06: Es war einmal im Mai - 3

Tada! Hier ist der letzte Magdeburg-Rückblick! Und damit auch die Kennenlern-Geschichte von Lillian und Raik abgeschlossen. :D Ab dem nächsten Kapitel geht es wieder regulär mit der eigentlichen Geschichte weiter.  Ich hoffe, es gefällt euch bis hierhin!

Eure Lichti :)
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Deutschland, Magdeburg – 21. Mai 1631

Einen winzigen Moment lang stand sie nicht mehr zwischen all diesen Grausamkeiten, die sich die Menschen gegenseitig antaten. Diesen einen kurzen, wunderbaren Moment war sie wieder zu Hause, war sie wieder eine normale Frau mit einem kleinen Sohn auf ihrem Schoss und ihrer paar Monaten alten Tochter auf ihrem Arm. Lucas und Esther. Lillians Augen brannten, auch wenn ihr Körper keine Tränen mehr vergießen konnte.

Lillian schluckte. Wieder riss ihrer Kehle, als die Rapierverletzung noch weiter aufklaffte. Abermals Schmerz. Immerhin holte sie das zurück in die Gegenwart – zurück in diese tote Stadt mit dem Hauch von Leben, verborgen zwischen den Trümmern. Mit einem entschlossenen Blinzeln, wo sie hingehörten.

Am liebsten wäre sie gegangen, hätte das Wissen einfach ignoriert. Trotzdem. Ein Instinkt, älter noch als die Triebe der Bestie in ihr, hielt sie zurück. Wie von selbst setzten sich die Füße der Vampirin in Bewegung, folgten dem lebendigen Geruch. Und als sich das charakteristische, hohe Wimmern eines Säuglings in ihren Ohren verfing, wurden ihre Schritte eiliger.

Kurz darauf stand sie vor einer weiteren dieser unzähligen, niedergebrannten Ruinen, aus denen Magdeburg nun bestand. Vorsichtig trat Lillian an eine halb eingestürzte Wand. Hitze schlug ihr entgegen. Anscheinend schwelten im Innern noch immer Glutnester. Niemand, der da drin gewesen war, hätte überleben können. Trotzdem kam das Wehklagen aus diesem Haus.

Zögernd trat Lillian näher und linste um die Mauerreste des einstigen Arbeiterhauses, um die Quelle des Weinens zu finden. Es kam aus der hinteren Ecke. Noch zwei Schritte. Dann musste sie stehen bleiben.

Der scharfe Gestank nach verbrannten Fleisch wurde übermächtig und ein quälender Husten durchzuckte ihre offene Kehle, ehe sie sich darauf besann, dass sie selbst nur für den Geruch atmete und um sich damit dem Leben ein Stück näher zu mogeln. Doch zwischen all dem Tod hier war das überflüssig.

So stellte die Vampirin das Atmen einfach ab.

Sie blinzelte verstört. Ohne Geruchssinn fühlte sich die Welt um sie herum betäubt und fremd an. Sie mochte dieses Gefühl nicht. Es wurde Zeit, zu verschwinden. Also stieg Lillian über die Reste eines eingestürzten Daches hinweg zu der Geräuschquelle. Doch noch ehe sie ganz da war, zögerte die Vampirin wieder.

Sie hatte den Ursprung des bestialischen Gestanks gefunden: Unter den Überresten des Balkens begraben, lag eine fast vollständig verbrannte Leiche. Lillian schauderte und hoffte für die Person, dass sie schon tot gewesen war, bevor das brennende Dach auf sie herabgestürzt war.

Der Anblick der schwarz verkohlten Haut, die sich langsam von verbrannten Muskeln schälte, war genauso verstörend wie die zusammengekauerte Haltung. Ganz so, als wollte die Person bis zum letzten Atemzug etwas unendlich Kostbares schützen. Und die Vampirin wusste, was der oder die Tote hatte schützen wollen. Hinter den vom Feuer erstarrten Armen zappelte und wimmerte ein kleines Bündel angesengter Lumpen.

Kurz entschlossen griff Lillian nach der Schulter der Leiche und schob sie achtlos beiseite. Mit einem seltsamen, ächzenden Geräusch, als würde Papier reißen, fiel der Leichnam seitlich weg und gab das kleine Bündel Leben, das er beschützt hatte, frei.

