10: Lillians kleines Geheimnis
Erleichtert schloss Siegfried die Augen, als er in die Gasse zurückkehrte, nachdem er Werner mehr oder weniger wohlbehalten bei seiner Mutter abgegeben hatte. Ein Problem weniger.
Gleichzeitig hoffte er, dass Leib und Gennat ihn gerade nicht zwischen den Menschen bemerkt hatten. Das Letzte, was er jetzt wollte, war ein Gespräch mit ihnen führen zu müssen. Zum einen, weil er Angst vor weiteren Fehlern hatte – aber vor allem hatte er jetzt einfach nicht die Zeit dafür. Denn trotz allem – vielleicht brauchte Lillian ihn ja, wenn sie wieder aus dem Haus rauskam.
Also war er zurück zur Hintertür gehastet. Aber die Gasse war noch immer leer. Lillian war noch nicht zurück. Unruhig glitt sein Blick zu dem Gedankenverbindungsband an seinem Handgelenk. Doch als er nach Lillians Anwesenheit in seinem Geist suchte, fand er nichts. Auch nichts von Raik. Da war nicht einmal mehr Magie oder Aura. Die Zeit war abgelaufen. Verdammt.
Wenn man es mal brauchte. Also hieß es warten.
Und Warten war hart. Jede Minute schien sich wie eine Stunde in die Länge zu ziehen, während ihm immer und immer wieder die wildesten Szenarien durch den Kopf gingen. Und jedes Mal sagte er sich, dass das absurd war. Lillian war über dreihundert Jahre alt. Das war sicher nicht ihre erste Erfahrung mit Bränden – und im Zweifel war sie ein Vampir. Die konnten zwar auch sterben – aber sie waren nicht ganz so anfällig dafür wie Menschen.
Also tigerte er unruhig vor dem Eingang auf und ab und sammelte als Beschäftigung alles ein, was an seine Anwesenheit hier erinnerte: Raiks Anzug, die Schachtel mit den Feuermünzen und das intensive Beseitigen von zu auffälligen Fußspuren – bis er irgendwann endlich einen Schemen in der Dunkelheit des Ganges ausmachen konnte. Einen Moment später kam die Vampirin auf die Straße gestolpert.
Siegfried starrte sie an.
Erst sie, dann ihre zerrissene Kleidung, dann die rot-verbrannten Schlieren, die sich über ihre Haut zogen, dann die Tasche, die sorgsam in Raiks Anzugjacke gewickelt war. „Du bist noch einmal da rein gerannt, um deine Tasche zu holen? Ja, bist du denn wahnsinnig?" Erst, als er sich selbst reden hörte, wurde ihm bewusst, dass er sich wirklich Sorgen um Lillian gemacht hatte. Trotz allem, was gewesen war.
Immerhin hatte die Vampirin den Anstand, kurz zu Boden zu blicken, ehe sie wieder aufsah und sich ein Lächeln auf die Lippen malte. „Das heilt wieder."
Das täuschte dennoch nicht darüber hinweg, dass sie offensichtlich Schmerzen hatte. Siegfried starrte noch einmal auf Lillians Verletzungen und dann wieder auf die Tasche in ihren Händen. Was war da drin, dass sie dafür extra noch einmal in diese brennende Hölle gerannt war? Ein Talisman?
Doch seine Hexensinne schwiegen. Was immer darin war – es strahlte keine Magie ab. Am liebsten hätte er gefragt. Aber der Blick, den die Vampirin ihm zuwarf, brachte Siegfried zum Schweigen, noch bevor der erste Ton seine Lippen verlassen hatte.
Stattdessen war es Lillian, die das Wort erhob: „Dann lass uns gehen. Der Orden erwartet einen Bericht und wird das weitere Vorgehen besprechen wollen."
Siegfried stöhnte. Der Abend würde noch lang werden. Dabei war alles, was er wollte, sich irgendwie waschen, saubere, rauchfreie Kleidung und ein Bett. Trotzdem nickte er und drehte sich zur Straße um, erleichtert, wenigstens diesen Teil des Tages hinter sich lassen zu können.
Der Weg zum nächsten Taxi war nicht weit – immerhin standen am Bahnof Zoo ja zu jeder Tages- und Nachtzeit welche. Lieber hätte Siegfried die weitaus günstigere Stadtbahn benutzt, aber Lillian bestand auf das Taxi.
