Tag Zwei - Der Krake

Ich wollte nicht aufstehen. Nicht frühstücken. Nicht in die Schule. Ich schlurfte durch das Portal auf den Pausenhof wie ein Roboter. Mir kam die Nacht mit dem Narbenjungen wie ein Traum vor. Den ich gerne weiter geträumt hätte. Ein Junge aus meiner Klasse sprang zur Seite, als er mich sah. "Nicht beißen." Ach richtig, das neue Spiel, ich war ja hier der Vampir. Andi hatte das angefangen, inzwischen fanden es alle sooo witzig. Alle außer mir. Wo steckt er eigentlich, normalerweise war Andi der größte Sprücheklopfer von allen. Heute nicht, und dafür gab es einen guten Grund: Er stand eng umschlungen mit Veronique neben der Klassentür, beide wild am Knutschen. Das war neu. Veronique drehte sich so, dass es möglichst viele mitbekamen - als würden sie für ein Foto posieren. Andi war ja auch die perfekte Trophäe, der Neid aller Mädels war ihr sicher. Mir war es recht, Hauptsache er war abgelenkt. Aber ich hatte ein wenig zu lange hingeschaut, und Veroniques Show war nicht für mich gedacht. Sie gab Andi einen Schubs. Und in einer Millisekunde schaltete er um, vom Lover in den Bully-Modus. "Hey Vampy!" Ich tauchte ab, unter Wasser. "Hey Milchzahn, ich dachte du darfst gar nicht raus? Am Tag, meine ich." Ich wurde zu einem Wal. Ein Belugawal hat 50cm Fett unter der Haut. Da muss man schon eine Monster-Harpune auspacken, um durchzukommen. Keine Reaktion ist immer die beste Reaktion. Ich ging stur geradeaus, ich musste nur durch diese verdammte Tür. "Sind eigentlich alle in deiner Familie solche Freaks?" Nicht hinhören. Nur durch die Klassentür. Ich ging schneller. Andi drehte sich zu seinem Publikum: "Ich wette, alles Freaks. Besonders deine Mum, die ist bestimmt ein ganz steiler.." Er machte eine Kunstpause, ich war fast durch die Tür. "..,ein ganz steiler Zahn." Das war sie, die Harpune, die durch ging. Ich konnte nicht weiter, ich hing am Haken und alles wurde rot. Langsam drehte ich mich um, ich zitterte vor Wut und zischte ihn an: "Sag nie wieder etwas über meine Mum."

"Oooh ich habe Angst" säuselte Andi und tänzelte um mich herum. "Holst Du jetzt deine Freaky-Mummy?" Das Lachen der anderen spornte ihn nur noch weiter an. "Ach sorry, ich bin schon vergeben! Deine Mum muss warten." Ich holte zu einer Ohrfeige aus, aber er duckte sich lachend weg. Und bevor ich einen zweiten Versuch machen konnte, wurde ich mit voller Wucht zur Seite gestoßen und stolperte in die Menge. Alle jubelten wie bei einem Rockkonzert. Veronique baute sich vor mir auf: "Lass meinen Freund in Ruhe." Sie spielte die Empörte. Die Beiden waren wirklich ein perfektes Team. "Willst Du was? Komm nur her, kannst gleich Deinen Sarg mitbringen!" Ich hatte mich noch nie geprügelt, nicht mal im Kindergarten. Aber jetzt rissen bei mir alle Halteleinen. Ich packte sie, und wir wirbelten umeinander. "Jaaa! Catfight!" hörte ich meine Klasse johlen. Ich spürte ihre Fingernägel über mein Gesicht kratzen, ihren sportlichen Körper, und wie sie mit mir spielte. Ich hatte nur meine Wut, und die reichte nicht. Sie nahm mich in den Schwitzkasten und ich röchelte, griff verzweifelt nach oben. Dann fühle ich etwas seidiges in meiner Hand und zog daran. Sie knirschte mit den Zähnen und plötzlich war ich frei und ging in die Knie. In meiner Hand ein Büschel ihrer ach so blonden Haare. Sie rastete völlig aus. Packte mich zornig an den Armen und schüttelte mich - und ich schrie vor Schmerzen auf. Die Schnitte waren so frisch. "Tut das weh, ja?" Sie drückte noch fester zu und ich wurde fast ohnmächtig. Sie streifte mir den Ärmel hoch, sah die Striemen. Alle sahen sie. Sie zog meinen Arm in die Höhe: "Schaut mal her, was für ein Freak!" Ich rollte mich zu Boden und verbarg meinen Arm, schluchzte völlig unkontrolliert. "Geh woanders sterben!" höhnte sie. Ich war taub vor Hass und merkte nicht, wie alle plötzlich still wurden. Darum war nur meine Stimme zu hören, als ich wie von Sinnen schrie: "Ich bring dich um!" Aber statt Veronique stand jetzt Lehrer Michel vor mir. "Lucy!" Ich zuckte zusammen. "Sofort mitkommen zum Direktor!"