Vorsichtig hob Lillian es auf und betrachtete den Säugling, woraufhin dieser sich sofort beruhigte und sich friedlich in ihre Arme kuschelte. Ihre Vampirsinne nahmen den pulsierenden Blut- und Aurafluss wahr, der von einem regelmäßigen, aber leicht geschwächten Herzschlag durch den kleinen Körper gepumpt wurde. Langsam kam sie mit ihrem Gesicht näher an das des Kindes und holte ein einziges Mal tief Luft – es roch nach Mensch und Exkrementen, aber nicht nach Krankheit. Alles, was es hatte, war Hunger.

„Da hast du Glück gehabt, Kleines", säuselte Lillian sanft, wobei ihr jedes einzelne Wort aus ihrem verletzten Hals schmerzen bereitete. Trotzdem fragte sie sich, wie das kleine Ding diese Hölle überlebt hatte. Und viel wichtiger: Was sollte sie mit diesem kleinen Bündel Leben anfangen? Wo sollte sie Nahrung herbekommen? Unschlüssig starrte sie auf das Kind in ihren Armen.

„Lass. Sie. In. Ruhe!" Die Stimme war so voller Hass, dass es Lillian kalt den Rücken herunterlief. Erschrocken wirbelte sie herum. Da war niemand.

Oder?

Ihr Blick huschte zu der Leiche.

Aber es war keine Leiche mehr.

Stattdessen starrte sie Lillian aus sturmgrauen Augen an. Außerdem knurrte sie.

„Was-?", krächzte die Vampirin und wich vor dem bis eben scheintoten Körper zurück, während sie das Bündel fest an sich drückte.

Durch ihre hektischen Bewegungen beunruhigt, begann das Kind wieder zu weinen. Aus dem Instinkt unzähliger durchwachter Nächte heraus, änderte sie ihre Halteposition, wiegte den Säugling hin und her und summte leise. Dabei ließ sie den schwarz verbrannten Körper nicht aus den Augen.

Doch langsam registrierte die Vampirin, dass von der am Boden liegenden Fast-Leiche keine Gefahr ausging – zumindest nicht im Moment. Das Feuer hatte ihr schwere Wunden zugefügt, die sie bewegungsunfähig machten. Trotzdem. Wenn die Vampirin genau hinsah, konnte sie deutlich sehen, wie die abgebrannten Muskelstränge sich langsam regenerierten. An einigen Stellen begann sogar die Asche sich wie bei einer Schlange abzublättern und legte neue, rosig gesunde Haut frei.

Aber warum regenerierte es? So ein Feuer sollte jedes Wesen vernichten können – selbst ein Vampir hätte das nicht überlebt. Doch statt brav tot zu sein, ließ das Ding sie ebenso wenig aus den Augen wie umgekehrt. Was war es?

„Leg sie zurück", forderte er plötzlich – der knarzigen Stimme nach zu urteilen, musste es ein er sein – gefolgt von einem keuchenden, qualvollen Husten.

Dennoch fasste die Vampirin Mut – denn trotz allem war es überraschend leicht, in Gegenwart dieser verkrüppelten, menschlichen Überreste mutig zu sein – selbst wenn sie lebendiger waren, als sie sollten. „Oder was?"

„Oder ich werde deine widerliche Existenz beenden", keuchte der Andere und Lillian lächelte höhnisch.

„Natürlich. So siehst du aus", spottete die Vampirin, trotz schmerzender Kehle – nur keine Schwäche zeigen. Um ihren Punkt zu unterstreichen, tänzelte sie einen Schritt näher und stupste den verbrannten Körper mit der Fußspitze an.

Das Etwas zuckte gequält zusammen – eine Bewegung, die ihm offensichtlich noch mehr Schmerzen bereitete. Warum lebte er noch? Sein Körper schien zerstört. Selbst das Sprechen dürfte ihm Schmerzen bereiten. Er sollte tot sein.

Unsicher beschloss Lillian einen weiteren, tiefen Atemzug zu nehmen. Ihre Kehle brannte – von der Luft und von der noch immer nicht verheilten Verletzung durch die Klinge des Soldaten. Augenblicklich hätte sie wieder husten können. Doch nun, da sie wusste, wonach sie suchen musste, bemerkte sie unter dem Gestank des verbrannten Körpers vor sich, etwas Anderes, Beißendes, Gefährliches...

