Kapitel 2
In den nächsten zwei Wochen höre ich nichts von Paul und mit jedem Tag komme ich mehr zu der Überzeugung, dass es wohl bei einer einmaligen Begegnung bleiben würde. Möglicherweise habe ich auch mit meiner abrupten Verabschiedung ein falsches Signal gesendet. Jeder normale Mensch hätte ihm wenigstens angeboten, auf ein Getränk raufzukommen, das wäre wohl das Mindeste gewesen als Geste der Höflichkeit. Schließlich hat er mich die ganze Strecke bis nach Hause begleitet und dafür genau nichts bekommen.
Trotzdem rede ich mir ein, dass das ganz sicher besser und vernünftiger so ist. Ganz gewiss ist es das. Ein verheirateter Mann, noch dazu mit zwei kleinen Kindern, ist tabu. Doppelt, nein dreifach tabu. Ganz egal wie attraktiv, charmant und sexy er ist.
Zumindest sind meine Tagträume aber ganz meins und auch wenn ich ihn nie im echten Leben wiedersehen werde, ist Paul doch ein prominenter Hauptdarsteller in meinen zugegebenermaßen äußerst erotischen Fantasien. Damit schade ich ja niemandem, also muss ich mich auch nicht schuldig fühlen, wenn ich mir vorstelle, wie seine Finger, und nicht nur die, meinen Körper erforschen, langsam und präzise. Leider sind es natürlich nur meine eigenen Finger und manchmal auch Astor, mein Vibrator, der kleine Bruder von meinem Dildo Hektor, die mich mit vereinten Kräften zum Höhepunkt bringen.
Mit dem Laufen habe ich brav pausiert und stattdessen ein paar zusätzliche Tage mit Krafttraining eingeschoben. Ich bin stolz auf meinen sexy Körper und ich will auch, dass das so bleibt. Steht ja nirgendwo geschrieben, dass man mit über 40 auseinandergehen muss wie ein Hefeteig. Deshalb zählt seit mehr als sieben Jahren, seit meiner Scheidung, um genau zu sein, der Besuch im Fitnessstudio zu den Fixpunkten meiner Woche.
Mittlerweile bin ich gut im Ignorieren der abschätzigen Blicke der jungen Mädchen, denn spätestens, wenn es ihnen dämmert, dass ich sie im Training wohl locker abhängen könnte, wandeln sich die Blicke in sowas wie Anerkennung oder Bewunderung, dass man „in meinem Alter" noch „so gut aussehen" könnte. Ja, ich gebe zu, es schmeichelt mir ungemein, wenn die jungen Männer, die dort auch zuhauf trainieren, mich regelmäßig für „keinen Tag älter als 35" schätzen und es mir kaum glauben wollen, dass ich bereits eine 20-jährige Tochter habe.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Knöchel heute schon wieder der Belastung des Laufens gewachsen ist, also nehme ich mir vor, nach Dienstschluss eine, wenn auch kürzere, Runde einzulegen. Als ich gerade dabei bin, mein E-Mail-Programm zu schließen, trudelt eine neue Nachricht ein. Sie ist von Herbert, meinem Chef, also bleibt mir wohl oder übel nichts anderes übrig, als sie zu öffnen. Ich luge über den Bildschirmrand zu seinem Büro, das schräg gegenüber von meinem Arbeitsplatz ist. Seit unserer etwas hitzigen Auseinandersetzung vor zwei Wochen vermeidet er jegliche unnötige direkte Konversation mit mir und schickt mir seine Anordnungen per E-Mail, obwohl er praktisch nur wenige Meter von mir entfernt sitzt. Na ja, mir solls recht sein. Ich kam noch nie gut mit ihm zurecht und bin froh, wenn ich ihm ausweichen kann.
Rasch überfliege ich die Zeilen und nach jedem Wort bin ich näher dran, meinen Computer einfach auszuschalten. Der hat sie wohl nicht alle. Halst mir eine Berichterstattung über die Eröffnung eines Kindergartens auf? Hat der vergessen, dass ich für den Kunst- und Kulturbereich zuständig bin? Ernst macht doch den Kram mit Bildung und Familie.
Ich klicke auf Antworten, als sich die Bürotür vor mir einen Spalt weit öffnet und Herberts rundes, immer irgendwie rot angelaufenes Gesicht erscheint, auf seinem Kopf das übliche schüttere Büschel aschblondes Haar, das aussieht wie ausgedünntes Seegras und eigentlich nur ein schlecht überfärbtes Grau ist. Wenigstens hat er heute keine Alkoholfahne.
