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Nachdem Sie nun diesen langweiligen Text über das ereignislose Leben von Jonathan überstanden haben möchte ich Sie fragen, weshalb Sie das überhaupt lesen? Wahrscheinlich erkennen Sie ihr eigenes Dasein in Jonathan oder fühlen sich besser, da Sie soeben gedacht haben, dass Sie doch etwas mehr erleben als er.
Wie dem auch sei, Sie haben es bis hierher geschafft. Bravo! Das zeigt, dass Sie ein gewisses Mass an Durchhaltevermögen besitzen.
Halt, nein! Damit wollte ich keineswegs sagen, dass Sie das Buch jetzt zurücklegen sollen. Es wird noch interessant. Natürlich wird es das. Ich beabsichtige nämlich, die sensationelle Geschichte von Jonathan und seinem genialen... aber nein, ich möchte den Ereignissen nicht vorgreifen.
Deshalb spanne ich Sie nun nicht länger auf die Folter, lesen Sie ruhig weiter.

Als Jonathan kurze Zeit später das Restaurant betrat, wurde ihm von Pierre gleich die Tür aufgehalten. Sein typisches Grinsen unter seinem dichten Schnauz liess ihn an einen waschechten Franzosen erinnern, nur das Baguette unter dem Arm fehlte. Jonathan musste schmunzeln.
„Bonjour Jonathan", sagte Pierre mit stark übertriebenem französischen Akzent. „Darf isch Innen unseren besten Tisch empfellen?"
„Aber sehr gern", antwortete Jonathan nicht weniger theatralisch. Pierre brachte zwei Gläser hausgemachten Eistee und setzte sich zu Jonathan.
„Du glaubst nicht, was mir passiert ist!" Pierre zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

Entschuldigen Sie, ich habe doch tatsächlich vergessen mich vorzustellen. Mein Name ist Gilber Pollim. Gilber ohne t – wohlgemerkt! Schon allein dieses kleine Detail zeigt deutlich, dass sich mein Leben von dem Leben Jonathans unterscheiden muss. Meine Eltern wussten bereits, dass ich einmal etwas Besonders sein würde und gaben mir aus diesem Grund diesen ungewöhnlichen Namen. Selbstverständlich haben Sie schon von mir gehört. Ich bin der Autor, der fünf Jahre in Folge den Europäischen Buchpreis gewann – ohne ernstzunehmende Rivalen. Wenn Ihnen das nichts sagt, kennen Sie bestimmt mein erfolgreiches Gedicht „Im Chemielabor".

Aber es braucht Ihnen auch nicht unangenehm zu sein, wenn Sie noch nie etwas von mir gehört haben. Normalerweise beschäftige ich mich nämlich nicht mit so profanen Dingen wie Trivialliteratur oder den Problemen der kleinen Leute. Nein, mein Geist ist für Höheres ausersehen. Mit diesem Werk beabsichtigte ich nun, mich auch der normalen Gesellschaft zu präsentieren.
Bisher war ich gefeierter Autor und Dichter der gebildeten Gesellschaft, aber schliesslich möchte ich doch, dass sich das ganze Volk von meiner Kunst angesprochen fühlt.

In diesem Buch werden Sie einige von mir verfasste Kommentare finden. Natürlich kann ich nicht einschätzen, wie weit Sie meinen Gedanken folgen können (auch wenn ich mich natürlich bemühe, nur einfache Worte zu benutzen und eine geradlinige Geschichte zu schreiben). Mein Wunsch ist es ausserdem, dass Sie auch mich etwas besser kennenlernen.
Die Geschichte, die ich Ihnen hier nun erzählen werde, habe ich übrigens nicht erfunden. Sie beruht auf wahren Begebenheiten. Und damit möchte ich Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, Mut machen, wie Jonathan aus Ihrem Alltagstrott auszubrechen.

„Vergangenes Wochenende hatte ich Lust, in den Bergen wandern zu gehen. Irgendwo muss ich falsch abgebogen sein, denn plötzlich fand ich keine Wegweiser mehr. Ich wollte schon umdrehen, als ich in der Felswand rechts von mir auf etwa vier oder fünf Metern Höhe ein Loch entdeckte, eine Höhle, kaum einen Meter hoch. Ich erinnerte mich an meine Schulzeit und dachte, dass ich damals auch ganz gerne geklettert bin. Also kletterte ich zur Höhle und kroch hinein, drei, vier Meter nur. Es war so dunkel, ich konnte fast nichts sehen. Aber was ich im Schein meines Handys erkannte, genügte. Gold." Jonathan hatte sich vorgebeugt und war immer leiser geworden, um seine Geschichte spannender wirken zu lassen. Das letzte Wort hatte er sogar nur noch geflüstert.

Pierre lachte. „Welcher Film war das nochmal?" Jonathan gab sich beleidigt. „Mal im Ernst", sagte Pierre, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, „hast du mir wenigstens ein Beweisstück mitgebracht?"
"Natürlich nicht!", entgegnete Jonathan entrüstet, „Ich weiss doch, dass man bei archäologischen Funden nichts verändern soll. Das kann dir doch auch nicht fremd sein!" Pierre stellte weiteren kritischen Fragen und gab sich letztendlich zufrieden.
Wer weiss sonst noch von deinem Fund?", fragte er Jonathan schliesslich.
„Niemand natürlich. Ich wollte dich morgen anrufen um es dir zu erzählen, du warst mal wieder schneller. So etwas posaunt man ja nicht unbedacht herum. Ich habe es dir erzählt, weil ich deinen Rat hören wollte."
„An die Öffentlichkeit bringen", sagte Pierre und nahm einen Schluck von seinem Eistee. Er war schwer beeindruckt, hatte aber Schwierigkeiten, das zuzugeben. Pierre hatte einen guten Freund, den er Jonathan empfahl. Billi Grompel arbeitete nämlich als erfolgreicher PR-Manager.

Billi war ein Arbeitstier. All seine Kunden betreute er mit grosser Hingabe und liess nichts unversucht, um sie zufriedenzustellen. Unermüdlich plante er Medienauftritte und stand ihnen persönlich mit Rat und Tat zur Seite.
Jonathan überlegte. Das könnte seine Chance werden, gross rauszukommen. „Kannst du bei ihm ein gutes Wort für mich einlegen?"
„Na klar. Ich rufe ihn morgen an und organisiere einen Termin für dich", sagte Pierre.
Jonathan fragte ihn nach seinem Wohlbefinden. Pierre erzählte immer gerne Geschichten, die sich im Restaurant abspielten.

Seit einigen Wochen, schwärmte Pierre, besuchte eine schöne hochgewachsene Frau regelmässig das Restaurant am Mittag oder zum Kaffee. „Sie kommt immer allein und bringt ihren Laptop mit, an dem sie dann auch viel schreibt. Ein Mitarbeiter hat herausgefunden, dass sie eine bekannte Journalistin ist. Wer weiss, vielleicht wird sie auch einen Artikel über dich verfassen."
„Meinst du?", fragte Jonathan zweifelnd.
„Von dir hören wird sie auf jeden Fall. Bei Billi musst du einfach bekannt werden."










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