Die Haare verwuschelt, Schmerzen in den Armen und im Gesicht, so saß ich beim Direktor. Neben ihm mein Lehrer, Herr Michel. Wie bei der Inquisition. Keine Frage, wie es mir geht. Keine Fragen, was überhaupt vorgefallen war. In meinem Kopf stellte ich mir vor, wie es laufen sollte: Ich würde sagen: "Andi hat angefangen! Und dann Veronique" Lehrer Michel würde einwenden: "Aber du hast geschrien, du wolltest sie umbringen!" Dann würde ich ihm in die Augen sehen und fragen: "Seien sie ehrlich, wollten sie noch niemals im Leben jemanden umbringen? Weil der sie so sehr verletzt hat?" Und er würde still sein. Weil jeder das schon mal wollte, irgendwann. Der Direktor würde mich fragend ansehen: "Gut, dann erzähl du, was los war." Ich würde sagen: "Er hat was Schlimmes über meine Mum gesagt." Dann wären sie beide still. Weil beide meine Akte kannten. Weil sie wussten, was mit meiner Mum war. Ich war doch sicher der einzige Fall, das konnte man doch nicht vergessen? Dann würden sie nicken. "Ok, wir lassen es dabei. Ich spreche mal mit Veroniques Mutter. Und vielleicht auch mit Andis. Ja und geh zur Krankenstation, du siehst aus, als ob du Schmerzen hast." "Danke.", würde ich sagen und gehen. So sollte es sein.

Aber so war es nicht. Sie hatten meine Akte nicht im Kopf. Um mich ging es auch gar nicht: "Du riskierst deinen Platz hier an der Schule! Ich muss dir wohl nicht sagen, dass wir keine Gewalt tolerieren! Deine Eltern informieren wir natürlich auch." Der Direktor hatte keine Fragen, und keine Ahnung, natürlich nicht. Ich sollte einfach nur keinen Ärger machen. Funktionieren. Das Uhrwerk nicht stören. Und mein Lehrer legte noch einen bad-cop-Spruch oben drauf: "Hast du das verstanden, Lucy?" Im Runtermachen waren sie genauso ein perfektes Team wie vorher Andi und Veronique. Sie wollten, dass ich meine Seele verleugne. Ich blickte nicht auf, das schaffte ich nicht. Aber ich nickte auch nicht, oh nein! Das letzte Fünkchen tief in mir würden sie nicht ausblasen. Wenn überhaupt, dann würde ich das selber machen. Aber nicht sie! 

Draußen auf dem Flur ging ich zum Fenster und versuchte, die Tränen wegzublinzeln. Ich zitterte am ganzen Körper und lehnte mich mit dem Kopf an die Glasscheibe. Im Pausenhof das übliche Geschrei, Rumgerenne, alle happy, jeder mit seiner Clique. Ich wollte nur noch weg, raus aus der Schule. Aber noch war der Hof voller Schüler. Ich würde jetzt keinen schrägen Blick, kein dummes Wort mehr ertragen. Also wartete ich. "Hallo Vampir." sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Der Junge vom Speicher, den hatte ich ganz vergessen. Er saß auf der Bank vor dem Direktorenzimmer. Und er hatte schon wieder seine Rasierklinge in der Hand. Fein säuberlich schnitt er damit den Lederbezug der Bank auf. Ganz ruhig. Ein Schnitt nach dem anderen. Holte die Polsterung heraus und schnitt das Loch größer. Wie ein Metzger ein Tier ausnimmt. Hatte er denn keine Angst? Wenn die Tür aufging, würden sie ihn doch entdecken? Ich war für einen Augenblick sprachlos. "Gabs Ärger?", fragte er ohne aufzusehen. Ich antwortete nicht. "Mein Angebot steht noch.", meinte er. Ich ging auf Abwehrhaltung und schüttelte den Kopf. "Lass mich in Ruhe." Er zuckte mit den Schultern. "Denk drüber nach." Ich wollte etwas erwidern, aber da ging die Tür auf und ich hielt den Atem an. Jetzt musste es doch knallen? Der Junge setzte sich so, dass er das Loch verdeckte. Michel nickte ihm zu "Marlon, kommst du?" Jetzt kannte ich wenigstens seinen Namen. Und Michel rief ihn so, wie man einen Angeklagten aufruft, der hatte also auch Probleme. Aber als er schon in der Tür war, zeigte er zu dem Loch in der Bank. "Haben sie das gesehen, Herr Michel?" Mein Lehrer war außer sich und schimpfte. "Wer macht sowas? Das war gestern noch nicht!" Der Junge nickte mitleidig und stimmte ihm zu: "So was Asoziales." Dann ging er hinter Michel ins Direktorenzimmer . Aber ganz kurz dreht er sich noch einmal zu mir um und grinste triumphierend. Dann schloss sich die Tür und ich war wieder alleine. Und neidisch. Der Junge war zwar eiskalt, aber er hatte einen Weg gefunden, sich zu wehren. Und ich nicht.