„Linda, nur für den Fall, dass du daran denkst, dich wegen der Einteilung zu beschweren. Der Kindergarten ist in der Nähe deiner Wohnung und integrativ, altersgemischt, vielsprachig, mit neuester Solartechnik ausgestattet und weiß der Geier was noch alles. Jedenfalls fällt Ernst leider aus, da ich ihn für die Weinmesse brauche, also übernimmst du den Kindergarten. Susanne weiß bereits Bescheid. Die macht für dich die Fotos."
„Aber das ist doch gar nicht mein Ressort." Einen Versuch wage ich trotzdem. Herbert hasst mich ohnehin schon, da ist es ja egal, wenn ich noch ein wenig nachlege.
„Flexibilität ist gefragt, Linda. Und wenn dir an deinem Job etwas liegt, dann übernimmst du das. Außerdem, was ist denn an einem Kindergarten so schlimm? Du hast doch selbst auch eine Tochter."
Dass die aber mit zwanzig schon längst aus dem Kindergartenalter raus ist und ich als Mutter ebenso, behalte ich für mich. Ich erkenne einen aussichtslosen Fall, wenn ich einen sehe.
„Okay, okay, schon gut. Ich mach das." Ich schiele auf die E-Mail und kopiere Ort und Uhrzeit auf ein Post-it. Wenigstens ist er wirklich zu Fuß von meiner Wohnung zu erreichen.
„Gut. Einen schönen Abend wünsche ich dir dann noch." Herbert nickt mir kurz zu und verschwindet dann wieder in seinem Büro wie ein Drache in seiner Höhle.
Ich schlucke meine giftige Antwort runter, schalte meinen Computer aus und mache mich aus dem Staub. Es ist ohnehin schon spät heute und meine Kollegen haben die Redaktion schon lange verlassen. Aber da ich, abgesehen von meiner Querelen mit Herbert, meinen Job bei der Zeitung liebe, bleibe ich auch gerne manchmal länger. Zu Hause wartet ja niemand auf mich und so vermeide ich unnötig lange Zeiten, in denen ich mich alleine fühlen kann. Denn auch das Laufen kann mich nur für einen begrenzten Zeitraum ablenken, bevor meine Gedanken unweigerlich wieder zu meinem nicht vorhandenen Liebesleben wandern.
Nächsten Morgen um Punkt neun stehe ich mit Susanne am Eingang zum Kindergarten. Leuchtend bunte Farben und lautes Kindergekreische umgeben uns, während wir uns umsehen.
„Ich fotografier mal die Innenräume, um die Morgensonne auszunutzen und dann würde ich vorschlagen, wir machen ein paar Fotos im Garten." Susanne ist ganz in ihrem Element. Sie studiert Sonnenstand, Schatten und die besten Hintergründe für die Fotos. Ihre wilden roten Locken wippen aufgeregt um ihr blasses Gesicht, in dem sich ein ganzer Haufen Sommersprossen tummeln. Susanne ist klein, rundlich und geht komplett in ihrer Berufung als Fotografin auf. Ich kann mich nicht erinnern, sie je ohne ihre klobige Spiegelreflexkamera um ihren Hals baumelnd gesehen zu haben. „Das Interview mit der Leiterin machen wir am besten auch draußen. Hier ist das Licht ideal."
„Okay, mach du mal", bedeute ich ihr, während ich mich unter den neugierigen Blicken der Kinder auf einer der kleinen Bänke mit Tischchen niederlasse, um meine Unterlagen auszupacken. „Ich warte dann einfach hier auf dich." Zwischen fröhlichen Zeichnungen, bunten Bechern mit Saft und lecker aussehenden Kuchenstücken lege ich mir Notizblock und Stift zurecht, als mich ein kleines dunkelhaariges Mädchen anspricht.
„Willst du auch was zeichnen?", fragt sie mich mit einer piepsigen Stimme und starrt mich aus grünen Kulleraugen an.
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Nein, ich bin hier, um über deinen Kindergarten zu berichten."
Sie sieht mich einen Moment lang fragend an, dann leuchten ihre Augen auf. „Oh, du schreibst eine Geschichte, stimmst?"
„Ja, so ähnlich. Eine wahre Geschichte, keine erfundene." Dass ich zu meinem Privatvergnügen auch erfundene Geschichten rein für mich selbst schreibe, — denn wer würde so einen Kram schon lesen? — muss ich der jungen Dame ja nicht erzählen. Ich schlage meinen Block auf und lasse meinen Blick über die Grüppchen der Kinder schweifen. Ein paar Erwachsene sind auch zu sehen, wahrscheinlich Betreuerinnen oder Mütter und ganz am Ende des Gartens steht ein Mann mit dem Rücken zu mir und schubst ein laut juchzendes Mädchen auf einer Schaukel an. Nett, dass sich hier auch Väter einbringen.