„Werwolf", hauchte die Vampirin geschockt und sah sich reflexartig um.

Wo eines dieser Viecher war, war das Rudel meist nicht weit. Und wenn sie eines nicht wollte, dann sich mit einem Rudel Werwölfe anlegen. Ob die alle unsterblich waren? Waren Werwölfe überhaupt unsterblich? Bisher hatte sie immer gedacht, dass diese Bestien nur so lange lebten, wie normale Menschen. Und hätten sie einen der ihren einfach so zurückgelassen? Lillian hatte nie gehört, dass ein Rudel jemanden zurückließ. Aber was wusste sie schon über Werwölfe? Bisher hatte sie nur sehr wenige getroffen. Und wenn, dann nur von weitem gesehen.

„Offensichtlich", knurrte der Mann vor ihr und seine bis eben noch sturmgrauen Augen glühten gelb auf. „Und jetzt leg das Mädchen zurück oder stirb."

Lillian zögerte. Doch um nichts in der Welt hätte sie das Kind in ihren Armen wieder in den Dreck legen wollen. Noch dazu zu so einem Ding.

„Zurück, wohin?", krächzte sie herausfordernd und gab sich weit mutiger, als sie sich fühlte. „Zwischen deine verbrannten Arme bis sie wieder anfängt zu schreien und jemand anders euch findet? Und wenn nicht: Willst du ihr beim Verhungern zusehen? Oder", unbewusst leckte sie sich über die Lippen. „Wolltest du selbst einmal zubeißen, wenn du nur wieder kauen kannst?"

Die hellen Augen in dem verbrannten Gesicht verengten sich zu gefährlich funkelnden Schlitzen. „Ich werde mich um sie kümmern, sobald..." Er musste abbrechen, um rasselnd Atem zu holen.

Lillian runzelte die Stirn. War das sein verdammter Ernst? „Ja. Genau. Soll ich dir noch mal erklären, warum das eine dumme Idee ist?"

„Was geht dich das überhaupt an, Vampir?", zischte er mit gepresster Stimme zurück. „Hol dir woanders einen Blutrausch."

„Nein", fauchte die Vampirin und drückte den Säugling enger an sich. „Ich bin ein Sergeant des Ordens. Ich habe geschworen, Menschen zu schützen." Unwillkürlich dachte sie an die Klinge, die sie erst vor Kurzem in die Eingeweide des jungen Soldaten gebohrt hatte ... Naja ... Das war Notwehr gewesen. „Ich werde das Mädchen beschützen und Nahrung für sie finden, wie es mein Schwur verlangt." Lillian zögerte und fuhr sich mit einer Hand unbewusst über ihren schmerzenden Hals. Es war seltsam und ekelhaft zugleich, die klaffende Wunde dort zu spüren. Hoffentlich heilte das bald.

Und dann fällte sie eine Entscheidung. Sie hatte geschworen, zu schützen. Und zwischen all dem Leid in dieser Stadt hatte dieser Mann trotz allem versucht, das Kind zu retten. So etwas durfte nicht umsonst sein. „Und wenn du mir sagst, wie du heißt, werde ich dich auch nicht hier liegen lassen. Vielleicht."

„Warum solltest du das tun?" Seine Stimme war so kalt wie zuvor, auch wenn ein Hauch von Überraschung darin mitschwang.

Wieder musterte sie ihren Gegenüber: Es würde noch eine Weile dauern, bis er sich so weit erholt hatte, dass er auch nur einen Finger rühren konnte. „Was für eine Wahl hast du?"

Daraufhin starrte er ihr wieder in die Augen. So lange und so intensiv, als würde er etwas von ihr einfordern. Fast hätte Lillian den Blick abgewandt. Aber etwas in ihr weigerte sich, dem nachzugeben. Sollte ihn doch die Hölle holen.

Plötzlich ertönte ein leises, kratziges Geräusch, das ein Lachen hätte sein können, wenn es nicht in einem schmerzerfüllten Stöhnen geendet hätte.

„Mein Name ist Raik."

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