Der einsamste Ort der Welt sind Fußgängerzonen. Man kann darin treiben wie Fische in einem Schwarm. Niemand kennt niemanden. Wer in der Masse verschwinden will, der findet hier den perfekten Platz. Das wollte ich nach diesem Horrortag in der Schule. So wie ich in der Nacht manchmal meine Straße auf- und ab schlenderte, so ging ich tagsüber gerne die Einkaufspassagen hoch und runter, zehnmal, zwanzigmal, ohne was zu kaufen. Ich musste mich einfach ablenken, und hier gab es ja immer mal was. Außerdem sprach mich hier niemals jemand an. Ich war das komische Mädchen mit der verrückten Schminke, auch wenn sie jetzt ziemlich verheult war, das Girl mit den gruftigen Klamotten, und die Leute machten lieber einen Bogen um mich. Aber heute gab es keine Ablenkung, es war einfach zu viel passiert. Der Idiot von Direktor, der Kampf, aber das schlimmste war wirklich, was Andi gesagt hatte. Ich hatte eine Regel für mich aufgestellt. Niemals an meine Mutter denken, nie. Nicht das Monster aus der Tiefe wecken. Denn manchmal seh ich mitten am Tag Traumbilder. Oder Albtraumbilder. Ich sehe Knochen auf dem Meeresgrund in Mustern liegen. Riesige Kraken leben dort. Sie würgen die Reste ihrer Opfer wieder aus - und dann spielen sie damit. Das ist wirklich so, nicht nur in meinem Traum. Wer diese Knochen sieht, ist in höchster Gefahr. Und jetzt sah ich sie. Totenschädel in Reih und Glied , zwischen Schlick und Sand. Die Fußgängerzone verschwand und ich bekam eine Panikattacke. Ich schnappte nach Luft und ging an einer Hauswand in die Knie. Aus dem Dunkel schlängelten sich mir die gigantischen Tentakel entgegen, würden mich greifen, erwürgen. 

Ich musste mich auf den Beton übergeben. Passanten wichen aus - ich war nur eine junge Besoffene für sie. Niemals an meine Mutter denken, das eiserne Gesetz , und jetzt konnte ichs nicht verhindern. Mir wurde schwarz vor Augen . Ich weiß nicht, wieviel Zeit da vergangen war, aber irgendwann hörte ich etwas. Das bis zu mir in das Dunkel vordrang . Musik. Jemand spielte Musik. Ganz leise, aber ich fing an zu weinen. Und der Traum ließ mich endlich frei.

Das erste, was ich sah, war ein Schwarm Tauben. Sie tapperten voller Hoffnung um mich herum. Vergebliche Liebesmühe, sorry. Was ich gerade von mir gegeben hatte, da im Rinnstein, stank viel zu erbärmlich. Für Tauben sowieso, nicht mal Ratten würde das interessieren. Ich richtete mich auf und der Schwarm flog davon. Nur eine einzelne Taube blieb zurück. Ich sah genauer hin. Ein Fuß war verkrüppelt, oder mal abgerissen. Ein roter Stumpf, der sie hinken ließ. Die Taube blickte nicht mal ihrem Schwarm hinterher. Sie war es wohl schon gewohnt, immer nur die Letzte zu sein. Warum fliegst du nicht davon? Hier gibt es nichts für dich, nur leeren Beton.

Aber Tiere kämpfen bis zuletzt. Es gibt keinen Suizid bei ihnen. Kein Tier bringt sich um, egal wie sehr es leidet. Ich war neidisch auf das kleine Wesen vor mir. So tapfer. Woher kommt deine Kraft, kleine Taube? Bitte, ich bräuchte wirklich einen Rat. Sie sah mich an, als würde sie mich verstehen und nickte, wie Tauben das halt tun. Ich lächelte schwach.

