Zwischenspiel: Ein Hauch von Tot

  Berlin – 15. Juni 1927


Siegfried würgte. Mit einem saurem Geschmack im Mund übergab er den Sekt und das halbe Brötchen von vorhin dem Blumenkübel, der da dekorativ neben der Tür stand. In seinen Ohren mischten sich die Todesschreie des Blutbads mit Raiks genervten Seufzten.

Heiße Scham färbte sein Gesicht puterrot. Wie hatte das passieren können? Rasch wollte der Hexer die gedankliche Verbindung zu Lillains Erinnerung trennen, damit er wieder voll bei der Sache war, wenn er Raik jetzt antwortete.

Doch der Werwolf fragte nicht, was passiert war. Stattdessen kramte er sein eigenes Kommunikations-Armband aus seiner Anzugtasche.

Noch immer hatte er die doppelte Wahrnehmung, sah die toten Augen, die ihn anstarrten. Das Brennen in der Kehle, wo Lillian verletzt wurde. Der Geruch von Angst, der in der Luft hing, während sie dem Soldaten nachstellte – seine Schreie.

Siegfried schauderte und versuchte wieder, Abstand zu den Erinnerungen zu gewinnen. Doch es ging nicht. Immer wieder spürte er, wie die dünne Haut des Soldaten unter dem Rapier riss und die Klinge bis zum Anschlag darin versank, als Lillian es mit reiner Freude tiefer und tiefer in den Oberschenkel ihres Opfers gerammt hatte – dort, wo das Blut schwallartig den Körper verließ und es nur Minuten brauchte, bis der Soldat schreiend verreckte.

Siegfried selbst hatte noch nie getötet. Doch jetzt fühlte es sich so an, als hätte er selbst das Leben dieses jungen Soldaten beendet. Wieder versuchte der Hexer, sich von Lillians Erinnerungen zu lösen. Es sollte aufhören. Warum hörte es nicht auf?

Das Armband. Der Talisman zur Kommunikation. Er musste es loswerden.

„Was machst du?", grollte Raiks Stimme ungeduldig neben ihm, zog seine Aufmerksamkeit wieder zurück in die Realität, während er fahrig nach seinem Handgelenk tastete. „Siggi wangt die ganze Zeit durch die Gegend. Jetzt kotzt er im Strahl. Wörtlich."

Einen Moment lang war Stille. Raik lauschte offenbar Lillians Erwiderung und Siegfried konzentrierte sich auf das Stimmengewirr um ihn herum. Aber er wusste nicht, ob es von den Feierlichkeiten weiter unten oder den undeutlichen Gesprächen einer neuen Soldatengruppe kam, vor der sich die Vampirin in ihren Erinnerungen wieder versteckte.

Das Armband. Weg. Dann würde auch die Verbindung verschwinden.

Siegfried schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf Lillians reale Antwort zu konzentrieren und auf seine eigenen Gedanken, seinen plan. Doch sie schirmte ihn ab. Stattdessen tanzten die Bilder ihrer Vergangenheit weiterhin durch seinen Geist, ohne, dass er es hätte stoppen oder dem etwas entgegensetzen können. Fahrig kratzte er an dem ledernen Band. Doch er bekam den Verschluss nicht gelöst, konnte es auch nicht abreißen.

Noch mehr brennende Häuser, noch mehr Leichen, noch mehr Tod, während Lillian weiter durch die Straßen schlich.

Er wollte es nicht sehen. Warum konnte er es nicht beenden?

„Nein, Lilly. Das hat nichts mit „Antworten geben" zu tun, sondern mit Privatsphäre und Zuver-"

Raiks Worte waren sein Anker. Zogen ihn wieder ein Stück in die Realität, weg von dem Morden und Grauen, das er nicht abschütteln konnte. Ein weiterer Versuch, das Armband zu lösen. Das konnte nicht so schwer sein. Doch es rutschte ihm wie ein nasser Fisch durch die Finger.

Und dann Lillians kühle Stimme in seinem Kopf. „Du hast doch noch gar nicht alle deine Antworten. Lass das." Als wäre dieser Satz ein Befehl, fielen Siegfrieds Hände machtlos herab und er konnte nur noch zuschauen, zuhören, auch wenn die folgenden Worte nicht für ihn bestimmt waren: „Ach halt doch dein Maul, Raik. Als ob du so was wie Privatsphäre oder Zuverlässigkeit kennst. Übrigens ist da gerade jemand durch die Tür gegangen. Offenbar mit Erlaubnis."

Raik knurrte. Es war ein tiefer, dunkler Laut, der Siegfried eine Gänsehaut über den Rücken jagte. „Das hast du dir doch jetzt ausgedacht."

Trotzdem packte er Siegfried grob am Armgelenk und schob ihn rabiat hinter einen der dekorativen roten Samtvorhänge an den Wänden. „Bleib im Schatten – und versuch nicht noch mal zu kotzen." Während er sprach, griff der Werwolf grob in Siegfrieds Hosentasche und tastete nach der Münze mit dem Ortungszauber, die der Hexer schon die ganze Zeit sicher dort aufbewahrte.

Siegfried sah jetzt fast nichts mehr von der Loge, Lillian zerrte ihn zurück nach Magdeburg, wo er sich zunehmend selbst in ihrer Vergangenheit verlor. Das war dem Hexer klar wie die Glasscheiben des KaDeWe am Wittenbergplatz. Und doch war er unfähig, etwas dagegen zu tun.

Raiks Hände an seinem Bein waren Siegfried unangenehm. Es erinnerte ihn zu sehr an den Rapier, den Lillian mit Genuss im Bein des Soldaten versenkt hatte. Noch immer sah er, wie das Rot die Hose des Soldaten rot färbte, schmeckte die Asche der Ruinen in der Luft. Er konnte dem Werwolf nicht ausweichen. Hinter ihm war nur die Wand, um ihn herum nur Schatten und Feuer. So konnte er nur schwach den Kopf schütteln, um seine Ablehnung deutlich zu machen.

Raik ignorierte das und zog die Münze schließlich aus seiner Anzugshose. Ohne weiteres eilte der Werwolf zu dem Kästchen und legte den Talisman rasch zu den anderen, ehe er zu Siegfried zurück hetzte und sich dicht neben ihm hinter den Vorhang drängte.

Doch der Hexer nahm all das kaum noch wahr. Er konnte sich nicht länger gegen Lillians Erinnerungen wehren. Es hatte keinen Zweck. Sie würde ihm ihre Gedanken so lange aufdrängen, bis er aufgab.

Und so gab er auf. Verlor sich vollständig zwischen dem Grauen des untergegangenen Magdeburgs, sah kaum noch die Loge um sich herum. Er war jetzt ganz in Lillians Vergangenheit hinein gerutscht, teilte ihr Entsetzen und ihr Unverständnis. Und ihre Angst vor einer weiteren Entdeckung.

Doch zwischen all dem Leid war etwas, womit Lillian nicht gerechnet hatte. Klar und sauber wie eine Frühlingsbrise war da der Geruch von Leben.


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Ich hoffe, ihr habt alle ein wunderschönes Weihnachtsfest! <3

(sind ja nur noch drei Tage! ^^' )


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