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Es war schon nach acht als Bruno Müller seinen Bruder Jonathan endlich auf das ansprach, was ihn schon lange beschäftigte. Jonathan, der wohl wusste, was nun kommen würde, versuchte ein letztes Mal etwas Zeit hinauszuzögern, stand vom Tisch auf und öffnete das Fenster. Er sah aus dem zweiten Stock des Wohnhauses, in dem er zur Zeit lebte, hinaus auf die nur noch mässig befahrene Strasse. Spaziergänger gab es keine, denn es regnete seit Tagen fast ununterbrochen.
„Jonathan, wie geht es dir?", fragte Bruno. „Kommst du vorwärts?"
Natürlich interessierte es Bruno nicht wirklich, wie es ihm ging, dachte Jonathan. Sicher, er wünschte ihm nur das Beste, endlich einen Roman zu schreiben, der vom Verlag angenommen würde.
„Naja", antwortete Jonathan und bemerkte, wie ihn sein Bruder mitleidig ansah. „Es geht..." Ein wenig nervös spielte er mit einem flachen runden Gegenstand in seiner Hosentasche. Er überlegte, was er sagen sollte.
Eigentlich hatte Bruno gehofft, Jonathan würde endlich einsehen, dass er nicht genug Talent zum Bücher schreiben hatte. Er wünschte sich, dass Jonathan sich einen guten Job mit einem anständigen Einkommen suchen würde. Aber neue Wege einzuschlagen war seinem Bruder schon immer schwer gefallen.
"Ich schreibe zur Zeit an einem Kriminalroman. Er macht einen vielversprechenden Eindruck auf mich und ich glaube..."
„Jonathan", sagte Bruno mit einem Ernst in seiner Stimme, dass Jonathan sich schlagartig unwohl fühlte. „Ich wünsche dir wirklich, dass du endlich den Durchbruch schaffst. Aber du bist nun zweiunddreissig Jahre alt. Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, sich einen besseren Beruf zu suchen als nur in der Bücherei zu arbeiten?"
In der Tat war es keine bemerkenswerte Tätigkeit, der Jonathan nachging. Aber er war ganz zufrieden mit seiner Situation. Er las viel oder schrieb in den ruhigeren Stunden an seinen Büchern. Das Geld reichte, um die Miete seiner Zweizimmerwohnung zu bezahlen. Ausserdem half er jeden Samstagvormittag, die Bücher in der Bibliothek zu sortieren. Bruno hingegen hatte es weit gebracht. Er war Abteilungsleiter eine Firma, hatte eine liebenswerte Frau und zwei Kinder. Jedes Mal, wenn Jonathan ihn zum Essen einlud, bereute er es, wenn Bruno wieder so viel über sein ereignisreiches Leben zu erzählen wusste. Sophie, seine Älteste, war im Sommer in die erste Klasse gekommen und nächstes Jahr kam Nicolas in den Kindergarten. Diesen Herbst wollten sie Ferien auf Sizilien machen, um vor dem Winter noch einmal Wärme zu tanken. Gerne hätte Bruno seinen Bruder gefragt, ob er mitkommen wollte, aber er wusste, dass seine Frau das nicht gutheissen würde.
Keiner der Brüder wusste mehr etwas zu sagen. Jonathan hätte gerne noch mehr Wein nachgeschenkt, liess es aber bleiben als er daran dachte, dass Bruno noch mit dem Auto nach Hause fahren musste. Bruno sah auf die Uhr. Er wollte gern heimgehen, damit er seinen Kindern noch gute Nacht sagen konnte. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, Jonathan allein zu lassen. Er bot an, beim Abwasch zu helfen. Die Stimmung lockerte sich ein wenig, als die Brüder sich erinnerten, was für Spiele sie sich als Kinder überlegt hatten, um das Abwaschen erträglicher zu machen.
Eine halbe Stunde später ging Bruno und Jonathan bemerkte, dass er die Post heute noch nicht geholt hatte. Er nahm den Schlüssel aus seiner Jackentasche und lief die Treppen hinunter. Da er enge Räume nicht ausstehen konnte, nahm er den Lift nur, wenn er viel zu tragen hatte. Einige Rechnungen, Werbung und die abonnierte Zeitung fand er im Briefkasten vor. Keine Überraschungen also. Jonathan ging wieder nach oben, schenkte sich noch ein Glas Rotwein ein und machte es sich mit der Zeitung in seinem Sessel gemütlich. Desinteressiert blätterte er durch die Artikel, las nur die Schlagzeilen und sah sich die Bilder an. Sollte etwas Wichtiges passiert sein, das ihm in der Zeitung entgangen war, so würde er es morgen im Radio hören oder seine Kunden würden davon sprechen. In solchen Fällen zog Jonathan die Zeitung aus dem Altpapier hervor und las den Artikel, um zur Genüge informiert zu sein. In der Bücherei konnte er auch im Internet nachsehen, aber der Computer dort war so langsam, dass sich das nicht lohnte. Für sich zu Hause brauchte Jonathan das Internet nicht. Er hatte seinen Laptop zum Schreiben; zum Recherchieren ging er in die Bibliothek.
Fast erleichtert, dass er nichts Lesenswertes gefunden hatte, legte Jonathan die Zeitung auf den Couchtisch. Doch auf der letzten Seite stach ihm eine Schlagzeile ins Auge. „Nazigold gefunden". Wenn Jonathan doch nur so einen Schatz gefunden hätte. Er würde berühmt werden. Überall würde über den Fund in den Medien berichtet werden. Er würde berühmt werden. Jonathan überlegte, wie man so einen Fund vortäuschen könnte. Gerade wollte er wieder nach der Zeitung greifen, als sein Handy klingelte. Er entschied, sich nicht durch einen Anruf ablenken zu lassen, jetzt, da eine Idee in seinem Kopf langsam Gestalt annahm. Aber der Anrufer versuchte es ein zweites und ein drittes Mal, also nahm Jonathan den Anruf doch entgegen.
„Müller."
„Hallo Jonathan, hier ist Pierre." Pierre Gaudin war ein guter Freund Jonathans. Sie hatten eine Zeit lang zusammen in der Bücherei gearbeitet, bevor Pierre Koch in einem Restaurant wurde. Anfangs war Jonathan häufig zum Abendessen vorbeigegangen. Wurde es im Restaurant etwas ruhiger, spendierte Pierre ihm für gewöhnlich einen Kaffee und sie redeten bis spät in die Nacht. Aber in letzter Zeit hatte sich Jonathan mehr und mehr zurückgezogen. Selbst als Pierre ihn in der Bücherei besucht hatte, war Jonathan reserviert geblieben und hatte mit einer schlechten Ausrede begründet, weshalb er nicht erscheinen konnte.
„Salut Pierre", antwortete Jonathan betont fröhlich, wohl wissend, dass er nun zum zweiten Mal an diesem Tag zur Rede gestellt werden würde. „Was gibt's?"
„Wir haben uns schon ein Weilchen nicht mehr gesehen, und da wollte ich dich fragen, wie es so geht? Heute Abend ist wenig los. Was hältst du davon, wenn ich etwas früher Schluss mache und wir noch gemeinsam etwas trinken?"
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