachte, du wolltest ... also, dass du mich ..." Ich spitze meine Lippen und mache ein schmatzendes Geräusch.

Einer seiner Mundwinkel hebt sich zu einem Lächeln und dann streicht er eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. „Dich küssen? Das würde ich natürlich auch gerne, aber du hast mir deutlich genug zu verstehen gegeben, dass du das nicht möchtest. Ein Mann, der dir das Herz gebrochen hat, ist genug, da werde ich nicht das nächste Arschloch in deinem Leben sein, das diese Situation gnadenlos ausnutzt."

Ich starre ihn wortlos an, und auch wenn ich offensichtlich sturzbetrunken bin, so dämmert mir doch, dass ich Valentin vielleicht falsch eingeschätzt habe.

„O—okay", ist alles, was ich noch zustande bringe, bevor ich nach vorne kippe und mit meinem Gesicht auf seiner Brust lande. Ich spüre seine Hände unter meinen Achseln und dann ist da nur mehr ein Strudel an verwaschenen Farben und verzerrten Tönen — und dann nichts mehr.

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