In dem Moment, als er sich in die edel bezogenen Sitze der schwarz glänzenden Karosserie fallen ließ, war er dankbar für ihre Entscheidung. Als der nigelnagelneue Opel knatternd anfuhr, schloss Siegfried kurz die Augen. Das würde teuer werden. Aber vielleicht konnte er die Fahrt ja auch dem Orden in Rechnung stellen.
Das Taxi hielt. Träge starrte Siegfried auf die munter vorbeilaufenden Menschen. Es war ein schöner Sommerspätnachmittag. Und hier in dem Teil der Stadt wusste niemand von dem brennenden Varieté am Bahnhof Zoo. Fast als wäre dieses ganze Desaster nie passiert. Wenn nur-
Etwas kribbelte.
Magie. Starke Magie.
Siegfried runzelte die Stirn und schaute genauer aus dem Fenster. Ob da gerade ein anderer Hexer oder eine andere Hexe einen Zauber wirkte. Aber so stark? Hier in der Stadt war das gefährlich - der Orden sah es nicht gern, wenn starke Magie in der Nähe von so vielen Menschen gewirkt wurde. Vielleicht sollte er das melden?
Das Taxi fuhr wieder an. Doch das Kribbeln hörte nicht auf.
Alarmiert sah Siegfried sich um. Wenn sie vorbeigefahren wären, müsste es doch jetzt schwächer werden. Also entweder etwas folgte ihnen oder-
Die gottverdammte Münzen-Schachtel. In plötzlicher Panik wühlte er in seinen Sachen, suchte die Schachtel, die irgendwo in seinem Anzug-
Die Magie brannte regelrecht in seinem Kopf. Das war was Großes. „Scheiße, Scheiße, Scheiße...", flüsterte er gehetzt und Lillians Kopf ruckte zu ihm herum. „Was ist?", flüsterte sie alarmiert.
„Die Münzen. Ich glaube-", jetzt hielt er die Schachtel in den Händen und das brennende Kribbeln flutete nahezu schmerzhaft seinen Körper. „Sie aktivieren sich. Und-"
Ein Schild. Er brauchte einen Schild – oder besser noch: Er musste die Talismanmagie einsperren. Siegfried griff nach der Aura in seinem Innern - seine externen Vorräte hatte er alle verbraucht.
Lillian zog scharf die Luft ein. „Kannst du die Box sichern?" Ohne seine Antwort abzuwarten begann sie das Fenster herunterzukurbeln.
„Ich versuchs", murmelte er konzentriert und ignorierte das Fenster. So viel Magie auf die Straße zu werfen würde Chaos verursachen – bei der Menge an Feuertalismanen wahrscheinlich einen Großbrand, vielleicht sogar eine Explosion.
Die Schachtel wurde heiß.
Er zog an seiner Aura und zwang sie nach außen. Umso weniger Aura man hatte, desto schwerer war es, sie zu nutzen und in Magie umzuwandeln. Trotzdem formte er sie zwischen seinen Händen, glich sie der Schachtelform des Behälters an und befahl ihr, alles, was darin war, auch darin zu behalten: „Includere."
Die Hitze kroch trotzdem nach außen, wenn auch langsamer.
Seine Handflächen wurden unangenehm warm. Verdammt. „Ich hab nicht genug Aura", keuchte er leise, während er merkte, wie seine Wahrnehmung immer weiter abdriftete und nun langsam all die Dinge klarer wurden, die seine Aura sonst für ihn herausfilterte. Das Funkeln der Magie zwischen seinen Händen. Die Leere, die das ganze Sein der Vampirin umgab. Würde er aus dem Fenster sehen, er wäre wortwörtlich fähig, Geister zu sehen. Und anderes. In einer kontrollierten Umgebung war es ein faszinierender Blick auf die Welt, wie sie wirklich war. Aber in einer unkontrollierten Umgebung war es ein gefährlicher, potentiell tödlicher Zustand. Trotzdem konnte er es nicht ändern – er zwang mehr seiner Aura nach draußen, während die Magie im Inneren der Schachtel zunehmend an Stärke gewann. Es war ein verlorener Kampf – aber er wollte ihn trotzdem nicht aufgeben.
„Hast du keine Reserven mehr?" Lillians Stimme klang seltsam hohl und weit weg.
Siegfried schüttelte den Kopf und krallte seine Hände noch fester, um die noch immer heißer werdende Box. „Alles verbraucht." Er war sich nicht sicher, ob er diese Worte nur dachte oder auch wirklich aussprach. Aber der Sinn schien bei Lillian anzukommen.
„Amateur", knurrte sie und begann irgendetwas herumzukramen.