In dem Moment hörte ich wieder die Musik. Jemand spielte Gitarre. Und sang. Nichts ungewöhnliches, hier in der Fußgängerzone. Aber normalerweise gab es nicht so viele Zuhörer, eigentlich nie - ich konnte ja gar nichts sehen. Darum stand ich auf und ging näher ran. Das Lied war wirklich lustig, und die Musik ging irgendwie direkt in die Füße, man wollte tanzen. Es gab nichts Dunkles darin. Musik wie Lachen. Ich ging ganz um die Menschentraube herum und von der Seite sah ich schließlich einen schlanken Typen mit grauen Haaren und einer Gitarre, ein bisschen wie ein Clown: Hosenträger, eine Melone und ein Ohrring wie ein Zigeuner. Er sang von seiner Kaffeemaschine, es war einfach Nonsens, aber die Leute lachten und klatschten begeistert. Er dachte sich jede Strophe aus, in dem Moment, in dem er das sang. Na gut, das war besonders. Und er spielte wirklich extrem gut Gitarre, mit tollem Rhythmus . Aber warum waren so viele begeistert? Dann drehte er sich zu mir und grinste - und ich verstand: Der Mann mit dem Lachen und der tollen Musik - er hatte nur einen Arm.

Der Gitarrenclown ging mit seinem Hut herum. Ich war immer noch völlig geplättet - wie konnte einer mit nur einem Arm so dermaßen gut Gitarre spielen? Und so viel lachen? Und verdammt, was konnte ich ihm in den Hut tun? Ich war völlig abgebrannt, aber wollte ihm unbedingt was geben. Aus Respekt. Er war schon an mir vorbei, als ich "Moment" rief. An meinem Rucksack hing ein kleiner schwarzer Bär, den löste ich ab und hängte ihn an seine Gitarre. Er verbeugte sich tief. "Bist du ein guter Bärenpapa?" fragte ich ihn. "Natürlich, Gobo ist der beste Bärenpapa der Welt. Ich würde mir für ihn einen Arm ausreißen." Mein Gott, wie konnte er darüber auch noch Witze machen? Ich fing auch an zu lachen, und dann musste ich weinen. Er zog ein riesiges rotes Taschentuch aus seiner Hose wie ein Zauberer und ich musste wieder lachen. Er war unglaublich. "Alles gut?" Er meinte es ehrlich, und darum war ich's auch: "Nein." Er lächelte. "Ja, dacht ich mir. Was ist denn?" - "Ich könnte einen Rat gebrauchen, wie man lächelt, selbst mit so was." Ich zeigte auf seinen Armstumpf. Er nickte. "Ok, den kriegst du. Aber nichts ist umsonst im Leben!" - "Ähm, ich hab aber nichts." - "Du kannst es dir verdienen." "Wie denn?" "Du gehst immer nach meinen Songs rum und sammelst für mich das Geld. Dir geben sie bestimmt noch mehr. Du bist hübscher als ich." Ich wurde rot und gleichzeitig war ich begeistert. Und so verbrachte ich den Tag damit, Geld für ihn zu sammeln. Er hatte Recht, es war viel mehr. Ich war so stolz, irgendwie war ich ein ganz anderer Mensch, knickste vor den Zuschauern, drehte mich und lächelte. Als die Sonne unterging, kauften wir uns Pommes und Wurst und ich bat um den Rat, den er versprochen hatte. "Gut, hier kommt er." Er beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr: "Du hast nichts, auf das du stolz bist. Finde es und du wirst dein Lachen wiederfinden." Ich dachte den ganzen Heimweg darüber nach. Er hatte recht. Mir fiel nichts ein. Aber was mir plötzlich wieder einfiel: Dass mein Vater vom Direktor informiert worden war. Er stand in der Küche und wartete auf mich. Verdammt.