„Linda Richter?" Eine weibliche Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
„Ja, das bin ich."
Eine schlanke Frau etwa Mitte dreißig setzt sich auf den Platz neben mir und hält mir ihre Hand mit einem kurzen Lächeln hin. „Ich bin Melissa Gärtner, die Leiterin des Kindergartens." Sie trägt ihre braunen lockigen Haare zu einem lockeren Dutt gesteckt und ihre tiefbraunen Augen mustern mich interessiert, wenn auch etwas kritisch.
„Freut mich, Sie kennenzulernen", sage ich, während ich ihre Hand schüttle. Der Händedruck ist überraschend forsch. „Einen netten Kindergarten haben Sie hier."
„Ja, es ist noch alles recht neu und ein wenig chaotisch, aber die Kinder lieben es."
„Das kann ich sehen", sage ich mit einem Schmunzeln. Das Gejohle rund um uns ist eindeutig Zeugnis, dass die Kleinen sich hier wohlfühlen.
„Meine Tochter Hannah haben Sie ja schon kennengelernt." Sie zeigt auf das dunkelhaarige Mädchen, das sich jetzt eng an sie schmiegt. „Meine jüngere Tochter Sophie ist mit ihrem Papa bei der Schaukel."
In dem Moment hüpft das kleine Mädchen von der Schaukel, direkt ihrem Vater in die Arme. Er wirft sie hoch in die Luft. Sie kreischt begeistert und landet dann wieder sicher in seinen Händen. Als er sich dann, mit seiner kleinen Tochter auf seiner Hüfte sitzend, umdreht und auf uns zusteuert, stockt mir der Atem.
Paul!
Nein, das kann nicht sein. Was macht der denn hier? Sind das etwa seine Kinder? Dann kann Melissa nur seine Frau sein.
Eiskalter Schweiß perlt über meinen Rücken und ich möchte im Erdboden versinken, wenn ich nur daran denke, was ich mir alles für unmögliche Fantasien mit ihm ausgemalt habe. Und nun sitze ich seiner Frau und seinen Kindern gegenüber. Ich setze ein steifes Lächeln auf und greife nervös nach meinem Stift.
Es ist ja nicht so, dass ich irgendetwas Verbotenes getan hätte. Niemand weiß, was in meinem Gehirn vorgeht und das einzige Treffen, was es zwischen uns gegeben hat, war purer Zufall und komplett unverfänglich.
„Sollen wir das Interview hier im Freien oder drinnen machen?" Melissas Stimme dringt wie durch Watte an mein Ohr, während ich versuche, nicht zu offensichtlich auf Paul zu starren, der mich nun anscheinend auch erkannt hat.
„Draußen ist besser, wegen des Lichts für die Fotos", sage ich wie ferngesteuert, ohne meinen Blick von Paul abzuwenden.
Er sieht auch in Jeans und weißem T-Shirt extrem attraktiv aus und seine kurzen Haare erscheinen im goldenen Licht der Sonne wie ein tiefes Tintenschwarz.
Sein Gesichtsausdruck wandelt sich und das Lächeln, das er gerade noch seiner Tochter geschenkt hat, erstirbt. Seine Miene wird verschlossen, als sein Blick von mir zu seiner Frau wandert, die ihn mit einer fordernden Handbewegung zum Tisch winkt. „Paul, komm her und stell dich der Dame von der Zeitung vor."
Was hat denn die für einen Ton mit ihrem Mann?
Pflichtbewusst, wenn auch offensichtlich unwillig, steuert er den Tisch an und nimmt uns gegenüber auf dem Stuhl im Miniformat Platz. Seine kleine Tochter krabbelt auf seinen Schoß und versteckt ihr Gesicht vor mir in seinem T-Shirt, während er seine Arme schützend um sie legt.
Ich kann nicht umhin, festzustellen, dass das wirklich ein süßer Anblick ist.
„Linda, das ist mein Mann Paul, Paul das ist Linda Richter von der Lokalzeitung. Sie schreibt einen Bericht über den Kindergarten und wir haben ein kleines Interview geplant, stimmts?"
„Ja, das ist richtig." Ich nicke ihr zu, unsicher, wie ich diese heikle Situation jetzt umschiffen kann. Soll ich so tun, als hätte ich ihn nie gesehen?
„Linda, ich hätte nicht gedacht, dich hier wiederzusehen", sagt Paul und streckt mir seine Hand entgegen. Ein kleines Lächeln spielt um seinen Mundwinkel.
Oh, okay. Das nimmt mir die Entscheidung ab.