Als Siegfried ihre kalten Finger plötzlich an seiner Hand spürte, hätte er vor Schreck die Schachtel fast doch noch fallen gelassen - aber dann hätte sich der magische Schild aufgelöst und das ganze Fahrzeug mit allen, die darin waren, wäre wohl in Flammen aufgegangen. Also klammerte sich sein purer Überlebenswillen an die Schachtel. Selbst wenn er spürte, wie sich seine Aura aufbrauchte und er die gefangene Hitze nicht mehr lange würde halten können.
Doch mit einem Mal war alles ganz leicht.
Von irgendwoher kam Aura. Viel Aura. Doch er fragte nicht, sondern griff einfach nach dem, was er da kriegen konnte, um es in Magie umzuwandeln und in den Schild einfließen zu lassen. Die Hitze an seinen Händen kühlte ab, verschwand. Doch die Aura wurde nicht weniger, im Gegenteil: Sie wurde mehr. Wahnsinn.
Aus purer Freude griff er wieder danach, machte seinen Schild geradezu dekadent robust und verzierte es mit golden leuchtenden Sternen und Monden. Und es war immer noch eine schier endlose Menge an Aura da.
Neben ihm knurrte es wütend. „Wehe, du nimmst mehr als nötig. Du zahlst es mir mit doppelten Zinsen zurück", zischte Lillians Stimme gereizt, aber leise, während ihr Blick nach vorn huschte.
Siegfried schluckte und ließ die leuchtenden Sterne und Monde erlöschen. Doch von dem Taxifahrer vorne kam keine Reaktion. Entweder er bemerkte nichts – oder der Mann war ein Profi mit dem Begriff Diskretion. Langsam begann sein Verstand wieder zu arbeiten. „Woher-?"
Lillians Blick fiel vielsagend auf seine Hände.
Siegfrieds Augen folgten den ihren.
Da war ein Ring an seinen Finger, ein breites Goldband mit eingearbeiteten Symbolen und einen geschliffenen roten Edelstein. Lillians Ring. Macht. Das war es, was dieser Ring darstellte. Er musste irgendeine Verbindung zu einer riesigen Auraquelle haben. Mit diesem Ring und dieser Auramenge könnte er spontan einer der mächtigsten Hexer des Ordens werden – vielleicht sogar seiner Zeit und-
„Wenn wir dieses Fahrzeug verlassen, erwarte ich, dass du ihn mir wiedergibst." Ihre Stimme klang so beiläufig und selbstverständlich, als würden sie über die Kostümwahl ihres Auftrittes reden. Das war fast noch gruseliger, als die Drohung, mit der er gerechnet hatte. „Woher kommt-?"
„Das geht dich nichts an."
„Aber-"
„Nein, Siegfried", sie betonte seinen Namen, als würde sie mit einem quengeligen Kind sprechen. Aber immerhin schienen sie mittlerweile sicher beim beidseitigem „du" angekommen zu sein. „Ich werde hierzu keine Fragen beantworten. Und wenn auch nur ein Gerücht zu diesem Ring die Runde macht, werde ich dich per sönlich dafür zur Verantwortung ziehen."
Der Hexer schluckte. „Und woher willst du wissen, dass ich-?"
Bei dieser Frage erdolchte sie ihn regelrecht mit ihren Blicken. Warum hatte er nicht einfach still sein können?
„Es sind nicht mehr viele Leute am Leben, die um diesen Ring wissen. Und von den Wenigen bist du die unsicherste Stelle."
Das klang so, als würde sie ihm immer die Schuld geben – ganz egal, ob es stimmte oder nicht. Na toll. Trotzdem nickte er und starrte resigniert auf die Box in seinen Händen. Unter dem Schild hatte sie Feuer gefangen, doch durch die Magie, die er durch den Ring beziehen konnte, spürte er nichts davon. Das magische Schild behielt seine Form bei und ließ nicht einen Funken Hitze nach draußen, bis die hölzerne Schachtel darin komplett zu Asche gebrannt war und sich die goldenen Talismane schwarz gefärbt hatten, jetzt magielos und unbrauchbar.
Erst als er ganz sicher war, dass es vorbei war, ließ er die Magie los und fing die verbrauchten Talismane auf, während die Asche zwischen seinen Händen auf den schwarzen Boden des Taxis rieselte, um dort in Vergessenheit zu geraten.
Dann stieg er aus.
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Huhu!
Wir kommen dem Ende näher. :D
Und auch in diesem Kapitel kamen wieder ein lateinischer Begriff vor, den Kaind0 netterweise für mich übersetzt hat. Und hier für alle, die es interessiert die Übersetzung:
Includere - einsperren
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