"Wo kommst du jetzt her?" Mein Vater machte eine düstere Miene. Er musste früher heimgekommen sein. Au weia. "Interessiert dich doch sonst auch nicht!" gab ich zurück, ungewohnt schnippisch. Aber meine gute Stimmung von dem Tag mit Gobo, das hatte mich mutig gemacht. "Dein Direktor hat angerufen!" Ich drehte mich weg. "Auf der Arbeit. Ich sitz hier seit Stunden und warte auf dich." Na toll, dachte ich, das erste Mal, dass wir über was anderes reden als Einkauf und Abwasch - und dann gehts um diese Scheiß-Hölle-von-Kack-Schule. "Total übertrieben!" Ich ging die Treppe hoch zu meinem Zimmer. Mein Vater ließ nicht locker: "Du hast eine Mitschülerin verprügelt und ihr gedroht, sie umzubringen. Der Direktor meint, eine solches Verhalten gefährdet deinen Platz an der Schule. Hast du eine Ahnung, was ich arbeiten muss, um das Schulgeld zu bezahlen?" Er folgt mir die Treppe hoch in mein Zimmer. "Wie kannst du das alles einfach hinschmeißen? Dich prügeln...während ich mir den Arsch aufreiße für dich!" - "Tust du nicht!" blaffte ich. "Wie bitte?" - "Wie war das?" Es kam drohend und ich machte einen Rückzieher "Vergiss es!" - "Oh nein, wir klären das jetzt, junge Dame!" - "Hör auf!" warnte ich ihn, aber er hörte nicht. "Also noch mal: Was tue ich nicht?" Da verlor ich schon wieder die Kontrolle. "Du machst das nicht für MICH, nur für DICH, verdammt. Du bist einfach immer weg!" Und dann rutschten mir drei Worte so schnell heraus, dass ich sie nicht aufhalten konnte "Wie bei Mama!"

Er wurde ganz weiß im Gesicht, packt mich an den Armen. Die Schnitte platzen wieder auf, und ich schrie wie am Spieß. "Wage es nie wieder...", zischte er. "Aaau, du tust mir weh! - "Deine Mutter ist... sie ist einfach gegangen, Herrgott, ich konnte nichts tun!" Er drehte sich um, und polterte die Treppe hinunter. Ich kauerte auf dem Bett und konnte spüren, wie der Krake aus der Tiefe stieg. Oh Gott, nicht schon wieder. Unter meinem Bett waren die Klingen versteckt. Feuer mit Feuer. Schmerz mit Schmerz. Und plötzlich fragte ich mich, ob ich heute nicht den Kraken für immer killen sollte. Ich musste nur tief genug schneiden. 

Kennt ihr das Seiltänzer-Spiel? Ein dünnes Kabel über dem Abgrund, nur EIN falscher Schritt, und alles ist vorbei. In dieser Nacht habe ich es gespielt, und es war kein Spiel: Die Klinge lag griffbereit vor mir. Mein Vater war zornig in die Nacht gefahren, keine Ahnung wohin. Ich war allein, wie immer. Wenn es ihm so egal war, dann würde er mich ja auch nicht vermissen. Diese Nacht war so gut wie jede andere, ich kramte dennoch die Karte der Kommissarin heraus. Schrieb ihr eine SMS. Und wartete. Dreißig Sekunden, dann würde ich den ersten Schnitt setzen. 1-2-3, das Spiel begann. 7-8-9...draußen ging der schwarze Engel durch die Nacht..17-18-19...und er rief mich mit seiner süßer Stimme. "Lucy, komm und ich mache dich frei"..27-28-29 - ich griff nach der Klinge, als das Handy piepte. "Lucy? Vito hier. Alles gut?" - "Nein" schrieb ich. Und dann schrieb ich ihr meinen größten Schmerz in fünf einfachen Worten : "Meine Mum fehlt mir so!" Ich ließ das Handy sinken, die zweite Runde hatte begonnen. Wenn sie mir auch nur einen Glückskeksspruch senden würde, wäre die Klinge bereit. Bloß kein "Kopf hoch, das wird schon." oder "Du schaffst das, sei stark!" Was ich hören wollte, wusste ich nicht, aber ich wusste genau, was ich jetzt nicht hören durfte. Es dauerte lange, dann kam endlich eine Antwort. "Meine Mum fehlt mir auch. Das geht niemals ganz weg." Ich las den Satz ungefähr 50 mal. Vielleicht 100 mal. Und als ich endlich meine Tränen abwischen konnte, war meine Hand voller Blut. Ich hatte die Klinge so fest in die Hand gepresst, dass ich einen Schnitt im Handballen hatte. Ich musste mit Links tippen, die dritte und letzte Runde, Leben oder Tod: "Aber warum sollte ich weiterleben? Kann nichts, hab nichts, bin nichts." Diesmal kam die Antwort sofort. "Hast du doch. Du hast wahrscheinlich zwei Leben gerettet!" Ich musste nachdenken. Wen meinte sie? Ok, vielleicht den Narbenjungen. "Wen denn noch? Außer den Typen von den Gleisen?" "Dich selbst - denn ich weiß, welches Spiel du gerade spielst. Aber das spielt man nur, wenn man leben will!" Ich weinte wieder. Sie hatte mich durchschaut - und ich wählte das Leben - jedenfalls für diese Nacht.

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