„Das äh, das hätte ich auch nicht erwartet", sage ich etwas verlegen, während ich so kurz wie möglich seine Hand schüttle. Oh Mann, das klingt jetzt ja gerade so, als hätten wir etwas angestellt.
„Oh, ihr zwei kennt euch also bereits?" Melissa mustert mich mit einem berechnenden Blick, bei dem die Neugier rasant in Misstrauen umschlägt.
„Ja, aber kennen ist übertrieben", wiegle ich ab. „Wir sind uns nur einmal kurz beim Laufen begegnet. Ich hatte meinen Knöchel verletzt und Paul war so nett mir zu helfen", versuche ich die Situation so harmlos wie möglich darzustellen. Was es ja auch war. Wieso um alles in der Welt fühle ich mich eigentlich schuldig?
„Davon hast du mir gar nichts erzählt, Paul." Der vorwurfsvolle Ton in ihrer Stimme ist so offensichtlich, dass ich mich am liebsten in Luft auflösen möchte.
„Es war ja auch nichts wirklich Wichtiges, Melissa. Nur eine kurze zufällige Begegnung, weiter nichts."
Unsere Blicke treffen sich kurz, während er den Kopf seiner Tochter streichelt. Auch wenn ich weiß, dass er die Wahrheit sagt, schmerzt es mich doch, es so direkt aus seinem Mund zu hören. Ich wende meinen Blick ab und kritzle geistesabwesend auf meinem Block herum. Unsere Begegnung war für ihn also komplett unbedeutend, während ich mir jeden Tag nichts mehr gewünscht habe, als ihn wiederzusehen, auch wenn ich wusste, dass es wohl niemals passieren würde.
„Na gut, ist ja auch nicht weiter von Bedeutung", sagt Melissa mit einer wegwerfenden Handbewegung und als Susanne wieder aus dem Gebäude in den Garten kommt, nehme ich das zum Anlass, um mich kurz zu entschuldigen.
„Ich bespreche mich kurz mit meiner Fotografin und dann machen wir das Interview, okay?"
„Ja, alles klar." Melissas Lächeln ist zurück, wenn auch etwas verhalten.
„Wiedersehen, Paul." Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu und wende mich dann ab, bevor mich meine verletzen Gefühle — warum sind sie das überhaupt? — mich noch verraten.
Die restliche Zeit im Kindergarten vergeht wie im Flug und ich schaffe, so gut es geht, Paul auszuweichen, der offensichtlich mehrmals versucht, mich alleine abzupassen. Aber ich kann es nicht riskieren, den bereits geweckten Verdacht seiner Frau noch mehr anzufachen, also winde ich mich geschickt aus allen möglichen Situation heraus. Zum Schluss haben wir ein nettes Interview und einen Haufen brauchbarer Fotos im Kasten. Susanne ist schon weg zu ihrem nächsten Fototermin und ich bereite mich gerade zum Gehen vor, als Paul mich mit seiner Tochter Sophie beim Gartentor erwischt.
„Das hab ich für dich gemalt", sagt das kleine Mädchen und hält mir stolz ein Bild hin mit wilden bunten Kreisen, die wie ein Gewitter aus Gummischnüren aussehen. Dazu kann ich wohl nicht nein sagen, also nehme ich die Zeichnung mit einem Lächeln an.
„Vielen Dank. Das ist sehr süß von dir. Hast du toll gemalt."
Sophie strahlt mich an und als ich das Bild in meine Tasche stecken will, sagt Paul: „Dreh es um."
Ich sehe ihn kurz fragend an, aber er hebt nur eine Augenbraue und lässt sich sonst nichts anmerken. Ich drehe das Papier um, und auf der Rückseite steht eine Telefonnummer und daneben „Ruf mich bitte an."
Hastig sehe ich mich um, aber seine Frau ist nirgendwo zu sehen. „Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist", flüstere ich ihm zu, während ich die Zeichnung falte und in meiner Tasche verstaue.
„Bitte, ich möchte nur mit dir sprechen, nichts weiter." Seine Stimme nimmt einen fast flehentlichen Ton an und in seinen grauen Augen ist wieder dieser gefährliche Funke, an dem ich mich verbrennen könnte, wenn ich nicht aufpasse.
„Ich überlegs mir, aber ich... ich kann nichts versprechen."
„Mit dem kann ich leben." Und da ist es wieder, dieses schelmische Lächeln, das sein ganzes Gesicht aufhellt wie die Frühlingssonne den dunklen Himmel nach einem Gewitter.
Mit einem Grinsen auf meinem Gesicht schwebe ich durch das blau gestrichene Gartentor und auf dem Heimweg habe ich das Gefühl, dass dieser unvorhergesehene Besuch im Kindergarten vielleicht doch noch sein Gutes haben könnte.
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